nordpol : 5.04 UTC — Denkbar wiederum, dass irgendwann einmal Warenhäuser existieren werden für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kopfes Zubehör. Auch Geschäfte für Nieren, Knochen, Sehnen, Haut und weitere Materialien eines menschlichen Körpers sind wahrscheinlich geworden. Man wird, sofern man über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, wesentliche anatomische Substanzen der eigenen Existenz in zentralen Magazinen voll ausgewachsen vorrätig halten, um in der Not ohne Verzögerung handeln zu können. Fernreisende führen dann Behälter mit sich, in welchen sich tiefgekühlte Lungen und Herzen befinden. Ein anatomischer Eisschatten könnte unsere Lebenszeit begleiten, solange man nicht in der Lage ist, eine komplette, eine durchblutete, willenlose Gestalt, eine Kopie der eigenen Person in nächster Nähe in Bereitschaft zu halten. Diese Person könnte über Reisepapiere verfügen, über persönliche Kleidung, über einen Schrankkoffer zum Schlafen, über einen Stuhl zum Sitzen, über etwas Personal, welches das doppelte Wesen füttern und baden und spazieren führen, wird im Garten. Jedes fünfte Jahr würde das Wesen erneuert werden. In den Papieren meines Schattens könnte folgende Signatur zu entdecken sein: Louis / XD5878682-NOE06 24.11.18~24.11.2023. − stop
Aus der Wörtersammlung: halt
zerzaust
zoulou : 12.28 UTC — L. erzähle vor langer Zeit, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein wenig wild ausgesehen haben, irgendwie zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — Das Radio erzählt von einer Reporterin der Besatzungsarmee, sie habe Menschen, welche vor Lastkraftwagen warteten, um Brot zu erhalten, geraten, dankbar zu sein. — stop
in den wolken spazieren
echo : 11.28 UTC — Das war schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spazierte. Sie trug Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünschte. Sie schien sich zu fürchten, ernst schaute sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtete sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kannte, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut waren, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegten scheinbar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Morgen, Wolken berührten den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch gestürzt war, einfach so, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, so ein Schlamassel. Hundert Meter weit war sie nun schon gelaufen, da entdeckte sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten konnte. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine, waren unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen musste. Für einen Moment blieb die alte Dame stehen. Es wurde ganz still. Sie beugte sich zur Klingel herab, und schon war ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach war das Geräusch zu hören gewesen. — Das Fernsehen erzählt, in der Stadt Mariupol war kein Radio zu vernehmen, gewesen in der Zeit der Blockade, nur das Radio der Propaganda von Osten her, und das Radio der menschlichen Stimmen in den Kellern und auf den Straßen. — stop
ein bein
himalaya : 10.52 UTC — Gestern Abend notierte ich auf einen Notizzettel: Das Bein einer Frau ruhte auf einem Dach. Heute Morgen fand ich diesen Zettel vor. Ich erinnerte mich, eine Fotografie wahrgenommen zu haben, die das Bein einer Frau auf dem Dach eines Hauses der Stadt Mariupol zeigte. Ich bemerkte, dass ich mich nicht gewundert hatte, das abtrennte Bein einer Frau auf einem Dach bemerkt zu haben. Das Bein trug noch einen Schuh am Fuß, einen Stiefel. Auch war ich mir nicht sicher gewesen, die Existenz dieser Fotografie über Nacht in meinem Gedächtnis zu behalten. Ich notierte auf dem Zettel eine Anweisung: Fotografie sichern! Seltsame Sache. — stop
bienengeschichte
lima : 18.12 UTC — Die folgende Geschichte ist natürlich eine erfundene Geschichte. Ich habe sie vor Jahren bereits schon einmal erfunden. Und wieder werde ich so tun, als wäre sie nicht erfunden. Am besten beginne ich in dieser eingeübten Weise: Seit zwei Wochen halte ich mich stundenlang unter freiem Himmel auf. Das ist deshalb so gekommen, weil ich eine Aufgabe übernommen habe, die mir nach wie vor sehr interessant zu sein scheint. Ich beobachte Bienen wie sie sich über eine Wiese fortbewegen. Deshalb liege oder knie ich oder laufe gebückt dahin, den Kopf dicht über dem Boden, was nicht immer ganz leicht ist, weil Bienen doch sehr schnelle Flieger sind. Jene Bienentiere, die ich beobachte, wohnen in nächster Nähe am Saum eines Waldes, dessen präzise Position ich nicht verraten darf. Sie tragen Nummern von 1 – 100 auf ihren Rücken, was für meine Arbeit sehr bedeutend ist, da ich Bienen, die ohne eine Nummer sind, niemals beachte. So lautet meine Instruktion, Bienen ohne Nummer ist nicht zu folgen, vielmehr ist solange Zeit am Rande der Wiese zu warten, bis eine Biene mit Kennzeichnung auf der Wiese erscheint. Ich trage eine Schirmmütze gegen die Blendwirkung der Sonne und eine Monokellupe, die vor meinem rechten Auge sitzt und mir einen präzisen Blick in die kleine Welt der Bienen in der Nähe des Bodens ermöglicht. Genaugenommen ist es meine vornehme Aufgabe, eine Biene, die ich einmal in den Blick genommen habe, solange wie möglich zu begleiten auf ihrem Flug von Blüte zu Blüte. Ich bin indessen nicht einmal stumm. Ich sage zum Beispiel: Hier spricht Louis. Es ist 15 Uhr und 12 Minuten. Ich folge Biene No. 58. Wir nähern uns einer Butterblumenblüte. Ja, das genau sage ich laut und deutlich. Ich spreche in ein Funkgerät, von dem ich weiß, dass mir in der Ferne im Seebad Brighton an der englischen Küste irgendjemand an einem anderen Funkgerät zuhört. Ich sage: Hier spricht Louis. Biene No 58: Landung Butterblume. OVER! Dann betrachte ich die Biene wie sie in der Blüte arbeitet und warte. Bald fliegt die Biene weiter und ich sage kurz darauf: Biene No 58: Landung Feuernelke. OVER! Ja, so mache ich das. Ich werde immer besser darin. Ich glaube, die Bienen mögen mich. Ich bin ihnen vertraut geworden. In einigen Tagen werde ich vielleicht etwas genauer erzählen, warum ich Bienen beobachte. — Das Radio erzählt von Menschen, die die russische Höllenmaschine der Stadt Mariupol überlebten. Manche würden nun in der Fremde lebend, Schlüssel ihrer verlassenen oder zerstörten Wohnungen in Taschen von Hosen und Mänteln und Kleidern mit sich führen. — stop
kapriole
tango : 6.15 UTC — Einmal erwachte ich, weil ich Schritte hörte, tanzende Füße in Tanzschuhen auf Parkett. Unmöglich, dachte ich, so etwas geht doch nicht. Ich machte Licht und hüpfte aus dem Bett. Wie ich so im geräumigen Hotelzimmer stand, bemerkte ich, die Geräusche der Schuhe kamen nicht von oben, sondern von unten her, weshalb ich eine Treppe abwärts vor verdächtiger Türe energisch klopfte, weshalb mir geöffnet wurde, weshalb ich unverzüglich in ein höchst seltsames Zimmer trat. Tisch und Stühle und Bett und weitere kommode Dinge befanden sich dort an der Decke. Ein Mann, sehr fein gekleidet, ein Tänzer im dunklen Anzug grüßte kopfüber zu mir herunter. Er sagte, angenehme Stimme: „Guten Morgen, mein Herr! Sie sind wohl Einer, der an der Decke zu gehen vermag.“ — Das Radio erzählt, ein kleiner Junge in der Stadt Mariupol habe mit eigenen Augen gesehen, wie eine ihm bekannte alte Dame in einem Hinterhof von einem Schrapnell in den Bauch getroffen wurde. Er habe, erzählt der kleine Junge, seine Hände vor seine Augen gehalten, es war aber zu spät gewesen. — stop
ein mann mit buch
nordpol : 16.05 UTC — In einer Filmdokumentation, die den Schriftsteller Jonathan Franzen fünf Tage lang während einer Lesereise begleitet, folgende berührende Szene, die sich im New Yorker Arbeitszimmer des Autors ereignet. Jonathan Franzen hält seine Schreibmaschine, ein preiswertes Dell – Notebook, vor das Objektiv der Kamera. Er deutet auf eine Stelle an der Rückseite des Gerätes, dort soll früher einmal ein Fortsatz, eine Erhebung zu sehen gewesen sein. Er habe diesen Fortsatz eigenhändig abgesägt. Es handelte sich um eine Buchse für einen Stecker. Man konnte dort das Internet einführen, also eine Verbindung herstellen zwischen der Schreibmaschine des Schriftstellers und der Welt tausender Computer da draußen irgendwo. Jonathan Franzen erklärt, er habe seinen Computer bearbeitet, um der Versuchung, sich mit dem Internet verbinden zu wollen, aus dem Weg zu gehen. Eine überzeugende Tat. Im Moment, da ich diese Szene beobachte, bemerke ich, dass die Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit auch in meinem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zerstreuung, Beliebigkeit erzeugen kann. Ich scheine in den Zeichen, Bildern, Filmen, die hereinkommen, flüssig zu werden. Dagegen angenehme Gefühle, wenn ich die abgeschlossene Welt eines Buches in Händen halte. — In Mariupol, so erzählt das Radio, soll ein alter Mann von einem Scharfschützen getötet worden sein, als er in einem Hinterhof in einem Buch lesend auf einer Bank saß. — stop
radarpuls
olimambo : 14.06 UTC — Stellte mir Menschen vor, die in einer Eiswelt leben. Uralte Menschen. Ihr Herz schlägt 1 Mal Tag für Tag. Bisweilen werden sie wach und denken und fühlen und unterhalten sich. — Wer an Wunder glaubt, vermag leichter zu schweigen. — Satz noch einmal überprüfen! — Das Radio erzählt, ein Kind habe einen eisernen Schmetterling, welcher am Wegesrand auf das Kind wartete, mit nach Hause gebracht. — stop
unsichtbare Koffer
himalaya : 0.03 UTC — Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte gewesen. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zur Zeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Eine Fotografie, ich erinnere mich, zeigt mich neben meinem sterbenden Vater. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervorgespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich wie Hände sich falten. Mutter irrte etwas später dann zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — Das Radio erzählt, Menschen würden, ehe sie nach Wochen des Beschusses Keller verliessen, gebetet haben. Im Keller lagen ihre Toten. — stop
nachtkäfer
lima : 2.28 UTC — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. 2 Uhr. Ich hatte beobachtet aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Das Radio erzählt, im Keller eines verschütteten Hauses der Stadt Mariupol würde seit zwei Tagen ein Transistorradio seltsame Geräusche machen, pfeifen, piepsen, vermutlich deshalb, weil der Strom zurückgekommen ist. — stop