ulysses : 1.58 — Wolkenloser Himmel. ‑8° Celsius. Ich trage heute zum ersten Mal Lawrence spazieren unter Mantel, Pullover, Hemd unmittelbar auf meiner Haut, ein Schlangenwesen mit einem kleinen Kopf, der in der Nähe meines Halses zu liegen gekommen ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal hervor, man muss sich das einmal vorstellen, Lawrence’s sandfarbenen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrockneten Speckstreifen füttere, während ich durch die knisternde Winterluft stelze. Ich kann Lawrence hören, er ist ein leiser, ein gemächlicher Fresser. Und die Wärme fühlen, wundervoll, die sein feinhäutiger Körper erzeugt, der mich fest umwickelt, meine Brust, meinen Bauch, meine Arme, meine Beine. Speck für sechs Stunden Wanderzeit habe ich in meine Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vormittags, um kurz vor vier Uhr nachmittags sollte ich zurückgekommen sein, dann sehen wir weiter. Sonntag ist geworden. Und so gehen wir an diesem Sonntag also spazieren, Lawrence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Avenue nordwärts und ein wenig durch den Central Park. Tausende heller Wölkchen steigen dort aus den Mündern tausender New Yorker Menschen. Höhe 67. Straße drehen wir wieder um, laufen zurück, folgen der 59. Straße westwärts, bis wir den East River erreichen, Roosevelt Island Tramstation. In der Seilbahn übergesetzt, einmal hin und sofort wieder zurück, Pingpong. In einem Baum, 61. Straße, lungerten Hunderte schlafender Tauben, als wären sie Blüten. — stop
Aus der Wörtersammlung: hören
new york — hurricane deck
tango : 22.28 — Von einer Sekunde zur anderen Sekunde. Als wär der Sonntag ohne Augenlicht gewesen. Als hätte ich nur geträumt, über den Atlantik geflogen zu sein, fünftausend Kilometer schlohweißer Wolkendecke bis kurz vor Neufundland. Jamaika-Station. Roosevelt Island. Lexington Avenue. Das helle Zimmer im 22. Stock. Ein kühler Wind bläst über den Balkon. Rauschen von tief unten von der Straße her. Wie ich bald vor das Haus trete, kommt mir eine ältere Frau entgegen, in einen feinen Mantelstoff gehüllt, Hände seitlich gegen den Hals gefaltet. Eigentlich müsste ich ihr unverzüglich folgen, sehen, warum sie das macht, einer Geschichte folgen, und diesem dampfenden, rot und grün und blau blinkenden Diodenhund, der sie begleitet, einem Riesentier, das ich berühren sollte, seine Temperatur zu fühlen. Ich verstehe an diesem Abend kein Wort in meinem Kopf. Ja, dieses Rauschen der Stadt. Südwärts wandern. Aus dem Boden sind die Stimmen der Subwaysprecher zu hören, next station : grand central, das Rumpeln, das Zischen der Züge. Ich könnte ein paar Stunden noch so weitergehen und schlafen. — stop
körpergeräusch
echo : 18.25 — Hatte gerade noch von einem schnarrenden Geräusch erzählt, das meinem Arm entkommt, sobald ich ihn horizontal bewege, um zur Geschmeidigkeit zu überreden. Ein Raspeln, das ich spüre und höre zur selben Zeit. Ich legte den Telefonhörer zur Seite. Genau in diesem Moment war das Geräusch, von dem ich einem weit entfernten Menschen berichtet hatte, wieder im Raum gewesen, als ob es sich behaupten wollte, beweisen, bestätigen, dass es tatsächlich existiert. Ich überlegte, ob das Schnarren in meinem Arm vorübergehender Natur oder doch eher dauerhaft sein könnte, sagen wir, für immer, zeit meines Lebens ein Raspeln, ein Knarzen, sehr leise, eigentlich nur hörbar in der Stille bei Bewegung. Sturm vor den Fenstern. Regen knistert an den Scheiben. Ich entdecke in diesen Minuten, dass ich Geräusche, die in meinem Körper unter der Haut sich ereignen, auch dann zu hören vermag, wenn ich sie nicht hören kann, weil sie zu leise sind in einer Regenwindumgebung. Es knirscht die Erinnerung an ein Geräusch, oder ich höre, – das ist denkbar -, das Geräusch durch meinen Körper wandern. — stop
tastende fingerohren
alpha : 15.01 — Seit Wochen mobilisiert eine junge Frau meinen rechten Arm in Portionen der Zeit, die wohltuend sind. Eine eigenartige Erfahrung. Als würde sich die junge Frau mit meinem Arm unterhalten in einer Sprache komplizierter Bewegung. Dehnen. Strecken. Drehen. Ziehen. Drücken. Kreisen. Streichen. Dann Phasen der Ruhe. Bald scheint sie in meinen Arm hineinzuhören, als ob ihre Finger über sensible Ohren verfügten, tastende Ohren, die nach Bewegungen meiner Sehnen, meiner Muskeln fragen. Ein feines Gehör. Eine Sprache nachhaltiger Argumente, die meine Muskeln aus ihrer Schutzspannung lösen. Das Gespräch der Hände, Beschwörung, nachdrücklich, auch Ermunterung, Ermutigung: Erinnert Euch! – Schnee über Nacht. Sturmwind auf den Bergen. Dohlen sind ins Tal gekommen. — stop.
raumstation
sierra: 11.50 — An diesem Freitagmorgen, Nebelschleierwolken lungern über dem Tal der Salzach, konnt ich seit 47 Tagen erstmals mit meiner rechten Hand wieder mein rechtes Ohr berühren. stop. Angedockt. stop. Die Meldung gegen den Mittag zu, Neutrinos auf unterirdischem Wege von Genf nach Rom seien schneller geflogen als das Licht. — stop
papierlicht
marimba : 14.08 — Die Beobachtung, dass ein Gedanke, sobald ich ihn wahrnehmen kann, immer bereits vollständig anwesend ist. Nie vermag ich einen Gedanken zu betrachten, wie er langsam, nach und nach, Wort für Wort, Zeichen für Zeichen, erscheint. Es denkt sich, blitzt, sagen wir, nahe Lichtgeschwindigkeit vorwärts, die Wahrnehmung eines Gedankens, sein Echo, vollzieht sich dagegen zögernd, behutsam, hörend, also mittels geheimer Ohren im Kopf. – Ob es möglich ist, die Zeit langsamer vergehen zu lassen, indem ich mich zu ihr verhalte, wie ein Dompteur zu einem Löwen? Zeichen für Zeichen eine Geschichte notieren, bis diese Geschichte zu Ende geschrieben sein wird im Jahr 2517 oder im Jahr 2518 vielleicht. Nebelsonne. Papierlicht. — stop
coleoptera rasura
tango : 10.12 — Eine zierliche Frau von hohem Alter. Sie schob einen Rollwagen vor sich her, auf dem zwei Koffer ruhten. Elegante Kleidung, sandfarben, leichte Sommerschuhe, links in der Hand eine Tasche von gelbem Leder, der ein Kabel entkam, das ein paar Kopfhörer und ein Mikrofon mit einem Telefon verband. Das Telefon war nicht sichtbar gewesen, aber die Frau sprach in das Mikrofon, das sich in der Nähe ihres Mundes befand, als würde sie telefonieren. Hin und wieder blieb sie stehen, ihre weißen Hände flattern dann in der Luft herum, als wollte sie zur Unterstützung ihrer Zunge mit Fingern artikulieren. Ich versuchte, sie anzusprechen, zu grüßen, ihr nahezukommen, um hören zu können, in welcher Sprache sie korrespondierte. Ich sage Euch, sie flüsterte unbekannte Wörter. Einmal öffnete sie einen ihrer Koffer. Sie gab mir ein Zeichen, ich kniete nieder. In dem Koffer hockten Käfer in Fächern, zwei Käfer je in einem Fach. Ihre Körper waren von der Farbe und Zeichnung der Bruyèrehölzer gewesen, und sie brummten, vielleicht deshalb, weil an der Stelle, da sich üblicherweise Käferzangen befinden, knöcherne Trommeln in rasender Geschwindigkeit rotierten. Gegen Viertel nach zwei Uhr erwacht. Wolkenloser Himmel, Sterne, eiskalte Luft nahe der Berge über dem Dach. — stop
schnecken
~ : oe som
to : louis
subject : SCHNECKEN
date : sept 24 11 7.12 p.m.
Früher Abend, ruhige See. Möwen, die unser Schiff wie eine Insel bewohnen, kreisen dicht über dem Wasser. Gerade eben meldete Noe, zwei Schnecken näherten sich seinem Gesicht. Er müsse jetzt vorsichtig sein, um sie nicht zu verletzen, sollten sie in seinen Mund gelangen. Noe wohlauf. Seit zwei Wochen senden wir Jazz, wann immer Noe Jazz zu hören wünscht. Wir haben zunächst Charlie Parker geladen, das machte ihn nervös, weil er sich nicht bewegen kann im Taucheranzug, im Rhythmus, der schnell geht, ruhelos. Wir proben, forschen nach sanfteren Takes. Er könne, das sei neu, berichtet Noe, wenn er das Wort Regen lese, sich das Geräusch des Regens nicht länger in Erinnerung rufen, als würde sich das Wort Regen nach und nach entleeren. Wir haben versprochen, Regen für ihn aufzuzeichnen und in die Tiefe zu schicken. Gestern, als wir nachts alleine miteinander sprechen konnten, wünschte Noe, dass ich ihm das Schiff beschreibe, unter welchem er schwebt. Er sei glücklich, sagte Noe, aber er sehne sich nach einer Uhr. — Dein OE SOM
gesendet am
24.09.2011
1143 zeichen
PRÄPARIERSAAL : traumzeit
kilimandscharo : 15.16 — Einen Raum der Zeit, den ich dafür verwende, Stimmen mittels eines Tonbandgerätes einzufangen, benötige ich etwas später zum zweiten Mal, um die verzeichneten Stimmen von demselben Tonbandgerät aus wieder freizulassen. stop. Markus an einem Mittwoch. Februar. Abend: Versuchen Sie bitte sich vorzustellen, Sie wüssten für sechs lange Wochen nicht, ob Sie sich in einem Traum befinden oder ob Sie doch eher wach sind. Wenn ich von meiner Zeit im Präpariersaal spreche, dann spreche ich gerne von meiner Traumzeit. Ich hatte den Eindruck, einen gewaltigen Satz zu tun. Ich meine, ich machte eine Erfahrung, die nicht ganz alltäglich ist. Ich stand morgens um 6 Uhr auf und wenn ich abends um 10 Uhr zurückkam, dann hatte ich drei oder vier Stunden mit einem Skalpell am Körper eines toten Menschen gearbeitet. Ich hatte eine gewisse Vorstellung davon, was in einem Präpariersaal geschieht, nicht aber davon, dass der Körper insgesamt unter meinen Händen verschwinden wird. Das Verschwinden dieses Körpers vor mir auf dem Tisch habe ich als etwas Unwirkliches, als traumartiges Geschehen empfunden. Das war kein Albtraum, ganz gewiss nicht. Vielmehr hatte ich den Eindruck, mich in einem Film zu befinden, der mal zu schnell und mal zu langsam abgespielt wurde, so dass ich nie wissen konnte, wie schnell ich mich, oder ob ich mich überhaupt bewegen würde im nächsten Augenblick. Ich konnte mich selbst nicht berechnen. Ich war zu langsam einerseits und zu schnell andererseits. Ich habe meine Hände betrachtet, wie sie Haut vom Gesicht eines Menschen entfernten. Ich hatte den Eindruck, meine Hände würden nicht zu mir gehören. — stop
handgeschichte
echo : 23.58 — Ich hatte gerade in einem Buch gelesen, als ich beobachtete, wie meine Hände, die den Buchkörper von entgegengesetzten Richtungen des Himmels her kommend berührten, sich bewegten, obwohl ich sie nicht dazu ermuntert hatte. Vielmehr war das so geplant gewesen, dass sie bewegungslos auf den Papieren ruhen sollten, um das Buch, das sich immer wieder schließen wollte, zu bändigen. Zunächst bewegte sich der linke, dann der rechte Daumen, ein Geräusch, ein helles Geräusch war zu hören, ich unterbrach meine Lektüre und legte das Buch zur Seite. Ich notiere: Sobald ich mich für ein oder zwei Minuten ganz und gar auf meine Hände konzentriere, vergesse ich mich selbst. Ich könnte mich, das ist denkbar, in dieser Übung einmal so gründlich vergessen, dass ich von außen her gerettet werden müsste, um wieder ganz anwesend und beweglich sein zu können. An einem anderen Tag, noch nicht lange her, war ich durch die Bewegung eines Fingers meiner linken Hand derart erschrocken, dass ich bald vom Tisch aufgesprungen wäre. Seltsame Sache. — stop