ulysses : 7.
32 — Madison Avenue am frühen Morgen von Süd nach Nord. Tausende Tagpassanten nähern sich und verschwinden. Heftige Winde. Blüten, Blätter, Töne wirbeln in Spiralen durch die frische Luft. Frauen halten ihre Röcke, Männer ihre Hüte fest. Berauschende Glücksgefühle. Werde ich größer oder werde ich kleiner? Irgendetwas scheppert leise im Kopf von Schritt zu Schritt. Fliegenleichtgewichte, transparente Hummergestalten, spazieren seitwärts über den Bildschirm meiner Handschreibmaschine dahin, gebeutelte, zausige Herzen. Wo waren sie in der vergangenen Nacht gewesen? Indem ich eines der Geschöpfe auf der Schulter mit mir trage, der Gedanke, dass sich beinahe alle Menschen dieser großen Stadt nicht persönlich kennen. — stop

Aus der Wörtersammlung: frau
linie d – nordwestwärts
echo : 15. 02 — Von Brooklyn nach Manhattan Subwayfahrt, eine alte Dame vis–à–vis. Seit einer halben Stunde reisen wir so dahin, ich schreibe, sie scheint zu schlafen. Ein kariertes Hüttchen trägt sie auf dem Kopf und einen Seidenschal um einen grazilen Hals gewickelt. Ihr dunkelhäutiges Gesicht, zart gefaltet. Von Zeit zu Zeit öffnet sie für eine oder zwei Sekunden eines ihrer Augen und berührt mich mit einem festen Blick. Ich würde gerne wissen, ob sie mich wirklich sieht. Gleich werden wir die 33. Straße erreichen. Ich stelle mir vor, wie die alte Frau weiterfahren wird, um kurz darauf erneut eines ihrer Augen zu öffnen. Ich werde dann nicht mehr da sein, ein anderer Mensch wird an meiner Stelle sitzen, vielleicht wird auch dieser Mensch bald eingeschlafen sein, und gerade in dem Moment, da die alte Dame ihr Auge öffnet, eine ebensolches, wachsames Auge geöffnet haben. — stop
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holly — juli 26
ginkgo : 1.18 — Ein Herr, wie geträumt, sitzt auf einem Klappstuhl nahe der Busstation Port Authority in einem Subwaytunnel. Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Mann vollzieht auf einer Hammondorgel Ohrenwurmmelodien ohne Pause. Weißes Haar, gelblich schimmernd, grauer Anzug, blaues Hemd. Dürr springen seine Hände über die Tastatur, auf dem spiegelnden Rücken des Instrumentes tanzt eine elektrische Jazzfigur im schwarzen Anzug. Die kleine Personenmaschine scheint defekt zu sein, hält immer wieder einmal an, bebt ein wenig nach, federt, fordert einen weckenden Stoß unverzüglich. Unweit, auf dem Boden, eine weitere Puppe, rotes Haar, lebensnah, durchblutet, ein Bonsaimädchen, dem zwei Finger der rechten Hand verloren sind. Geschmeidige Bewegungen der hellen Arme in jede Himmelsrichtung, grazil, leicht und rhythmisch, als verfügte sie über wirkliche Ohren ihres hochbetagten Freundes, dessen Kopf von wandernden Wirbelknochen tief über die Tastatur gezwungen wird. Jede Bewegung, jeder Blick in den Raum, scheint aufs Äußerste schmerzhaft zu sein. Für Sekunden sind Augen eines jungen Menschen zu sehen, seltsam helle Augen. Eine elegant gekleidete Frau kniet vor dem Klappstuhl auf dem Boden. Sie betrachtet den alten Mann von unten her, sie lacht, sie spricht. — stop
miniatur — world trade center
olimambo : 0.02 — Ein Frauenwesen spätabends in der Subway Linie 1 südwärts. Vollständig in Weiß gekleidet, blau geschminkter Mund, hochgewachsene, schmale Statur, faltenlose Stirn, die bis hin an die Decke des Zuges reicht. Leicht gebeugt verharrt sie von Taschen umgeben neben einer Tür in der eisigen Luft, ernstes Gesicht, verschenkt Zettel, auf welchen je nur ein Wort, das Wort LOVE, handschriftlich verzeichnet ist. Ihre heisere Stimme, die Lautsprecheransagen wiederholt. stop. Echoes. stop. Ladies and Gentlemen! Please stay clear of the closing doors. This is a local A‑Train. — stop
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spieldose
tango : 0.03 — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe einem Krankenhaus. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig, die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wüsste, wann das alles wiederkommt, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte, und warum. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. Gestern in einer besonderen Weise von dem erschütternden, hoffnungsfrohen Film Helen in die Tiefe erzählt. — Top five der schlechtesten, gut gemeinten Ratschläge von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben: Fahr in die Ferien, lies ein Buch, lass Dir die Haare schneiden, renovier Deine Wohnung, lerne Joga. — stop

andrea faciu — touching the city
hibiskus : 18.02 — Fangen wir noch einmal von vorn an. Wie das ist, eine Stadt zu berühren, touching the city. Die Hand einer Frau, gefilmt von einer Kamera, die sich in einer weiteren Hand, der zweiten Hand derselben Frau befindet, streicht über Häuserwände, Klingelknöpfe, Briefkästen, Namensschilder. Filmpartikel, in einen verdunkelten Raum getragen, wo sie sich wiederholen, verwinkelt zu zarten, bebenden Geräuschen des Lichts. — In Florenz, an einem herbstlichen Abend, erzählt die Künstlerin Andrea Faciu derart spannend von ihrer Arbeit, dass ich einen Tag später meine eigenen Hände beobachte, indem sie die Stadt Florenz berühren. Diese Hände nun tasteten in New York nach der silbernen Haut eines Subway-Waggons, Gesten der Begrüßung vielleicht. Da war eine mühevoll gehende Frau gewesen, ich erinnere mich, eine Indianerin unter einem Poncho, gebeugt von der Last einer Christusfigur, die sie durch einen Tunnel nahe dem Times Square schleppte. Ihre murmelnd betende Stimme. Christus blinkte. — stop
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marina abramovic in new york
sierra : 6.32 — Diese seltsame Frau: Marina Abramović. Ich kauerte Stunden auf dem Sofa und beobachtete das Schweigen der Künstlerin in New York, war unruhig und war ruhig zur gleichen Zeit. Hörte dann Henry, meinen Regenkäfer Henry. Summend erwachte das tabakfarbene Wesen aus tiefem Schlaf. Hatte zwei lange Jahre auf Virginia Woolfs Essay A Room of One’s Own liegend zugebracht, war indessen trocken und leicht wie eine Feder geworden, weshalb nicht weiter erstaunlich gewesen, dass der Käfer wie betrunken von unsichtbaren Luftströmungen getragen durchs Arbeitszimmer wirbelte. Eine gute halbe Stunde und Henry war auf meinem Kopf gelandet. Ich sagte: Schön, dass Du wieder unter den Lebenden weilst, Henry! Atmete sanft, atmete gar nicht. Und der Blick wanderte wieder hin zur Stille in der tosenden Stadt. Da saß nun vor Mrs. Abramović eine weitere Frau, sie hatte ihre Schuhe ausgezogen [ warum? ] und Schreibwerkzeug und Hefte unter ihrem Stuhl abgelegt. Über ihrer Beobachtung bin ich eingeschlafen, und jetzt hellt bereits die Nacht, und irgendwie ist das ein wunderbarer Tag, der gleich beginnen wird. Henry, er schwebt im Bad im Regen der Maschinen, eine fliegende Frucht. Guten Morgen! — stop

standardminute
delta : 6.05 — Wie ich abends im Warenhaus eine moderne Standardminute erlebte, das will ich rasch noch berichten, eh mir die Augen zufallen, müde vom Wundern. Eine ganze Minute also. In dieser Minute, an ihrem Anfang genauer, befindet sich eine Kassiererin mittleren Alters, unruhig sind Augen und Mund, und ihre flatternden Hände, Werkzeuge, die Waren über Lichttaster ziehen. Eine alte Dame ist da noch, eine Dame mit Hut, die sich sehr langsam bewegt, ein wahres Reptil, würdevoll, bedächtig. Ein wenig zerstreut scheint sie zu sein, hebt immer wieder den Blick, beobachtet scheu die Bewegung des Bandes, die Reise ihrer persönlichen Ware: eine Schachtel Pralinen, ein Fläschchen Jägermeister, Salzstangen, drei Dosen Katzenfutter, ein duzend Schokoladenostereier in Grün, in Gelb, in Rot, und ein weiteres Fläschchen noch hinterher. Das alles muss jetzt in die Tasche, sofort, und doch ist es schon zu spät. Zwei Aprikosensafttüten schieben sich, einem Eisbrecher ähnlich, in den wartenden Bezirk der alten Frau hinein, falten Eier, Salzstangen und andere Warenteile steil zur Seite. Man kann jetzt hören, wie das klingt, wenn eine Dame höflich um Geduld bittet, um Nachsicht, eine freundliche, eine herzerwärmende Stimme, und das Geräusch einer Flasche, die zu Boden fällt. Wie sich die alte Dame nun aufrichtet, wie ihre hellen Augen meine Hände beobachten, die versuchen, weiteres Unglück abzuwenden. Ungläubig schaut sie mich an, dann das Förderband entlang, das weitere Waren voran transportiert. Ja, bald stehen wir und staunen zu zweit, und auch die Verkäuferin ist zur mitfühlenden Beobachterin geworden. Sie lurt zum Warenstrom hin, der über die Kante der Rollbandtheke in die Tiefe stürzt. Ihre Hände, diese seltsamen Hände, sie arbeiten weiter und weiter, schieben und schieben, als führten sie ein eigenes Leben oder gehörten schon der Maschine mit ihrem Rotlichtaugengehirn. stop. Minute zu Ende. stop. Guten Morgen. — stop

vom verschwinden
delta : 0.15 — Einmal, an einem Spätsommernachmittag, erzählte mir eine ältere Frau von einer seltsamen Erfahrung, die sie gemacht hatte, nachdem ihre Schwester unerwartet gestorben war. Zwei Jahre lag dieser schwere Verlust damals zurück. Die Schwester hatte sich kurz nach ihrem Tod, auf eigenen Wunsch hin, in ein anatomisches Präparat verwandelt. Ich erinnere mich an den wilden Blick der Frau, an ihre zierliche Gestalt, wie sie vor mir steht und vom Trauern und vom Warten berichtet, das heißt, genauer, davon berichtet, dass sie um ihre Schwester bisher nicht trauern konnte, so wie sie sich das Trauern gewünscht hatte, weil der Körper ihrer Schwester gegenwärtig, noch in dieser Welt gewesen sei. Manchmal habe sie daran gedacht, ihre geliebte Schwester zu besuchen, sie noch einmal zu berühren. Wir standen vor einer Kirche. Um uns herum fröhliche, von Last und Anforderung befreite Studenten. Sie hatten ihren anatomischen Präparierkurs an diesem Tag abgeschlossen, und den Menschen, die ihre Körper spendeten, betend gedankt. Auch die alte Frau schien nun leichter geworden zu sein, entschlossen. — Wie sie sagt, sie könne ihre Schwester jetzt endlich beerdigen. — Und wie sie kurz darauf durch die Menge junger Menschen verschwindet, ein Wölkchen schlohweißen Haares. — stop

fotografieren
echo : 0.52 — Dieses kleine Stück hier, zur Vollmondnacht, handelt von einer Frau, die mir vor wenigen Stunden nach langer Zeit der Abwesenheit wieder begegnet ist, weil ich den silbergrauen Mond am wolkenlosen Abendhimmel bemerkt hatte, und aus diesem heiteren Luftraum heraus, war sie dann plötzlich zu mir hereingefallen, selbst ihre Stimme, eine außerordentlich leise Stimme, ist nun so gegenwärtig als wäre kaum Zeit vergangen seit unserer Unterhaltung im Präpariersaal der Münchener Anatomie. Ich hätte sie damals beinahe übersehen, eine kleine Gestalt, die präparierend auf einem Schemel kniete und merkwürdige Bewegungen mit den Augen machte. Sie betrachtete den Körper vor sich auf dem Tisch mit einem ruhigen, mit einem festen Blick für je einige Sekunden, dann schloss sie die Augen für etwa dieselbe Zeit, die sie geöffnet gewesen waren, und so wiederholte sich das Stunde um Stunde. Einmal setzte ich mich neben sie an den Tisch und erzählte, dass ich ihre Augen, ihren Blick beobachtet haben würde und den Eindruck gewonnen, sie mache Bewegungen mit ihren Augen, die der Linsenbewegung eines Fotoapparates ähnlich seien. Richtig, antwortete die Frau, ich schließe meine Augen und schaue mir im Dunkeln an, was ich gespeichert habe. — Eine seltsame Stimme. Sehr hell. Und scheu. Ein Zittern. Wie durch einen Kamm geblasen. — stop




