Aus der Wörtersammlung: enten

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von birnen

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nord­pol : 15.01 UTC — In der chi­ne­si­schen Regi­on Sichu­an, einer hüge­li­gen Gegend, sol­len hun­der­te Men­schen auf Lei­tern in Bir­nen­bäu­me stei­gen, um sie mit­tels Enten­fe­der­bü­scheln mit Pol­len zu bestäu­ben. Das alles sei not­wen­dig gewor­den, weil weder Bie­nen noch Hum­meln exis­tie­ren, die von Pes­ti­zi­den getö­tet wor­den sei­en. Die­se Infor­ma­tio­nen habe ich einem Film ent­nom­men, des­sen Ein­zel­bil­der ich mit eige­nen Augen gese­hen habe. Ich woll­te ihn mei­ner Mut­ter zei­gen. Sie liegt seit lan­ger Zeit in einem Bett im Haus der alten Men­schen. Vor­sich­tig näher­te ich mich mit mei­ner fla­chen Bild­schirm­schreib­ma­schi­ne, aber sie woll­te ihre Augen nicht öff­nen. Des­halb erzähl­te ich ihr mei­ne Geschich­te von den mensch­li­chen Bie­nen, die in Birn­bäu­me stei­gen, und kann noch immer nicht sagen, ob sie in den Ohren mei­ner Mut­ter einen Platz fin­den konn­te. — stop

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rose No 2

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india : 22.58 UTC — In einem schat­ti­gen Laden nahe der Roo­se­velt Island Tram­way Basis­sta­ti­on West war­te­te ein­mal ein alter Mann hin­ter einem Tre­sen. Er war ver­mut­lich ame­ri­ka­ni­scher Staats­bür­ger chi­ne­si­schen Ursprungs. Als ich von dem klei­nen Park her, des­sen Lin­den­bäu­me Küh­le spen­de­ten, in den Laden trat, ver­beug­te sich der Mann, grüß­te, er kann­te mich bereits, wuss­te, dass ich mich für Schne­cken inter­es­sie­re, für Was­ser­schne­cken prä­zi­se, auch für wan­dern­de See­ane­mo­nen­bäu­me, und für Pra­li­nen, die unter der Was­ser­ober­flä­che, also im Was­ser, hübsch anzu­se­hen sind, schwe­ben­de Ver­su­chun­gen, ohne sich je von selbst auf­zu­lö­sen. An die­sem hei­ßen Som­mer­abend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzähl­te dem alten Mann, ich wür­de nach einem beson­de­ren Geschenk suchen für ein Kie­men­mäd­chen namens Rose. Sie sei zehn Jah­re alt und nicht sehr glück­lich, da sie schon lan­ge Zeit den Wunsch ver­spür­te, wie ande­re Kin­der ihres Alters zur Schu­le zu gehen, leib­haf­tig am Unter­richt teil­zu­neh­men, nicht über einen Bild­schirm mit einem fer­nen Klas­sen­raum ver­bun­den. Ich glau­be, ich war genau zu dem rich­ti­gen Zeit­punkt in den Laden gekom­men, denn der alte, chi­ne­sisch wir­ken­de Mann, freu­te sich. Er mach­te einen hel­len, pfei­fen­den Ton, ver­schwand in sei­nen Maga­zi­nen, um kurz dar­auf eine Rei­he von Spiel­do­sen auf dem Tre­sen abzu­stel­len. Das waren Wal­zen- und Loch­plat­ten­spiel­do­sen mit Kur­bel­wer­ken, die der Ladung einer Feder­span­nung dien­ten. Vor einer Stun­de gelie­fert, sag­te der alte Mann, sie machen schau­er­lich schö­ne Geräu­sche im Was­ser! Man kön­ne, setz­te er hin­zu, sofern man sich in dem­sel­ben Was­ser der Spiel­do­sen befän­de, die fei­nen Stö­ße ihrer mecha­ni­schen Wer­ke über­all auf dem Kör­per spü­ren. Bald leg­te er eine der Dosen in ein Aqua­ri­um ab, in wel­chem Zwerg­see­ro­sen sie­del­ten. Kurz dar­auf fuhr ich mit der Tram nach Roo­se­velt Island rüber. Das Musik­werk, Ben­ny Good­man, das ich für Rose erstan­den hat­te, war in das Gehäu­se einer Jakobs­mu­schel ver­senkt. Die Schne­cke leb­te, wes­we­gen ich tropf­te, weil der Beu­tel, in dem ich Roses Geschenk trans­por­tier­te, über eine undich­te Stel­le ver­füg­te. Gegen Mit­ter­nacht, ich war gera­de ein­ge­schla­fen, öff­ne­te tief in mei­nem rech­ten Ohr knis­ternd eine Zwerg­see­ro­se ihre Blü­te. — stop
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landschaft mit händen

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sier­ra : 22.18 UTC — In einem Zug woll­te mir ein jun­ger Mann einen Algo­rith­mus erklä­ren. Er sag­te: Schau Lou­is, die­ser Algo­rith­mus hier scheint von einer sehr begab­ten Per­son for­mu­liert wor­den zu sein. Ich möch­te behaup­ten, die­ser Algo­rith­mus stellt im Grun­de ein Lebe­we­sen dar. Der jun­ge Mann sah mich mit einem leich­ten Sil­ber­blick an, ver­mut­lich von Begeis­te­rung auf sein Gesicht gespielt. Die­sen Algo­rith­mus, fuhr er fort, sei der­art kom­plex, dass kaum noch ein mensch­li­ches Wesen ihn allein erfas­sen kön­ne. Man müs­se ver­mut­lich über einen leis­tungs­star­ken Rech­ner ver­fü­gen, um auch nur annä­hernd an sei­nen Kern, an eine Idee, die irgend­wo in dem Algo­rith­mus steck­te, her­an­zu­kom­men. Wäh­rend der jun­ge Mann sprach, folg­te ich sei­nen Hän­den, die über die Tas­ta­tur sei­nes Note­books hüpf­ten, als wären sie hell­häu­ti­ge Tie­re. Ich geste­he, ich habe kaum ver­stan­den, wovon der jun­ge Mann eigent­lich erzähl­te, da waren zu vie­le Zah­len im Spiel gewe­sen. Ich dach­te in jenem Moment vor­ran­gig an mei­ne eige­ne Lang­sam­keit, dass ich mit der Zeit zunächst immer schnel­ler wur­de, und dann plötz­lich wur­de ich lang­sa­mer, was ich zunächst nicht bemerk­te, bis ich in einem Zug saß und hel­le Fin­ger­ge­schöp­fe betrach­te­te, die eine Tas­ta­tur bedien­ten. So schnell waren sie vor mei­nen Augen gewe­sen, dass sie nach und nach unscharf wur­den, wie wohl mei­ne eige­nen Hän­de vor den Augen mei­nes Vaters unscharf gewor­den waren, als er sie mit einem selt­sa­men Blick betrach­te­te, des­sen Ursprung ich in einem Zug vie­le Jah­re spä­ter ent­deckt zu haben mein­te. — stop
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papiere

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del­ta : 22.58 UTC — In die­sem Moment, da die Tem­pe­ra­tur der Luft 38 °C erreicht, darf ich einen Text zitie­ren, den ich vor Jah­ren bereits notier­te. Er han­delt von Eis­pa­pie­ren und von einem beson­de­ren Kühl­schrank, den ich damals in Emp­fang genom­men hat­te, von einem Behäl­ter enor­mer Grö­ße. Ich schrieb, ich wieder­hole, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­bare Eisbü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­bringen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eisbü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­neren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank aufge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sagen, der von einem Notstrom­ag­gregat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­falles ausrei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eisbü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­liche Vorstel­lung, jene Vorstel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, woll­te ich Eisbü­cher besit­zen, Eisbü­cher lesen, schim­mernde, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schuber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den liebe­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gaszei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eisbuch­rei­se­koffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­terten Bli­cke der Fahr­gäste, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­liche Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hinein­ge­schrieben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eisbuch­rei­se­koffer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem entschlos­senen Blick, ein gie­ri­ges Auge, nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man nicht ange­kommen ist in den fros­tigen Zim­mern und Hal­len der Eisma­ga­zine, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eisti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eisbuch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten arkti­schen Tief­se­ee­is­ge­schichten, auch jene verlo­renen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen, man fürch­tet, sie könn­te zerbre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hörten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. – stop

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herzwanderung

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char­lie : 0.01 UTC — Ent­deck­te ges­tern Nach­mit­tag ein Notiz­kärt­chen, auf dem ich ein­mal vor lan­ger Zeit das Wort Herz­wan­de­rung notier­te. Ich glau­be, ich habe von die­sem Kärt­chen bereits erzählt. Ich schrieb das Wort auf das Kärt­chen, kurz nach dem ich einen jun­gen Mann in einem Prä­pa­rier­saal beob­ach­tet hat­te, wie er mit einem klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen, das er zuvor unter Anlei­tung eines Assis­ten­ten aus dem Brust­korb einer alten Frau ope­rier­te, durch den Saal eil­te, um es unter kal­tem Was­ser zu waschen. Unmit­tel­bar hin­ter ihm war­te­te ein Kol­le­ge. Auch er hielt ein Herz in Hän­den. Die­ses Herz schien ver­gleichs­wei­se das Herz eines Rie­sen gewe­sen zu sein, und es war dun­kel, fast schwarz. Als der jun­ge Mann mit der Waschung des klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen fer­tig gewor­den war, dreh­te er sich um. Für eini­ge Sekun­den stan­den sich die zwei Män­ner gegen­über und betrach­te­ten je das Herz­prä­pa­rat des ande­ren. — stop

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linie 8

pic

echo : 10.06 UTC – Nächs­te Hal­te­stel­le Max-Weber-Platz. Ich hab Weiß Ferdls Gesang noch im Ohr, wie er die Geschich­te erzählt von der Linie 8, die durch Mün­chen fährt zu einer Zeit, da ich noch nicht gebo­ren wor­den war. Wie oft habe ich die­se Auf­nah­me als Kind viel­leicht gehört? Die Stim­me des alten Münch­ner Kaba­ret­tis­ten ist mir heut Mor­gen ver­mut­lich des­halb ins Gehör gera­ten, weil ich Infor­ma­tio­nen einer moder­nen Stra­ßen­bahn zuhör­te, einer Stim­me prä­zi­se, die von einem Com­pu­ter erzeugt wird: Bit­te in Fahrt­rich­tung rechts aus­stei­gen. Die­se Stim­me, wie sie mir bewusst wur­de, scheint sich bereits in vie­le wei­te­re Städ­te fort­ge­setzt zu haben, es ist eine weib­li­che Stim­me, die auch kom­pli­zier­te Stra­ßen­na­men zu for­mu­lie­ren ver­mag. Manch­mal dehnt sie Wör­ter in einer selt­sam unbe­hol­fe­nen Art. Das hört sich an, als wür­de eine Schall­plat­te für einen Moment beschleu­nigt, dann wie­der abge­bremst. Auch Kin­der hören zu, oder Men­schen, die soeben die deut­sche Spra­che ler­nen. Viel­leicht, stel­le ich mir vor, wer­den sich in die­ser Wei­se bestän­di­ger Wie­der­ho­lung nach und nach jene unbe­hol­fen klin­gen­den Sen­ten­zen der Stra­ßen­bahn­an­sa­gen in unse­re all­täg­li­che Spra­che schlei­chen. Das ist denk­bar. Ich muss das beob­ach­ten. — stop

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zwergseerose no 2

9

nord­pol : 0.02 UTC — Als ich heu­te Mor­gen erwach­te, knis­ter­te mein lin­kes Ohr. Das war ver­mut­lich dar­um gewe­sen, weil ich auf mei­nem lin­ken Ohr meh­re­re Stun­den lang träu­mend ruh­te. Für einen Moment dach­te ich, mei­ne Ohr­mu­schel wäre von Papier gemacht. Wäh­rend ich so lag und lausch­te, erin­ner­te mich an eine Geschich­te, die ich in einem schat­tigen Laden nahe der Roose­velt Island Tram­way Basis­sta­tion West in New York vor län­ge­rer Zeit erleb­te. Ich erzähl­te bereits von dem alten Mann, der hin­ter einem Tre­sen auf Kun­den war­te­te. Er war vermut­lich ameri­ka­ni­scher Staats­bürger, doch eher chine­si­schen Ursprungs. Als ich von dem klei­nen Park her, des­sen Linden­bäume Küh­le spen­deten, in den Laden trat, ver­beug­te sich der Mann, grüß­te, er kann­te mich bereits, wuss­te, dass ich mich für Schne­cken inter­es­siere, für Wasser­schne­cken prä­zi­se, auch für wan­dern­de Seeane­mo­nen­bäume, und für Pra­li­nen, die unter der Wasser­ober­fläche, also im Was­ser, hübsch anzu­sehen sind, schwe­bende Versu­chungen, ohne sich je von selbst aufzu­lösen. An die­sem hei­ßen Sommer­abend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzähl­te dem alten Mann, ich wür­de nach einem beson­deren Geschenk suchen für ein Kiemen­mäd­chen namens Rose. Sie sei zehn Jah­re alt und nicht sehr glück­lich, da sie schon lan­ge Zeit den Wunsch ver­spür­te, wie ande­re Kin­der ihres Alters zur Schu­le zu gehen, leib­haftig am Unter­richt teil­zu­nehmen, nicht über einen Bild­schirm mit einem fer­nen Klas­sen­raum ver­bun­den. Ich glau­be, ich war genau zu dem rich­tigen Zeit­punkt in den Laden gekom­men, denn der alte, chine­sisch wir­ken­de Mann, freu­te sich. Er mach­te einen hel­len, pfei­fenden Ton, ver­schwand in sei­nen Maga­zinen, um kurz dar­auf eine Rei­he von Spiel­dosen auf dem Tre­sen abzu­stellen. Das waren Wal­zen- und Loch­plat­ten­spiel­dosen mit Kurbel­werken, die der Ladung einer Feder­span­nung dien­ten. Vor einer Stun­de gelie­fert, sag­te der alte Mann, sie machen schau­er­lich schö­ne Geräu­sche im Was­ser! Man kön­ne, setz­te er hin­zu, sofern man sich in dem­sel­ben Was­ser der Spiel­dosen befän­de, die fei­nen Stö­ße ihrer mecha­ni­schen Wer­ke über­all auf dem Kör­per spü­ren. Bald leg­te er eine der Dosen in ein Aqua­rium ab, in wel­chem Zwerg­see­rosen sie­del­ten. Kurz dar­auf fuhr ich mit der Tram nach Roose­velt Island rüber. Das Musik­werk, Ben­ny Good­man, das ich für Rose erstan­den hat­te, war in das Gehäu­se einer Jakobs­mu­schel ver­senkt. Die Schne­cke leb­te, wes­we­gen ich tropf­te, weil der Beu­tel, in dem ich Roses Geschenk trans­por­tierte, über eine undich­te Stel­le ver­füg­te. Gegen Mitter­nacht, ich war gera­de einge­schlafen, öff­ne­te tief in mei­nem rech­ten Ohr knis­ternd eine Zwerg­see­rose ihre Blü­te. – stop

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gespräch

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tan­go : 17.01 UTC — Ich will schnell erzäh­len, wie ich unlängst mit einer Maschi­ne, wäh­rend sie mei­nen Cap­puc­ci­no zube­rei­te­te, gespro­chen habe. Ich sag­te: Hey, einen Cap­puc­ci­no bit­te. Und die Maschi­ne ant­wor­te­te: Hey, wird gemacht! Also war­te­te ich. Indem ich war­te­te, hör­te ich der Maschi­ne zu. Ich ver­nahm eini­ge plau­si­ble Geräu­sche aus dem Inne­ren des Gehäu­ses, außer­dem eini­ge Geräu­sche, die nicht sehr plau­si­bel waren. Das waren Geräu­sche des Pfei­fens oder Sin­gens, Geräu­sche, die ent­we­der mei­ner Unter­hal­tung dien­ten oder weil sich die Maschi­ne tat­säch­lich selbst, wäh­rend sie arbei­te­te, eine Freu­de mach­te. Ich habe schon oft genau so war­tend vor genau die­ser Maschi­ne gestan­den, ich ver­mu­te, dass mich die Maschi­ne inzwi­schen kennt, viel­leicht sogar Zeit­punk­te, da ich zu ihr kom­men wer­de, also Gewohn­hei­ten mei­nes Lebens. Ein­mal, als ich den Stand­ort der Maschi­ne erreich­te, war mein Cap­puc­ci­no bereits fer­tig gewe­sen. Das ist schon selt­sam, nicht wahr, ich begann über Fähig­kei­ten der Maschi­ne nach­zu­den­ken. Kann die­se Maschi­ne viel­leicht sehen oder ver­mag sie mei­nen Duft wahr­zu­neh­men? Dass sie über einen Hör­sinn oder über eine spe­zi­el­le Art eines hören­den Sen­sors ver­fügt, steht für mich schon lan­ge fest, weil sie mich begrüßt. Manch­mal erkun­digt sie sich nach mei­nen Wün­schen. Mein lie­ber Lou­is, will sie wis­sen, einen Cap­puc­ci­no oder doch etwas ande­res Hei­ßes zur Fei­er des Tages? An die­sem Mor­gen, von dem ich eigent­lich erzäh­len will, ist aber doch etwas sehr Selt­sa­mes gesche­hen. Viel­leicht war es der Wind, jeden­falls fiel eine Papp­tas­se aus dem Bauch der Maschi­ne auf einen Vor­satz unter einem Hahn, aus dem bald hei­ßer Kaf­fee kom­men soll­te. Die Tas­se lan­de­te etwas schräg und ver­harr­te in die­ser Posi­ti­on. Die Maschi­ne sag­te zu mir: Becher bit­te set­zen. Mein Gott, das war selt­sam! Ich dach­te, wer nur hat die­se Spra­che erfun­den, mög­li­cher­wei­se die Maschi­ne selbst? Ich streck­te mei­ne Hand nach dem Becher aus. In dem Moment, da ich den Becher anhe­ben woll­te, spritz­te hei­ßer Kaf­fee auf den Rücken mei­ner Hand, wes­we­gen ich mit lei­ser Stim­me pro­tes­tier­te. Ich sag­te: Ver­dammt! Die Maschi­ne ant­wor­te­te: Ver­zei­hung. — stop
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anjuta

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ulys­ses : 5.25 UTC — Es ist Mon­tag, frü­her Mor­gen, und die Vögel pfei­fen. Ich bin noch nicht ganz wach, ich habe gut geschla­fen, ich hat­te einen lus­ti­gen Traum: In die­sem Traum war ich ver­sucht, Anton Tschechow einen Brief zu schrei­ben. Tat­säch­lich habe ich mich im Traum an mei­ne Schreib­ma­schi­ne gesetzt und notiert: Lie­ber Mr. Tschechow, ges­tern las ich eine trau­ri­ge Geschich­te, die Sie ein­mal auf­ge­schrie­ben haben. Sie erin­nern sich viel­leicht an Anju­ta?  Sie leb­te in der Pen­si­on Lis­sa­bon mit einem Stu­den­ten der Medi­zin in einem schmut­zi­gen Cha­os. Eigent­lich woll­te ich nach­le­sen, wie Sie vom ana­to­mi­schen Stu­di­um berich­ten, vom Ler­nen oder Pau­ken, eine Ärz­tin hat­te mich auf ihre Geschich­te auf­merk­sam gemacht. Was mich dann sehr berühr­te, war das Mäd­chen Anju­ta selbst, ihre Geduld oder Duld­sam­keit, wie trau­rig, wie sie als mensch­li­cher Gegen­stand ange­se­hen und behan­delt wur­de, eine gute Geschich­te! Es ist noch etwas Wei­te­res gesche­hen, ich erin­ner­te mich im Traum ein­mal, vor eini­gen Jah­ren, Ihre gesam­mel­ten Erzäh­lun­gen, Novel­len, Thea­ter­stü­cke, Essays in digi­ta­ler Spur aus dem Inter­net gela­den zu haben, 19657 Posi­tio­nen. Ich bemerk­te damals, dass es tatsäch­lich mög­lich ist, für den Preis einer Pista­zien­eis­kugel Joseph Roths Gesam­melte Wer­ke auf ein Paperw­hite – Lese­gerät zu holen. James Joy­ces Ulys­ses kos­tet soviel wie kei­ne  Eis­ku­gel. Vir­gi­nia Wool­fes Mrs. Dal­lo­way eine hal­be Kugel. Ihre, Anton Pawlo­witsch Tsche­chows Kurz­ge­schichten, Novel­len, Dra­men wie­der­um eine voll­stän­dige Kugel / Down­loadrei­se­zeit : 5,2 Sekun­den. Sehr beun­ru­hi­gend, wie ich fin­de. Gleich wer­de ich auf­wa­chen, ich wer­de einen Cap­puc­ci­no trin­ken, und dann wer­de ich Ihnen die­sen Brief, den ich träum­te, notie­ren an einem frü­hen Mor­gen bald, wenn Mon­tag sein wird bei leich­tem Regen, und die Vögel pfei­fen. — stop

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nuriye gülmen

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romeo : 0.01 UTC — Ich ken­ne Jasus, der eigent­lich ganz anders heißt, seit eini­gen Mona­ten flüch­tig. Wir begeg­nen uns von Zeit zu Zeit am Bahn­hof oder im Zug. Ein­mal kamen wir auf sei­ne Hei­mat­stadt Istan­bul zu spre­chen. Er sag­te, dass er sich freu­en wür­de, wenn ich Istan­bul gera­de jetzt in die­ser schwie­ri­gen Zeit besu­chen wür­de. Jasus ist glü­hen­der Ver­eh­rer des tür­ki­schen Prä­si­den­ten, der habe sein Land moder­ni­siert, er kön­ne end­lich stolz sein auf die Tür­kei. Ich erwähn­te, dass ich Orhan Pamuk sehr ger­ne lesen wür­de, da wur­de Jasus vor­sich­tig, der Pamuk wäre ihm nicht geheu­er, der soll kri­tisch über die Tür­kei geschrie­ben haben, obwohl er doch selbst Tür­ke sei. Nun saßen wir kürz­lich auf einer Bank im Flug­ha­fen­ter­mi­nal 1. Ich frag­te Jasus, ob er bereit wäre, einen Film der Deut­schen Wel­le anzu­se­hen, den ich auf mei­nem Note­book gespei­chert mit mir führ­te. Der Film berich­tet von einer Dozen­tin der Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten, die seit vie­len Mona­ten in Anka­ra öffent­lich dar­um kämpft, an ihren Arbeits­platz zurück­keh­ren zu dür­fen. Sie wur­de des­halb jeden Tag ver­haf­tet und erst nach je 5 Stun­den wie­der frei­ge­las­sen. Von Nuri­ye Gül­men hat­te Jasus noch nie gehört, aber er woll­te den Film betrach­ten. Ich stell­te mein Note­book also zwi­schen uns ab, und Jasus ver­folg­te den Film wort­los von der ers­ten bis zur letz­ten Minu­te. Ich mein­te zu bemer­ken, dass ihm der Film nahe­zu­ge­hen schien. Als der Film zu Ende war, woll­te er wis­sen, war­um ich ihm die Auf­nah­me gezeigt habe. Ich sag­te: Ich fin­de, die­se Frau hat recht, sie kämpft um ihre Exis­tenz, sie kämpft für Gerech­tig­keit und Frei­heit, sie ist unge­heu­er mutig. Ja, ant­wor­te­te Jasus, sie ist mutig und sie ist ver­rückt. Er mach­te eine Pau­se. Er schien zu über­le­gen. Dann frag­te er, was mich denn eigent­lich die­se gan­ze Geschich­te ange­hen wür­de? Die­se Geschich­te gehe nur ihn und sei­ne Lands­leu­te etwas an. — Ein Fun­ke Hoff­nung! — Seit vier Wochen befin­det sich Nuri­ye Gül­men im Hun­ger­streik. — stop



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