Aus der Wörtersammlung: geschwindigkeit

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im pullmanwagon

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jul­liet : 17.03 — Traum von einem Fern­rei­se­wa­gon für Schwär­me sehr klei­ner Engel­per­so­nen. Die­ser Fern­rei­se­wa­gon war ein Pull­man­wa­gen gewe­sen, him­mel­blau. Sit­ze, Bän­ke, Kof­fer­ab­la­gen waren voll­stän­dig ent­fernt, an den Wän­den Pfeil­zei­chen, die die Fahr­rich­tung des Zuges defi­nier­ten. Der Wagen fuhr lang­sam dahin. Klei­ne­re, sehr fest gewirk­te Dampf­wol­ken flo­gen im Wagon genau in Rei­se­ge­schwin­dig­keit vor­an, so dass ich sie betrach­ten konn­te aus nächs­ter Nähe. Auch die Engel flo­gen prä­zi­se in der Geschwin­dig­keit des Zuges. Es waren eini­ge Hun­dert Engel in der Grö­ße von Koli­bris. Ich glau­be, sie führ­ten Gesprä­che, wäh­rend sie so flo­gen mit ruhi­gen gleich­mä­ßi­gen Bewe­gun­gen ihrer Flü­gel wie Schwä­ne. Ein Rau­schen, sehr hell, war in der Luft. Man­che der klei­nen Wesen tru­gen Flie­ger­müt­zen. Ein­mal fiel Regen aus den Wol­ken im Zug. — stop

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MLR X‑867

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nord­pol : 3.55 — Fol­gen­dem Mol­lus­ken­we­sen gilt nacht­wärts mei­ne Auf­merk­sam­keit: MLR X‑867, 10 cm in der Län­ge, 1 cm in der Höhe, 2 cm in der Brei­te, sam­tig schwar­zer Kör­per, 30 Gramm schwer, hohl und höchst beweg­lich. Die­ses Schne­cken­we­sen lebt vor­nehm­lich im Was­ser, wes­we­gen es über Kie­men gebie­tet, wan­dert dort lang­sam auf Lamel­len­bei­nen über den Boden hin oder fel­si­ge Wän­de auf und abwärts. Aber auch in Gefan­gen­schaft über­lebt es ger­ne, solan­ge man blut­war­me Flie­gen­lar­ven füt­tert, die groß­zü­gig über die Ober­flä­che des Mol­lus­ken­ge­wäs­sers zu ver­tei­len sind. Es ist viel­leicht so, dass in ste­ti­ger Erwar­tung, das klei­ne Tier in genau jenem Moment, da es der beben­den Lar­ven­kör­per ansich­tig gewor­den ist, Hoch­ge­schwin­dig­keits­zun­gen in Rich­tung sei­ner Beu­te schi­cken wird, Zun­gen, die einem schma­len Rücken ent­kom­men, dort reiht sich ein Mund an den nächs­ten, es sind sie­ben ins­ge­samt, die geschlos­sen voll­stän­dig unsicht­bar blei­ben. Nun wäre das noch nichts Beson­de­res, wenn es sich bei die­sem Wesen, nicht um eine Per­sön­lich­keit von her­vor­ra­gen­der Musi­ka­li­tät han­deln wür­de, man leuch­tet näm­lich in jeder erdenk­li­chen Far­be, sobald man Geräu­sche, noch die lei­ses­ten hört. Das Schwarz­sein bedeu­tet also Stil­le. Art und Posi­ti­on der Schne­cken­oh­ren sind zu die­sem Zeit­punkt, 3 Uhr 28 Minu­ten, noch nicht bekannt. — stop
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winterkrieg in tibet

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alpha : 2.58 — Ich weiß nicht genau wie wir dar­auf gekom­men sind, vom Inne­ren der Ber­ge zu berich­ten. Irgend­wann kurz vor Mit­ter­nacht haben wir den ers­ten Faden gelegt im Gespräch. Ein marok­ka­ni­scher Freund erzähl­te von sei­ner Groß­mutter eine Geschich­te, die geheim blei­ben muss. Uralt war sie gewor­den, so alt, dass nie­mand sagen kann wie alt genau. Drei Krie­ge hat­te sie mit­er­lebt, Elend, Unter­drü­ckung in einer klei­nen Stadt am Mit­tel­meer. Von dort waren wir auf Mr. Assad gekom­men, ich hör­te von Stra­fen, die mein jun­ger Freund for­mu­lier­te für die­sen mör­de­ri­schen Mann, apo­ka­lyp­ti­sche Wün­sche, Höl­len­ker­ne, und von der Pro­phe­zei­ung eines ato­ma­ren Welt­krie­ges. An die­ser Stel­le mei­ne ich, eine Geschich­te Fried­rich Dür­ren­matts erwähnt zu haben, die vom Win­ter­krieg in Tibet han­delt, ein äußerst skur­ri­les Stück. Und weil ich mit dem Moment der Erfin­dung bereits Geschwin­dig­keit auf­ge­nom­men hat­te, setz­te ich hin­zu, dass in den Ber­gen um Salz­burg Höh­len exis­tie­ren sol­len, in wel­chen Höh­len­wie­sen und Höh­len­bäu­me wach­sen. Auch Vögel, sag­te ich, sei­en nach­ge­wie­sen, Blu­men, bläu­lich glim­men­de Bee­ren, Höh­len­hir­sche, Höh­len­ha­sen. Kaum zwei Minu­ten spä­ter exis­tier­te eine wei­te­re Höh­le nahe Agmat im Atlas­ge­bir­ge. Man darf sich nun vor­stel­len, welch wun­der­ba­re Dun­kel­viel­falt dort anzu­tref­fen sein wird. Von wes­sen Atom­bom­ben haben wir gespro­chen? — stop

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fährschiff john f. kennedy : armzungen

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del­ta : 0.08 — Eine klei­ne Geschich­te habe ich rasch noch zu erzäh­len. Sie ver­fügt über kaum Hand­lung, eine Geschich­te, die sich im Grun­de Tag für Tag auf einem Fähr­schiff der Sta­ten Island Fäh­ren­flot­te wie­der­ho­len könn­te. Auf die­sem Schiff, das den Namen John F. Ken­ne­dys trägt, befin­det sich in der Mit­te des Bridge­decks hin­ter einem Tre­sen ein klei­nes Laden­ge­schäft, das der Ver­sor­gung der Rei­sen­den dient, ein Ort, der leuch­tet und blinkt, ein Ort, der nach Pop­corn duf­tet, nach Kaf­fee, nach gebra­te­nem Schin­ken und nach wei­te­ren Sub­stan­zen, die ich bis­lang nicht iden­ti­fi­zie­ren konn­te. Obst, Scho­ko­la­de, Coo­kies, Bon­bons, auch Stra­ßen­plä­ne Man­hat­tans, Feu­er­zeu­ge, Coca Cola, Zucker­was­ser in ver­schie­dens­ten Far­ben, Nüs­se, gerös­te­te Man­deln, was ich wäh­le, was ich wün­sche bekom­me ich von einem Mann aus­ge­hän­digt, der sei­ner Erschei­nung nach in Mexi­co oder Nica­ra­gua gebo­ren wor­den sein könn­te. Sein stoi­scher Aus­druck ist mir sofort auf­ge­fal­len, lan­ge Zeit habe ich ihn beob­ach­tet, die­ses Gesicht, das wirk­te, als wür­de es eine aus Tro­pen­holz geschnitz­te, eine auf das Sorg­fäl­tigs­te bemal­te Mas­ke tra­gen, dar­in Augen, dunk­le, schim­mern­de Knöp­fe. Die Stim­me des Man­nes, die sich dort irgend­wo befin­den muss, habe ich bis­her nie gehört. Und ich habe nie gese­hen, dass er sich von sei­nem Platz fort­be­weg­te, er steht senk­recht hin­ter sei­ner Ware, ein Monu­ment, das über sehr schnel­le, sehr lan­ge Arme ver­fügt, ja, es sind die Arme, das ein­zi­ge was sich an die­sem Mann bewegt sind sei­ne Arme, die­se Arme sind Hand­lung, sie sind eine Geschich­te, sie sind erstaun­lich, weil sie in der Geschwin­dig­keit der Cha­mä­le­on­zun­gen nach Waren grei­fen. Ein­mal habe ich einen der Foto­ap­pa­rat gekauft, die der Mann in sei­nem Sor­ti­ment für Tou­ris­ten bereit­hält. Der Appa­rat kos­te­te sechs Dol­lar und der Film 8 Dol­lar. Das ist ein wirk­lich alt­mo­di­scher Film, einer, den man, um sei­ne Bil­der betrach­ten zu kön­nen, ent­wi­ckeln muss. Ich habe den Mann nun mit genau die­sem Foto­ap­pa­rat foto­gra­fiert. Ich glau­be, der Mann freu­te sich über mei­ne Ges­te. Er schien unter der Mas­ke sei­nes Gesich­tes zu lächeln. Viel­leicht ahn­te er zu die­sem Zeit­punkt, dass ich ein­mal nach­se­hen wer­de, ob er lächel­te, ein Geschenk für die Zukunft. Ende der Geschich­te. — stop

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upper new york bay : elefanten

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nord­pol : 11.10 — Im Traum folg­te mir ein Mann stun­den­lang als wäre er mein eige­ner Schat­ten. Die­ser Schat­ten führ­te drei jun­ge Ele­fan­ten hin­ter sich her, damp­fen­de Geschöp­fe, die ohne Pau­se hup­ten. Das wäre für sich genom­men eine noch eher hei­te­re Geschich­te gewe­sen, wenn der Dampf der Ele­fan­ten nicht bedeu­tet haben wür­de, dass es sich um gebra­te­ne Ele­fan­ten­tie­re han­del­te, gekocht bis auf die Kno­chen. Tei­le ihrer Bäu­che waren bereits ver­lo­ren gegan­gen, auch von ihren Ohren waren kaum nen­nens­wer­te Res­te übrig gewe­sen. Ich dach­te mir noch, dass sie viel­leicht hup­ten, weil sie unter Schmer­zen lit­ten, da hat­te ich bereits einen Löf­fel in der Hand. – stop. Wäh­rend einer Fahrt mit der Sta­ten Island Fäh­re eine Frau, die mit sehr hoher Geschwin­dig­keit Pla­ton auf einem iPad las. Das wirk­te genau so, als wür­de sie den Text mit ihren Augen foto­gra­fie­ren. Nach wie vor auf der Suche nach einem Wort, das den Moment beschrei­ben könn­te, in dem Regen auf die Ober­flä­che des Mee­res trifft, nach einem Geräu­schwort für das Ver­schwin­den. — stop
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beobachtung

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del­ta : 16.38 — Wie sich die Flo­cken des Schnees in eigen­ar­ti­ger Wei­se beneh­men, sobald ich sie aus der Nähe betrach­te, je nach Dich­te, Tem­pe­ra­tu­ren der Luft, Wind­ver­hält­nis­sen, fal­len sie senk­recht mit höhe­rer Geschwin­dig­keit oder sehr lang­sam mit einer wie­gen­den, schau­keln­den Bewe­gung gegen den Erd­bo­den zu. Ich ver­mu­te, einer ein­zel­nen Flo­cke mit den Augen zu fol­gen, ist eine eben­so schwie­ri­ge Auf­ga­be, wie einen ein­zel­nen Fisch in einem Schwarm für Minu­ten im Blick zu behal­ten. Nie kann ich sicher sein, ob ich nicht viel­leicht bereits eine ande­re, eine ähn­li­che Schnee­flo­cke oder einen ande­ren, einen ähn­li­chen Fisch ins Auge fas­se. Der Sekun­den-schat­ten eines Lid­schlags. – stop

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16 33 45 78 minuten

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cho­mo­lung­ma : 8.56 — Neh­men wir ein­mal an, ich könn­te die Geschwin­dig­keit mei­nes Den­kens für die Dau­er eines Tages vor­aus bestim­men, etwa so, als wür­de ich die Dreh­ge­schwin­dig­keit einer Schall­plat­te durch das Umle­gen eines Hebels beschleu­ni­gen oder ver­lang­sa­men, wie wür­de ich in die­sem Moment ent­schei­den? Viel­leicht, dass ich etwas eili­ger als ges­tern noch durch den kom­men­den Tag den­ken soll­te? Oder wür­de ich sagen, mein Lie­ber, heu­te erle­ben wir ein­mal einen Tag sehr, sehr lang­sa­mer Gedan­ken? Wir den­ken einen Gedan­ken am Vor­mit­tag, und einen wei­te­ren Gedan­ken am Nach­mit­tag, und am Abend, wenn wir nicht doch schon zu müde gewor­den sein soll­ten, gön­nen wir uns noch eine sehr kur­ze, äußerst lang­sam vor­ge­tra­ge­ne Gedan­ken­ge­schich­te? Dann lang­sa­me Träu­me schla­fen. – Guten Morgen!

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papierlicht

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marim­ba : 14.08 — Die Beob­ach­tung, dass ein Gedan­ke, sobald ich ihn wahr­neh­men kann, immer bereits voll­stän­dig anwe­send ist. Nie ver­mag ich einen Gedan­ken zu betrach­ten, wie er lang­sam, nach und nach, Wort für Wort, Zei­chen für Zei­chen, erscheint. Es denkt sich, blitzt, sagen wir, nahe Licht­ge­schwin­dig­keit vor­wärts, die Wahr­neh­mung eines Gedan­kens, sein Echo, voll­zieht sich dage­gen zögernd, behut­sam, hörend, also mit­tels gehei­mer Ohren im Kopf. – Ob es mög­lich ist, die Zeit lang­sa­mer ver­ge­hen zu las­sen, indem ich mich zu ihr ver­hal­te, wie ein Domp­teur zu einem Löwen? Zei­chen für Zei­chen eine Geschich­te notie­ren, bis die­se Geschich­te zu Ende geschrie­ben sein wird im Jahr 2517 oder im Jahr 2518 viel­leicht. Nebel­son­ne. Papier­licht. — stop

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coleoptera rasura

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tan­go : 10.12 — Eine zier­li­che Frau von hohem Alter. Sie schob einen Roll­wa­gen vor sich her, auf dem zwei Kof­fer ruh­ten. Ele­gan­te Klei­dung, sand­far­ben, leich­te Som­mer­schu­he, links in der Hand eine Tasche von gel­bem Leder, der ein Kabel ent­kam, das ein paar Kopf­hö­rer und ein Mikro­phon mit einem Tele­fon ver­band. Das Tele­fon war nicht sicht­bar gewe­sen, aber die Frau sprach in das Mikro­phon, das sich in der Nähe ihres Mun­des befand, als wür­de sie tele­fo­nie­ren. Hin und wie­der blieb sie ste­hen, ihre wei­ßen Hän­de flat­tern dann in der Luft her­um, als woll­te sie zur Unter­stüt­zung ihrer Zun­ge mit Fin­gern arti­ku­lie­ren. Ich ver­such­te, sie anzu­spre­chen, zu grü­ßen, ihr nahe­zu­kom­men, um hören zu kön­nen, in wel­cher Spra­che sie kor­re­spon­dier­te. Ich sage Euch, sie flüs­ter­te unbe­kann­te Wör­ter. Ein­mal öff­ne­te sie einen ihrer Kof­fer. Sie gab mir ein Zei­chen, ich knie­te nie­der. In dem Kof­fer hock­ten Käfer in Fächern, zwei Käfer je in einem Fach. Ihre Kör­per waren von der Far­be und Zeich­nung der Bruyè­re­höl­zer gewe­sen, und sie brumm­ten, viel­leicht des­halb, weil an der Stel­le, da sich übli­cher­wei­se Käfer­zan­gen befin­den, knö­cher­ne Trom­meln in rasen­der Geschwin­dig­keit rotier­ten. Gegen vier­tel nach zwei Uhr erwacht. Wol­ken­lo­ser Him­mel, Ster­ne, eis­kal­te Luft nahe der Ber­ge über dem Dach. — stop

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time

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hibis­kus : 22.25 — Wenn ich mich sehr lang­sam bewe­ge, so lang­sam, sagen wir, wie mög­lich bewe­ge, ohne umzu­fal­len oder ein­zu­schla­fen, mei­ne ich, einer Per­son nach­spü­ren zu kön­nen, deren Leben auf 2800 Jah­re Zeit aus­ge­dehnt wor­den ist. Drei Pul­se pro Minu­te an einem Tag von 840 Stun­den Dau­er. Ich hör­te die Wet­ter­fra­ge ( Regen? ) eines Freun­des, der sich in jener ande­ren, in jener für Men­schen übli­chen Lebens­ge­schwin­dig­keit befin­det. Ich ant­wor­te­te 5 wei­te­re Minu­ten spä­ter in einem kaum noch wahr­nehm­ba­ren Geräusch. Wie nur unbe­scha­det eine Stra­ße über­que­ren? — stop