india : 0.05 — Während Zugfahrt nach einer Textstelle in Pete L. Munkis Roman Nautilus gesucht, die ich vor einigen Tagen markiert hatte, um sie bei Gelegenheit noch einmal lesen zu können. Der Erzähler der Geschichte, ein junger Mann namens Zezito Lopes, ruhte im 10. Stock eines Hauses in der Lexington Avenue auf einer Treppenstufe. Früher Nachmittag. Ein schwerer Behälter von gepanzertem Glas, in dem sich zwei Molluskenfische der Gattung Nautilus befanden, stand neben dem wartenden Mann auf dem Boden. Ich erinnere mich, dass der junge Mann, er war ein gut trainierter Träger, sich kurz darauf erhob, um an einer der Wohnungstüren, die auf den Flur führten, zu klingeln und nach einem Glas Wasser zu fragen. Unverzüglich wurde geöffnet, ein Gespräch entwickelte sich, in dessen Folge Zezito Lopes sich bückte, seinen gepanzerten Behälter in die Hände nahm und mit ihm in der Wohnung verschwand. So weit, so gut. Als ich nun aber das Buch im Zug öffnete, konnte ich die markierte Textstelle nicht finden. Sofort der Gedanke, ich hätte möglicherweise fantasiert, eine beunruhigende Vorstellung. Nicht minder beunruhigend scheint mir in diesem Moment der Gedanke zu sein, das Buch selbst könnte sich verändert haben, weiter- oder umgeschrieben worden sein, obwohl sich das Buch, auch nachts, immer in meiner Nähe aufgehalten hatte. Eine Nacht leichter Verwirrung. Das Beste ist, einfach weiterzumachen. — stop
Aus der Wörtersammlung: frage
von den glücksgeräuschen der froschvögel
ulysses : 4.18 — Früher Morgen. Windstille. Licht noch schwach. Die Luft ist kühl geworden über die Nacht. Vor dem Teich im Garten die Spuren meiner Füße im Gras. Am Ufer des kleinen Sees ruht ein Molch, äußerst langsam geht sein Herzschlag, da muss doch ein Geräusch zu hören sein. Ich erinnere mich, gestern wurde die Entdeckung eines neuen Teilchens im Atom bekannt gegeben. Das Teilchen trägt den Namen: Xi_b^0. Hätte ich von seiner Entdeckung nicht gelesen, wäre ich in der Beobachtung meiner Hand, die auf meinem Knie ruht, nicht so aufmerksam wie an diesem frühen Morgen. Ich frage mich, wie viele Teilchen der Bezeichnung Xi_b^0 sich in meiner halbschlafenden Hand wohl befinden mögen, wie alt sie sind und woher sie vielleicht gekommen waren. Es ist still am Morgen heute. Die Amseln schlafen noch. Ein Wasserläufer überquert den Teich. In diesem Moment bemerke ich ein ballonartiges Wesen, das hoch über mir am Himmel schwebt. Es nähert sich langsam, in dem es tiefer kommt. Das Wesen ist hell, es ist weiß, es verfügt über Flügel, die sich sehr schnell bewegen, Fühleraugen, wie die Augen der Lungenschnecken, es ist ein Vogel. Der Vogel scheint den See unter ihm aufmerksam zu betrachten. Jetzt öffnet sich sein Bauch an erdnaher Stelle, ein Mund spitzt seine fahlrosa Lippen, Beutel fallen heraus aus diesem Mund, sie schlagen hohe Wellen im Teich. Der Molch verschwindet im Gras, Wasserläufer, die bewegungslos an Seerosenblattspitzen dämmerten, flitzen auf und davon. Jene Beutelchen, das kann ich von meiner Position aus gut erkennen, die aus dem Vogel herausgefallen sind, haben sich geöffnet, Kaulquappen, tausende, schwärmen nach allen Richtungen aus. Noch immer schwebt der Vogel über mir über dem See über der Wiese. Ein faszinierendes Geräusch ist von seinem Körper her zu vernehmen, ein Hupen, das Trompetengeräusch eines Zwergelefanten. Es ist nun denkbar, dass ich als erster Mensch die Glücksgeräusche der Froschvögel wahrgenommen habe. — stop
für meine Mutter,
für meinen Vater
windrad
bamako : 8.05 — Auf meiner letzten Ruhestätte könnt einmal ein Windrad stehen. Das Rad würde, in dem es sich drehte, Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräftige Winde ausreichende Mengen von Strom gesammelt sein werden, würde sich ein Musikabspielgerät in Bewegung setzen, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine reizende Vorstellung. Ob man vom Musikgeräusch etwas vernehmen könnte an der Erdoberfläche? Wie würden Eichhörnchen reagieren? Ob sie sich vielleicht um die Musik, die aus dem Boden kommt, versammeln werden? All diese Fragen. — stop
die stimme meines Vaters
ulysses : 22.18 — Im Sommer des Jahres 2007, während ich gerade an meiner Birdymaschine arbeitete, telefonierte ich mit meinem Vater. Es war eine warme Zeit gewesen, die Fenster im weit entfernten Arbeitszimmer standen offen. Ich hörte über eine Telefonleitung, die vermutlich durch den Weltraum führte, Vögel im Garten pfeifen. Und da war noch etwas anderes, da waren Funkgeräusche und der Gesang der Wale und ein Raspeln, das Stimmgeräusch Birdys. Ich erinnere mich, mein Vater beobachtete in jenem Sommer Birdy täglich stundenlang vor seinem Computer sitzend. Sobald er einen Fehler bemerkte, meldete er den Fehler unverzüglich an mich weiter. Er nahm in dieser zeitlichen Nähe Instrumente der kleinen Erzählmaschine wahr, die ich gerade erst in Betrieb genommen hatte. Von jeder Entdeckung berichtete er in einer Weise, als ob er der erste Mensch gewesen sei, der sie zu Gesicht bekommen hatte, aufgeregt, kommentierend, fragend. Ein sanfter Gedanke an einem Tag, da ich seit wenigen Stunden weiß, dass ich die Stimme meines Vaters nie wieder hören werde. — stop
ein alter mann
romeo : 0.32 — Ich erinnere mich, vor einem Jahr, an einem Sommerabend, saß mein Vater auf einem Stuhl in seinem Garten. Vor ihm stand ein kleiner Tisch und auf diesem Tisch eine Flasche Wasser mit einem Drehverschluss. Ich glaubte, dass mein Vater mich nicht bemerkte. Er schien mit der Flasche zu sprechen. Er beugte sich vor, hielt die Flasche mit der einen Hand fest, während er mit der anderen Hand an ihrem Verschluss drehte. Aber die Flasche war nicht leicht festzuhalten gewesen, vermutlich deshalb, weil sich die Feuchte der Luft auf ihr niedergeschlagen hatte. Also lehnte sich mein Vater wieder auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich nehme an, er wird eingeschlafen sein. Als er wieder erwachte, war ich noch immer da und auch die Flasche stand noch auf dem Tisch. Mein Vater beugte sich vor, nahm die Flasche und drehte an ihrem Verschluss. Erneut schien er sich mit der Flasche zu unterhalten, ohne aber die richtigen Worte zu finden, weil die Flasche sich noch immer dagegen wehrte, geöffnet zu werden. Also lehnte sich mein Vater erneut zurück, er schüttelte den Kopf. In diesem Moment schwebte eine Libelle über den Tisch. Sie betrachtete meinen Vater, setzte sich auf den Verschluss der Flasche und faltete ihre Flügel. Ein Moment der Stille, des Friedens. Ein paar Zikaden waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wieder eingeschlafen, es wurde dunkel und die Libelle verschwand. Als er erwachte, saß ich vor ihm. Ich hatte die Flasche für ihn geöffnet und ein Glas mit Wasser gefüllt. Mein Vater erzählte, dass er sich gewundert habe, warum er die Flasche nicht öffnen konnte, er habe sie doch selbst zugedreht. — stop
steinuhren
delta : 0.01 — Wieder die Fragen: Existieren steinerne Uhrwerke, die aufziehbar sind? Welche Gesteine präzise würden als Uhrwerkfedern dienen? Wie schwer oder leicht würden steinerne Uhrwerke sein? Wären diese Uhren tragbare Uhren? Wären sie genau? Könnte ein Mensch sie mit der Kraft seines Körpers bewegen? — stop
PRÄPARIERSAAL — ich sage immer: es geht mir gut.
ginkgo : 3.05 — Ich erinnere mich an Olga, die sich kaum bewegte, während sie von ihren Eindrücken des Präpariersaales berichtete. Die junge Frau schien während unseres Gespräches jederzeit auf ihren Körper zu achten, eine Tänzerin, die in einer vorgenommenen Position geduldig und diszipliniert eine Stunde lang zur Übung verharrt, nur ihre Hände bewegten sich unentwegt wie kleine Vögel über den Tisch, weil sie ihre Gedanken mit Zeichnungen auf Servietten unterstütze. Ihre warme, weiche Stimme, die in dieser Nachtminute vom Tonbandgerät aus mit leichtem Akzent zu mir spricht: > Ich mache das so. Ich stelle mir Bezugspunkte vor. Wo also beginnt eine Struktur und wo endet sie, ein Muskel zum Beispiel. Und dann denke ich mir einen Nerv und frage, wo setzt dieser Nerv eigentlich an? / Als ich am ersten Tag in die Anatomie kam, habe ich mich zunächst gewundert, weil ich ein modernes Gebäude erwartet hatte, einen Raum, der kalt ist. Außerdem war ich überrascht, eine so genaue Präparieranleitung zu bekommen. Nach zwei oder drei Wochen habe ich am Fuß präpariert. Plötzlich der Gedanke, dass diese Füße einen Menschen ein Leben lang getragen haben. Da musste ich weinen. Wenn ich in diesen Tagen nach Hause komme, sehe ich meine Mutter, die in der Küche steht. Sie fragt, wie es mir geht. Ich sage immer: Es geht mir gut. Wenn ich mit Freunden spreche, mache ich oft einmal einen Spaß. Ich erzähle nicht alles, weil ich doch Respekt habe vor den Toten dort. Alles zu erzählen, wäre fast zu intim. Wenn meine Freunde bemerken, dass das dort eigentlich eher ein wissenschaftlicher Raum ist, verlieren sie sofort ihr Interesse. / Da war also eine Hand. Diese Hand war am Gelenk abknickt, sie wurde nur noch von etwas Haut und Sehnen und Gefäßen am Körper gehalten, weil ein Knochen entfernt worden war. Dieser Anblick, ein Bild der Verheerung, hat mir schmerzlich zugesetzt. — stop
zikaden
alpha : 0.50 – Einem Menschen vorzulesen, von dem ich nicht weiß, ob er mir zuhören kann, ob er vielleicht schläft oder beides. Ja, eine solche Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht von Zeit zu Zeit, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinen Atem. Manchmal ging ich spazieren in der Wohnung oder in den Garten. Es war August, eine Handvoll Zikaden musizierte, schwüle, süße Luft. Dann wieder am Bett. Mit Mühe die Augen offengehalten. In der Küche Kaffee gemacht. Nach Atem gelauscht. Das Buch geöffnet und weitergelesen. Stimme, manchmal fragende Stimme: Hörst du mich, hörst Du mir zu? Soll ich weiterlesen? Also lese ich weiter, ich lese Ágota Kristóf, ich lese davon, wie man Schriftsteller wird. Zuallererst muss man natürlich schreiben. Dann muss man weiterschreiben. Selbst wenn es niemanden interessiert. Selbst wenn man das Gefühl hat, dass es niemals jemanden interessieren wird. Selbst wenn die Manuskripte sich in den Schubladen stapeln und man sie vergisst, während man neue schreibt./ Am Anfang gab es nur eine einzige Sprache. Die Objekte, die Dinge, die Gefühle, die Farben, die Träume, die Briefe, die Bücher, die Zeitungen waren diese Sprache. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine andere Sprache geben könnte, dass ein Mensch ein Wort sprechen könnte, das ich nicht verstehe. — Ja, es war Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinem Atem zu. — stop
doppelherzprozessor
echo : 1.16 – Wieder einmal die Frage, werden Menschen, sobald sie über Schreibmaschinen mit Doppelherzprozessoren verfügen, in ihren Bewegungen, in ihren Erwartungen schneller? — stop
seltsame geschichte
india : 5.56 — Seit einigen Tagen ereignen sich in oder in der Umgebung meiner Schreibmaschine kuriose Dinge. Es geht darum, dass ein Text, den ich am Montag notierte, sich immer dann, wenn ich schlafe, verändert, und zwar zu seinem Nachteil. Fehlerhafte Wörter, die ich bereits korrigierte, kehren wieder oder ich entdecke vollständig neuartige Missbildungen, verdrehte Buchstaben, Worterfindungen, Punkte oder Kommata verschwinden, aus der Farbe ROT wird die Farbe BLAU, aus Schnee wird Regen, aus Kindern werden Greise. Es ist eine eigenartige Situation, ich gestehe, ich beginne mich zu fürchten. Selbstverständlich habe ich mir die Frage gestellt, ob sich vielleicht ein weiterer Mensch, den ich bislang nicht entdeckte, in meiner Wohnung befindet, oder ob ich vielleicht selbst schlafwandelnd mich an meine Schreibmaschine setze. In diesem Zusammenhang könnte die unheimlichste Aussicht der Gedanke sein, dass meine Schreibmaschine selbst oder gar der Text machen, was sie wollen. Von außen jedenfalls ist ihm nicht anzusehen, ob irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sein könnte. Zur Prüfung, der Text beginnt so: Der Rasen in Zyp’s Garten war ein Teppich von Moos, auf dem immer irgendetwas blühte. Selbst in den kalten Monaten des Winters, wenn es schneite, wenn das Eis an die Küste schindelte, glaubte Zyp Wesley, die Geräusche des Wachsens und Vergehens zu hören aus dem unsichtbaren Raum unter dem Weiß. Er verfügte über ein hervorragendes Gehör, obwohl er seit Jahren Posaune spielte, wohnte deshalb etwas abseits. Das nächste Haus, indem eine Familie mit Kindern siedelte, war etwa zweihundert Meter weit entfernt, hinter einer Anhöhe passierten die Geleise der Staten Island Rail seine Gegend. Man konnte von dort das Scheppern der Subwayzüge leise hören bei Tag und bei Nacht. – stop