tango : 6.35 — Vor einem Jahr zuletzt die Frage: Wie mutig wäre ich im Widerstand gegen den geheimdienstlichen Zugriff einer Diktatur auf meine Person? Wie genau würde ich mich verhalten, wenn man versuchte, mich für Spionagearbeit unter Freunden zu gewinnen? Bin in der Suche nach einer Antwort noch keinen Schritt vorangekommen. Stattdessen weitere Fragen. Welcher Art könnten die Werkzeuge sein, Druck auf mich auszuüben? Würde mir Tortur angekündigt oder nahestehende Menschen mit dem Tod bedroht? Existieren Orte meiner Persönlichkeit, die sich als so schwach erweisen, dass man dort Zugang finden könnte? Habe ich einen geheimen Preis? Meine Schreibmaschine? Meinen Reisepass? Ist es sinnvoll, diese Fragen in einem virtuellen Raum zu stellen? — stop
Aus der Wörtersammlung: essen
taschenspielzeug
romeo : 2.01 — Träumte, obwohl ich New York besuchen wollte, nahe Montauk gelandet zu sein. Hatte meinen Impfpass vergessen und man sagte mir noch an Bord des Flugzeuges, dass ich ohne Impfpass niemals nach New York hineingelassen werden würde. Man landete also rasch an nächster Küste und setzte mich dort ab. Die Stadt Montauk nun bestand aus flachen Hütten. Seltsame Menschen lebten in diesen Hütten. Sobald ich mich einer Hütte näherte, traten sie zu mir auf die Straße und erzählten, wie ich den Flughafen wieder finden könnte, weil ich mich in der Stadt sofort verirrt hatte. Als sie hörten, dass ich ohne Impfpass sei, sagten sie: Vergessen Sie New York. Alle diese freundlichen Menschen, denen ich auf der Straße vor ihren hölzernen Häusern begegnete, führten eine Plastiktasche mit sich, die sie an einem Lederriemen nahe der Achselhöhle befestigt hatten. In dieser Tasche lebten ihre Kinder in einer weiteren Stadt, die den Namen Montauk trug. Die Stadt musste jeweils sehr leicht gewesen sein, weil die Menschen weder gebückt gingen, noch ihre Taschen auf den Boden stellten, um sich mit mir über meine vergebliche Reise nach New York zu unterhalten. Manchmal, wenn es leise wurde, wenn die Wellen des nahen atlantischen Meeres gerade einmal Pause machten, konnte ich sehr feine, helle Stimmen vernehmen, Automobilhupen und Flugzeuge, Geräusche direkt von der nächsten Tasche her. — stop
bauchwellen
echo : 0.05 — Würde man die Gestalt eines Basskäfers auf einem Blatt Papier zur Aufführung bringen, wäre zunächst ein enormer Knochenraum zu zeichnen, eine Kammer, in der sich Luft befindet, Luft in Erwartung einer Kraft, die sie in geräuschvolle Schwingung versetzen wird. Irgendwo dort, an einem der schmaleren Enden dieses Raumes, sitzt ein kleiner Kopf, Fühler, Ohrensegel, falten sich tastend durch seine unmittelbare Umgebung, feinste Apparaturen. Dafür Augen keine, aber Beine, die sich flink bewegen. Er spielt, wie alle seine Artgenossen, im Liegen auf dem Rücken, greift dann nach feinsten Saiten von Kupferchitin, die über seinen Bauchregionen aufgespannt. Wundervolle, sonore Töne sind zu hören, indem der Käfer sich selbstvergessen langsam um die eigene Achse zu drehen beginnt, dumdum, dumdum, immerzu links, immerzu links, immerzu linksherum. — Nacht. stop. Kühl. stop. Habe meine Winterbeleuchtung angeschaltet. Vier Lampen in der Küche, zwei im Flur, sieben in den Spazierarbeitszimmern, hell ist’s, als sei Tag. Guten Morgen. — stop
minutenzeit
india : 15.05 — Versuche, die Zeit vorzustellen, das heißt, die Zeit einer Minute zu messen oder zu fühlen oder zu denken, ohne eine Uhr zu Hilfe zu nehmen. Das ist natürlich nicht ganz richtig formuliert, weil ich die Genauigkeit meiner geistigen Messung prüfe, in dem ich nach Ablauf einer Minute, einer vorgestellten Minute, die tatsächlich verstrichene Zeit vom Zifferblatt einer kleinen Stoppuhr lese, die ich in dem Moment mit einer Handbewegung in Gang setze, da ich denke, jetzt, genau jetzt ist die Zeit einer Minute angebrochen. Nein, ich zähle nie bis sechzig, auch nicht bis dreißig! Und die Arbeit der Uhr, die in meiner Hand der Minutenzeit eine gültige Gestalt verleiht, ist nicht zu spüren, nicht zu hören. Ich habe festgestellt, dass die Minutenzeit des Morgens kürzer ist als die Minutenzeit des Abends an derselben Stelle. Seltsame Geschichte! — stop
luftzeitpumpen
~ : louis
to : Mr. eliot
subject : LUFTZEITPUMPEN
Mein lieber Eliot! Ich habe mir heute gedacht, man müsste Beizeiten einmal mit einer höheren Instanz darüber verhandeln, ob nicht Lebenszeit durch Lesezeit verlängert werden könnte. — Wollte Dir schon lange schreiben. Ich nehme an, Du wirst vor Monaten zunächst Dein Warten, dann meinen Namen vergessen haben. Oder war es etwa umgekehrt gewesen? Nun, hier bin ich wieder, Dein Louis, jener Louis, der in seiner Vorstellung Luftzeitpumpen versuchte. Um Himmelswillen, ich werde doch nicht ganz und gar verloren sein, ein seltsamer Gedanke, dass ich meiner Arbeit nachgegangen sein könnte, ohne bemerkt zu haben, dass meine Existenz in Deinem Leben endete, ein ferner Tod, mein eigener. Sammelst Du weiterhin Herzen Deiner Rechenmaschinen? Wie geht’s Deiner Geliebten? Was macht das Chromosom No 1, hast Du’s bald ausgedruckt? — Zwergseerosen segeln durch die Luft. Antworte rasch! Dein Louis
die alte margareta spricht vom sterben
nordpol : 18.15 — Nachmittag. Wolken tief. Regen heut aus nächster Nähe auf den Schirm. Auch von der Seite her Tropfen, die so leicht sind, dass sie mit meinem Atem zurück gegen den Himmel fliegen. Mit Schreibmaschine sitz ich und beobachte handliches Kino. Dort das Gesicht einer uralten Frau. Sie heißt Margareta, die Margareta aus Wien. Margareta ist 91 Jahr alt. Von einem bösen Krebs schwer gezeichnet, spricht sie im Sterbehospiz in einer heiteren Weise Gedanken in die Kamera, die mich berührten, als ich sie zum ersten Mal hörte, so dass ich mir vorgenommen hatte, jeden ihrer Sätze in einer eigenen Textspur festzuhalten. Heute nun ist Margaretas Tag. Immer wieder halte ich den Film an und notiere Wort für Wort was Margareta zum Sterben sagt: Ich glaub nicht gar so. Ich glaub nicht, dass man in den Himmel kommt. Weil, mit was soll man denn? Ja, mit der Seele, nicht! Die Seele kommt in den Himmel. Ja, aber wer ist denn die Seele? Das weiß man dann auch nicht. Ich sag das nur, weil Sie mich gefragt haben. Weiß ich nicht, wie das dann geht! Ich hab eine Cousine gehabt, die war sehr christlich. Wenn die nur einmal nicht in die Kirche gegangen war, aber sie hat mir gesagt damals, sie war ein 18er-Jahrgang, ich bin ein 14er, mein Bruder war ein 17er, und sie hat gesagt: Das glaub ich nicht, dass es nach dem Tod noch was gibt. Sie meint halt, dass wenn man stirbt, dass es dann aus ist. Ich weiß es auch nicht. Aber ich schlafe jetzt auf die Nacht ein, und in der Früh werd ich munter, das hab ich jetzt dreimal schon gemacht, da denke und da träume ich gar nichts, so richtig nichts. Dann denk ich mir, siehst du, so wär das Sterben. Aber es ist halt so. Nein, so richtig weiß ich es nicht. Aber ich bin ja schon knapp davor. Mit 91 sind Sie knapp vor dem Sterben. Müssen Sie ja sein. — Margareta hebt einen kleinen Löffel vom Tisch. - Mein Gott, gar nichts essen möchte ich am liebsten. - stop
mrs. wilkerson
whiskey : 22.28 — Mrs. Wilkerson ist eine außerordentlich stattliche Erscheinung. Sie trägt ihr schwarzes Haar zu einer Kugel geformt streng hinter den schmalen Kopf zurückgezogen, Mund und Augenlider sind von einem Schimmer erhellt, der so dezent aufgetragen ist, dass er auf der Haut einer weißhäutigen Frau nicht sichtbar werden würde. Wenn man abends nach zehn Uhr das Haus in der 38th Straße betritt, wartet sie bereits, meistens stehend und freundlich lächelnd hinter ihrem Tisch in einer fliederfarbenen Bluse unter einem dunkelblauen Jackett so adrett gekleidet, so sauber, so leuchtend, dass ich mir immer ein wenig schmutzig vorkomme, staubig, sagen wir, klebrig, erhitzt von der Erregung der Stadt, die ich während des Tages aufgenommen habe. Mrs. Wilkerson kennt mich bei meinem Namen. Sir, sagt sie, ein seltsam klingendes Wort in meinen Ohren, dann wieder Honey, was ich als Auszeichnung empfinde. Sie arbeitet nachts, öffnet die Tür, sobald ein Bewohner oder Besucher des Hauses die kleine Halle vor den Aufzügen zu betreten wünscht, grüßt, vermittelt Postsendungen, Nachrichten, Zeitungen, aber eigentlich bewacht sie das Gebäude und die Menschen, die in ihm wohnen. Eine vollendet höfliche Person, etwas größer als ich und so geschmeidig und locker in ihrer Art, dass ich sie zum Vorbild genommen habe. Ob die Aufzüge des Hauses schon einmal ausgefallen seien, verlangte ich unlängst zu wissen. Nicht, wenn sie selbst im Dienst gewesen sei, antwortete Mrs. Wilkerson. Ich fragte weiter fort, ob es denn gestattet sei, durch das Treppenhaus aufwärts zusteigen, um die Zeit eines Fußweges himmelwärts zu messen. Und als ich mich umdrehte, als ich in Richtung der Tür spazierte, auf die sie gedeutet hatte, wieder diese lachende, fürsorgliche Stimme: Honey, your bag is open! — stop
manhattan — bellevue hospital
alpha : 14.15 — Auf einer Bank im Schatten kühlender Bäume gleich neben dem Bellevue Hospital sitzt ein alter Mann in einem blau und weiß gestreiften Pyjama. Er versucht eine Mineralwasserflasche zu öffnen, schimpft vor sich hin in dieser schweren Arbeit, sagt, dass das doch nicht möglich sei, warum sich das verdammte Ding nicht öffnen ließe, er habe die Flasche vor einer Stunde noch selbst zugedreht. Ein graues Eichhörnchen hockt auf mächtigen Hinterbeinen neben ihm, beobachtet die Hände des alten Mannes, bleibt auch dann ganz still, als ich mich nähere und meine Hilfe anbiete. — Ein angenehmer Nachmittag, die Luft ist etwas kühler geworden und trocken, ein leichter Wind raschelt in den Bäumen, die so alt zu sein scheinen, dass der Schriftsteller Malcolm Lowry sich an ihren Stämmen festgehalten haben könnte, damals, im Jahr 1936, als er schwer alkoholsüchtig in enger werdenden Kreisen auf das Krankenhaus zustürzte, um in einem Tage währenden Delirium, Wale über den East River fliegen zu sehen. Der Dichter, der Trinker auf hoher See. Bellevue war in Lowry’s Kopf zu einem Schiff geworden, dessen Planken unter ihm ächzten, in den Stürmen, die sein armes Gehirn durchleben musste, in Fieberschüben, unter den schwitzenden Händen der Matrosenärzte, die ihn an sein Bett fesselten. Und wie er dann selbst, oder jene Figur, die Malcolm Lowry in seiner großartigen Erzählung Lunar Caustic gegen das Alkoholungetüm antreten lässt, nach Wochen der Abstinenz aufrecht und leichtfüßig gehend durch den Haupteingang des Hospitals wieder festen Boden betritt, schon die nächste Flasche Absinth vor Augen hier am East River, an einem Tag wie diesem Tag vor langer, langer Zeit.
lichtbilder
tango : 22.55 — Prozession der Holzkohlewagen abends in der Dämmerung auf der Fifth Avenue südwärts. Fäden weißen Rauches, die sich den Luftbewegungen der Seitenstraßen beugen. Im Café, am Nebentisch, eine Frau, die gegen den Himmel fotografiert. Das künstliche Geräusch der Kamera im Moment der Aufnahme, ein wegwerfendes Geräusch, visieren, festhalten, vergessen. Wie viele Bilder sind genommen, ohne je betrachtet worden zu sein? — Zur Mittagszeit ein griechischer Mann auf dem Fährschiff nach Ellis Island. Scheue Blicke der Enkelkinder, die sein uraltes Gesicht betasten, während er schläft. Sie halten Windräder in Händen, die sich schnurrend drehen. Ihre Mutter, die Tochter, lehnt an der Reling. — stop
manhattanwelle
marimba : 22.16 — Dampfende Stadt. Dampf aus dem Boden, Dampf von den Wolken, Bäume dampfen, Menschen unter ihren Schirmen, selbst Eichhörnchen des Central Parks dampfen kleine Wolken aus dem Mund. Wie ich so gehe von Harlem aus nach Süden, von jedem Ticketschalter her eine schwarze Stimme von Jazz. Das ratternde Geräusch der Subway, rhythmisch, ihr warmer, öliger Atem, der dem Spazierenden unter den Regenschirm fährt. — Ein Mann zur Mittagsstunde nahe Madison Square Park mitten auf dem Broadway im tosenden Verkehr. Er trägt einen feinen, dunklen Anzug, aber grobe, staubige Schuhe. Immer wieder beugt er sich zur Straße hin, versenkt einen Zollstock in den Asphalt, telefoniert, die Arme, als sei ihm kalt, eng an den Körper gepresst. Der Mann scheint wütend zu sein. Er geht ein paar Schritte südwärts, vermisst ein weiteres Loch, Rauch steigt von dort, ein flatternder Faden. Als ob sich der Mann vergessen haben würde, nun zunächst in die Hocke, dann kniet er nieder, späht in den Schlund. — stop