alpha : 0.50 – Einem Menschen vorzulesen, von dem ich nicht weiß, ob er mir zuhören kann, ob er vielleicht schläft oder beides. Ja, eine solche Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht von Zeit zu Zeit, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinen Atem. Manchmal ging ich spazieren in der Wohnung oder in den Garten. Es war August, eine Handvoll Zikaden musizierte, schwüle, süße Luft. Dann wieder am Bett. Mit Mühe die Augen offengehalten. In der Küche Kaffee gemacht. Nach Atem gelauscht. Das Buch geöffnet und weitergelesen. Stimme, manchmal fragende Stimme: Hörst du mich, hörst Du mir zu? Soll ich weiterlesen? Also lese ich weiter, ich lese Ágota Kristóf, ich lese davon, wie man Schriftsteller wird. Zuallererst muss man natürlich schreiben. Dann muss man weiterschreiben. Selbst wenn es niemanden interessiert. Selbst wenn man das Gefühl hat, dass es niemals jemanden interessieren wird. Selbst wenn die Manuskripte sich in den Schubladen stapeln und man sie vergisst, während man neue schreibt./ Am Anfang gab es nur eine einzige Sprache. Die Objekte, die Dinge, die Gefühle, die Farben, die Träume, die Briefe, die Bücher, die Zeitungen waren diese Sprache. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine andere Sprache geben könnte, dass ein Mensch ein Wort sprechen könnte, das ich nicht verstehe. — Ja, es war Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinem Atem zu. — stop
Aus der Wörtersammlung: essen
bewegung
nordpol : 0.28 — Wie Peter Bichsel vor Jahren in einer Filmdokumentation von einem Zustand der Bewegung berichtete, der für ihn zum Schreiben hilfreich sei. Fahren. Reisen. Der Schriftsteller saß, indem er das erzählte, in einem Waggon der Schweizer Bundesbahn, Landschaft mit Bäumen schwebte hinter dem Fenster vorbei, und ich meine, mich richtig zu erinnern, wenn sich das Gesicht des Dichters in der Scheibe spiegelte. Immer wieder einmal habe ich an diese Situation gedacht, gestern zuletzt, weil ich bemerkte, dass mir in diesen Tagen die Stunden des Schreibens auf der Staten Island Fähre fehlen, Stunden bemerkenswerter Beweglichkeit in meinen Gedanken. Nicht allein die gleichmäßige Bewegung des Schiffes, scheint eine seltsame Öffnung meiner Gedanken bewirkt zu haben, oder der Blick auf das Meer, die Silhouette Brooklyns, den Hafen New Jerseys, seine Kräne, die wie Storchenvögel am Horizont zu sehen sind, in meinem Fall waren es die Menschen, ihre Gesichter, Stimmen, Bewegungen, Gerüche, Hüte, Telefone, Schuhe, Taschen, Gespräche, die mich mit Spannung einerseits und innerer Ruhe anderseits versorgten. Ich ahne, ich vermag in der Umgebung zahlreicher Menschen, die sich nicht weiter um mich kümmern, sehr lange Zeiten und weit geöffnet stillzusitzen. Meine Augen spazieren herum und meine Ohren, mein Schreibgehirn aber scheint indessen in eine ganz andere Richtung zu schauen. Warum das so ist, weiß ich nicht. – Ein stilles Gebet seit Tagen.
ein unglück
echo : 0.15 — Von einem Unglück habe ich erfahren. Ein alter Mann ist gestürzt. Es war später Abend. Der alte Mann wollte seine Frau in den Arm nehmen, um sich zu bedanken, weil sie beide einen glücklichen Tag gemeinsam verbrachten. Sie waren spazieren im Englischen Garten und kurz darauf in einem Kino gewesen, und essen und dann, nach vielen Stunden wieder zu Hause, umarmte der alte Mann seine geliebte Frau, um kurz darauf das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt liegt er, so hörte ich, in einem Hospital in einem Bett. Es ist die Nacht nach dem Tag nach dem Abend des Unglücks. Und dass sie froh seien, dass sie so gut versorgt würden, dass sie nicht erleben müssten, was verletzten Menschen in der Stadt Homs widerfährt. Und doch ist ein großes Unglück geschehen, Sorge und Angst sind zurück. Ich hörte eine leise, sehr traurige Stimme: Wir werden uns in Zukunft im Sitzen umarmen. — stop
roosevelt Island
charlie : 3.05 — Wie, zum Teufel, kommt dieser merkwürdige Traum in meinen Kopf? War im Central Park auf der Suche nach einem großartigen Jazzposaunisten, nach Fred Wesley gewesen, verirrte ich mich, spazierte plötzlich auf Roosevelt Island herum. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube sehr fest daran, dass es sich um Roosevelt Island gehandelt haben musste, weil ich mit einer Art Luftgondel, einer Seilbahn angekommen war. Wahrhaftig eine heruntergekommene Gegend, zerfallene Gebäude, Müll und Straßen, die teilweise unter Wasser standen. Ich wartete in einem Kellerlokal, auch hier Wasser in Kniehöhe, hunderte Tische. Man konnte in diesem Lokal vom Menschen essen. Wenn man sich, nach Besichtigung der Karte, entschieden hatte, kam ein Mensch herbei, von dem man probieren konnte. Da waren Armmenschen mit köstlich schmeckenden Armen, und da waren Bauchmenschen mit köstlich schmeckenden Bäuchen. Manche dieser Personen sahen recht schrecklich aus, weil bereits häufiger von ihnen abgebissen worden war. Ich werde das jetzt nicht weiter ausführen. Es ist Montag. – stop
manhattan transfer : ein wölkchen asche
ulysses : 23.57 — Am späten Abend, die Luft war von seltsamer Milde, auf dem Promenadendeck des Fährschiffs Spirit of America der ersten Seebestattung meines Lebens beigewohnt. Ein heimlicher Vorgang, dessen Beobachtung nur deshalb möglich gewesen war, weil mich der junge Mann und die junge Frau, die vom Bug des Schiffes her gekommen waren, in den Nachtschatten nicht wahrgenommen hatten. Sie standen für einige Minuten still in meiner Nähe, sahen auf das Wasser herab, das dunkel gewesen war, hielten sich an den Händen und sprachen sehr leise. Sie sprachen so, als würden sie beten. Ein helles Wölkchen von Asche stieg in der Luft. Die junge Frau fasste in ihre Manteltasche, sie warf ein Stück Papier in die Tiefe, dann Blumen, Blüten, eine Handvoll Blüten die junge Frau, und eine Handvoll Blüten der junge Mann. Dann gingen sie langsam fort in die Richtung, aus der sie gekommen waren. — stop
broadway : verschwinden
nordpol : 20.18 — Manchmal, während ich spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und demselben Moment. Ich vergesse Ampeln, Taxis, Türsteher, Zebrastreifen, die Gesichter wartender Menschen, Auslagen teurer oder billiger Läden, Nepp, Perücken, die Nahrung in den Händen der Gehenden, Wörter aus dem Gewirr der Stimmen, Gespräche, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, fünf Blocks den Broadway nordwärts, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
upper new york bay : eine minute auf der samuel I. newhouse
ulysses : 17.58 — Staten Island Fähre gegen 15 Uhr. Eine Frau und ein Mann, die tief schlafend Seite an Seite sitzen und doch auf eine seltsame Weise miteinander zu sprechen scheinen. Sie tragen beide keine Zähne, vielleicht weil sie morgens vergessen haben, sie einander in den Mund zu legen. Ihre Schläfen, eine linke und eine rechte Schläfe, zueinander gelehnt. Lider, alabasterfarben, durchsichtig beinahe, hier, an der Bewegung der Augäpfel, ist zu erkennen, dass sie kommunizieren. Eine Hand des Mannes ruht, gleichwohl schlafend, auf dem Bauch der Frau. Draußen, hinter Salzfenstern, die Wasserfahne eines Feuerlöschbootes. Und Möwen, schwere Möwen, die das Schiff betrachten, als hätten sie es noch nie zuvor gesehen. Gleich werden die Schlafenden sich erheben. Sie werden, als ob sie in ihrem Inneren über eine geheime Sanduhr verfügten, ihre Augen öffnen und sich bugwärts auf den Weg machen, Sekunden nur, ehe eine Lautsprecherstimme sie zum Verlassen der Fähre auffordern wird. — Leichter Regen. — stop
hell’s kitchen : ballroom
alpha : 20.02 — Die Port Authority Busstation Höhe 42. Straße soll die größte Busstation der Vereinigten Staaten sein, 7200 Automobile verlassen oder erreichen an einem durchschnittlichen Tag das Gebäude in der Nähe des Hudson Rivers. Ich sollte einmal von hier aus nach Mexiko fahren oder rauf nach Alaska oder Neufundland, ein Ort der Koffer, der Rucksäcke. Ich habe Menschen beobachtet, die aus einem anderen Jahrhundert kommend hier eingetroffen zu sein scheinen, Frauen mit Röcken bis zum Boden, Männer in Knickerbockerhosen, Golfschuhen, hellen Sommerjacken inmitten des Winters in einem sich langsam drehenden Wirbel von Körpern. Im Erdgeschoss des Gebäudes befindet sich in einem Gehäuse von Glas und Stahl eine Maschine, die mit Billardkugeln spielt, eine Skulptur des Künstlers George Rhoads. Man kann sie weithin hören, klingelnde, ratternde Geräusche, und das Glück der Kinder beobachten, die mit ihren Augen den Kugeln folgen, welche von der Schwerkraft in Bahnen gegen den Boden gezogen werden. Ein Wesen, das bei Tag und bei Nacht arbeitet, indem ein Aufzug, von einem kleinen Elektromotor angetrieben, jene steinharten Bälle in die Höhe hebt, um sie bald wieder loszulassen in ein Labyrinth möglicher Bahnen. Es ist ein wenig so, als würde die Maschine sprechen oder singen oder spielen, selbstvergessen, heiter, leicht. Ich muss mich nicht wundern, einmal waren alle Kugeln, weiß der Himmel, warum, aus ihren Bahnen gesprungen, und ich hatte den Eindruck, die verstummte Maschine sei aus dem Leben gegangen. Gerade eben, es ist Montagabend geworden, fällt mir ein, dass ein Freund unlängst erzählte, dass er sehr traurig sei, weil seine Großmutter im ungefähren Alter von 105 Jahren in Afrika gestorben sei. Sie habe noch eine Wüstensprache gesprochen, die ohne Zeichen gewesen war für Papiere, Holz, Stein, Erde. — stop
harlem : artist südwärts
charlie : 0.06 — Kurz nach 8 Uhr abends betritt ein hochgewachsener, schöner Mann den Subwaywagon, in dem ich sitze. Er trägt eine rote Hose, die schillert, Turnschuhe von schwarzer Farbe, einen Gürtel von Schlangenhaut, davon abgesehen scheint der Mann unbekleidet zu sein, die schwarze Haut seines Oberkörpers glänzt, auch die Haut seines Kopfes, auf dem sich keinerlei Haar befindet. Er kommt also herein, Höhe 168. Straße, geschmeidig, vollzieht einen Handstandüberschlag und hängt sich, Kopf nach unten, an eine der Haltestangen, die sich in den Waggons der Linie C befinden. Eine leichte, schaukelnde Bewegung, ich könnte sagen, eine Bewegung der Ruhe vor dem Sturm, die Augen geschlossen, gleich werden sich die Arme des Mannes über das Gestänge des Waggons bewegen, er wird den Reisebehälter, der von zahlreichen Menschen bewohnt, durch den Untergrund der Insel Manhattan rattert und scheppert, durchmessen, ohne den Boden mit seinen Füßen zu berühren, lautlos, bebende Muskeln, Arme, Rücken, Bauch, indem sich ein Arm des Mannes von der Stange löst, wird er an den Schwingen einer Hand gegen den Süden fliegen, um einen weiteren Handvogel nach sich zu ziehen, bald mit Hand No 3 und Hand No 4, die beide Schuhe tragen, nach offenen Räumen zielen, um Fahrt aufzunehmen, ein segelnder Körper, mal gestreckt, dann wieder zu einem Ball geworden, der sich um eine der senkrechten Stangen windet, die das Dach des Zuges zu halten scheinen, ein Hut indessen, der mal da mal dort unter den Nasen der Staunenden vorüber kommt, gleich ist es so weit, 166. Straße, noch eine, noch eine halbe Sekunde. — stop
downtown south ferry : lorra
nordpol : 0.22 — Elendsmenschen unter Decken, unter Mänteln, unter Kartons verborgene Personenwesen, zerschlagene, gefrorene, eiternde Gesichter zu Tausenden auf der Straße, in Tunnels, Hauseingängen, Parks. Ich kann nicht erkennen, ob sie Frauen oder Männer sind, sie sprechen und bewegen sich nicht, oder nur sehr langsam, als würden sie sich in einer anderen Zeit befinden. Wer noch gehen kann, wer noch über Kraft zu sprechen verfügt, wandert in der Subway, eine äußerst schwierige Arbeit, das Erzählen immer wieder ein und derselben Geschichte: Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit! Ich bin Lorra, ich bin 32 Jahre alt, ich bin wohnungslos, ich habe keine Arbeit, ich habe Kinder, wir müssen über den Winter kommen. Von Waggon zu Waggon. Von Zug zu Zug. Stunde um Stunde. Sie nimmt auch zu essen, zu trinken, Papier oder leere Flaschen an. Alles hilft, sagt Lorra, alles hilft. Sie wird nicht verhöhnt, vertrieben oder missachtet, sie bekommt, sooft ich ihr in der Linie 5 downtown South Ferry begegnete, zwei oder drei Dollar überreicht. Abends sitzt sie im Wartesaal der Fähre und schläft. Einmal nähert sich ein Polizist. Lorra war ein wenig zur Seite gefallen. Er spricht sie an, er berührt sie an der Schulter: Mam, ist alles in Ordnung? Aber Lorra antwortet nicht. Ein zweiter Polizist kommt hinzu. Er fragt: Ist sie noch am Leben? Sie richten die schlafende Frau gemeinsam auf. Sie tragen jetzt Handschuhe von Plastik. Sie sprechen so lange leise auf Lorra ein, bis sie die Augen öffnet. Dann macht sie die Augen wieder zu. — stop