charlie : 3.05 — Wie, zum Teufel, kommt dieser merkwürdige Traum in meinen Kopf? War im Central Park auf der Suche nach einem großartigen Jazzposaunisten, nach Fred Wesley gewesen, verirrte ich mich, spazierte plötzlich auf Roosevelt Island herum. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube sehr fest daran, dass es sich um Roosevelt Island gehandelt haben musste, weil ich mit einer Art Luftgondel, einer Seilbahn angekommen war. Wahrhaftig eine heruntergekommene Gegend, zerfallene Gebäude, Müll und Straßen, die teilweise unter Wasser standen. Ich wartete in einem Kellerlokal, auch hier Wasser in Kniehöhe, hunderte Tische. Man konnte in diesem Lokal vom Menschen essen. Wenn man sich, nach Besichtigung der Karte, entschieden hatte, kam ein Mensch herbei, von dem man probieren konnte. Da waren Armmenschen mit köstlich schmeckenden Armen, und da waren Bauchmenschen mit köstlich schmeckenden Bäuchen. Manche dieser Personen sahen recht schrecklich aus, weil bereits häufiger von ihnen abgebissen worden war. Ich werde das jetzt nicht weiter ausführen. Es ist Montag. – stop
Aus der Wörtersammlung: jazz
downtown manhattan : concerto No 5
nordpol : 0.01 — Donnerstag, später Abend. Mrs. Lillue spielt Mozarts Violin Concerto No 5. Schwere Schneeflocken schaukeln vom dunklen Himmel. Eisige Kälte da draußen über der Upper Bay, in der Wartehalle Whitehall Ferry Terminal aber ist es warm und die Luft so trocken, dass Mrs. Lillue ihren Mantel ablegt. Sie trägt jetzt ein dunkelgrünes Kleid, das bis zum Boden reicht und feuerrote Turnschuhe. Ein schwarzer Junge sitzt in ihrer Nähe auf seinem Basketball und hört ihr zu, mit ernstem Gesicht. Kaum ein weiterer Laut zu hören, obwohl hunderte Menschen darauf warten, auf das nächste Schiff treten zu dürfen, das gleich anlegen wird. In diesem Moment nähert sich eine zierliche alte Frau der Künstlerin. Sie ist beinahe durchsichtig, so hell ihre Haut, so hell ihre Augen, und auch ihre Stimme so hell, dass man sie kaum noch vernehmen kann. Sie will wissen, wie alt die Geige sei, auf der Mrs. Lillue spielt? Wie sich die alte Frau so weit streckt, bis sie auf den Spitzen ihrer Zehen zu stehen kommt, um mit dem Rücken ihrer Hand über das Holz des Instruments zu streichen. — stop
greenwich village : verschwinden
echo : 0.12 — New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehn, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nacht,- oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann bisweilen ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, nur so zur Vorsicht, um nachzuhören, ob ich nicht vielleicht schon zu einer selbst sprechenden Maschine geworden bin. — stop
matrjoschka
echo : 6.52 — Weit bin ich in der Beweglichkeit meines Ellenbogengelenkes gekommen. Ich vermag ein Glas Wasser zum Mund zu führen, in einem Buch zu blättern oder auf einer meiner elektrischen Schreibmaschinen zu schreiben. Auch ein fester Händedruck ist wieder möglich geworden, wenngleich noch schmerzhaft. Gestern nun näherte ich mich mit meinem rechten Daumen meiner rechten Schulter so weit an, dass ich meinte, sie bereits spüren zu können, meine Schulter also an der Haut meines Daumens und umgekehrt. Eine äußerst langsame, sagen wir, behutsame Annäherung. Ein Nachgeben Millimeter für Millimeter jenes kleineren Matrjoschkaarmes, der meinen eigentlichen Arm seit Monaten zu bewohnen scheint, eigensinniges Wesen, Wesen wie für sich, das noch festhalten will an einer Geste des Schutzes, weiterexistieren in einem Winkel von 90°. Mein schnurrender, mein sich räuspernder Arm. Es knistert unter der Haut auch dann, wenn ich mich nicht bewege, als ob der eine Arm mit dem anderen Arm leise verhandelte. – Dienstag, noch Nacht. Warmer Regen vom Nebelhimmel. Und Jazz, und Jazz von New Jersey her. Art Tatum. März 1946. TIGER RAG. Guten Morgen. — stop
obersalzberg : kentauren
sierra : 12.10 — Man sollte meinen, ein Buch sei ausschließlich zum Lesen geeignet, eine Substanz hellen Papiers, Zeichen in gefalteter Linie, die mit den Augen studierend entlangzuarbeiten ist, Farben, Gerüche, Klänge, Drama. Seit einigen Stunden nun weiß ich, Bücher helfen gleichwohl in mechanischer Weise anatomisch wieder beweglich zu werden. Toni Morrisons Roman Jazz, zum Beispiel, 402 Gramm Gewicht für Minuten in meiner Hand am Ende eines Unterarmes, den ich zu strecken wünsche, widerspenstig ist er noch, bewegt sich nicht von eigener Kraft in jede der von mir gewünschten Richtungen. Wie er jetzt von der Schwerkraft der Dichtung nach unten gezogen wird, behutsam, in der Art und Weise langsam fallender Äpfel, sagen wir, eine Bewegung, mit den Augen nicht wahrnehmbar. – Kurz vor 12 Uhr. Mittag. Jenseits des Tales, das ich vom Hospital aus überschauen kann, spaziert gleißendes Sonnenlicht über den Obersalzberg hin, unheimliche Gegend. Ich meinte für Sekunden ein Rudel Kentauren gesehen zu haben, die den Saum eines Buchenwaldes entlang galoppierten. stop. Großartige erste Sätze im Kopf. stop. Toni Morrison. stop. STH, I know that woman. She used to live with an flock of birds on Lenox Avenue. Know her husband, too. He fell for an eighteen-year-old girl with one of those deepdown, spooky loves that made him so sad and happy he shot her just to keep the feeling going. When the woman, her name is violet, went to the funeral to the the girl and to cut her dead face they threw her to the floor and out of the church. She ran, then, through all that snow, and when she got back to her apartment she took the birds from their cages and set them out the windows to freeze or fly, including the parrot that said, „I love you.“
schnecken
~ : oe som
to : louis
subject : SCHNECKEN
date : sept 24 11 7.12 p.m.
Früher Abend, ruhige See. Möwen, die unser Schiff wie eine Insel bewohnen, kreisen dicht über dem Wasser. Gerade eben meldete Noe, zwei Schnecken näherten sich seinem Gesicht. Er müsse jetzt vorsichtig sein, um sie nicht zu verletzen, sollten sie in seinen Mund gelangen. Noe wohlauf. Seit zwei Wochen senden wir Jazz, wann immer Noe Jazz zu hören wünscht. Wir haben zunächst Charlie Parker geladen, das machte ihn nervös, weil er sich nicht bewegen kann im Taucheranzug, im Rhythmus, der schnell geht, ruhelos. Wir proben, forschen nach sanfteren Takes. Er könne, das sei neu, berichtet Noe, wenn er das Wort Regen lese, sich das Geräusch des Regens nicht länger in Erinnerung rufen, als würde sich das Wort Regen nach und nach entleeren. Wir haben versprochen, Regen für ihn aufzuzeichnen und in die Tiefe zu schicken. Gestern, als wir nachts alleine miteinander sprechen konnten, wünschte Noe, dass ich ihm das Schiff beschreibe, unter welchem er schwebt. Er sei glücklich, sagte Noe, aber er sehne sich nach einer Uhr. — Dein OE SOM
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24.09.2011
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mantelstille
ubu : 15.07 – Vor wenigen Tagen habe ich einen Spaziergang durch die Stadt unternommen am helllichten Tag. Alles bewegte sich, auch die Straßen, Häuser, Brücken bewegten sich unter den Händen der Arbeiter und ihren hämmernden Werkzeugen. In einem Park wurden Bäume gefällt, billige Jazzmusik in Warenhäusern, Straßenfeger trieben mit Windmaschinen Blätter und Papiere vor sich her, unaufhörlicher Lärm von Ecke zu Ecke. Plötzlich, so im Gehen, versuchte ich mir Stille vorzustellen. Ich dachte, dass ich, wenn ich den Eindruck von Stille erinnern könnte, den Lärm um mich herum vergessen könnte, sozusagen Nichthören, weil das eigentliche Echogeräusch des Lärms, das schmerzt, im Kopf entsteht, ein Geräusch, das ich hoffte, mit einer Idee von Ruhe ummanteln zu können. Es gab kein Entrinnen. Ich muss das weiter üben. — stop
tiefenschatten
~ : oe som
to : louis
subject : SCHATTEN
date : aug 18 11 5.12 p.m.
Seit zwei Tagen bereits keine Nachricht aus der Tiefe. Wir hören Noes Atem, wir verzeichnen das Gewicht seines Taucheranzuges an der Winde des Schiffes. Noe ist noch bei uns, aber kein Wort zu hören von Noe. Weder antwortet er auf Fragen noch folgt er unserem Wunsch, er möge doch weiter lesen in Tony Morrisons Roman Jazz. Wir hatten das Buch am vergangenen Montag zu ihm in die Tiefe geschickt. Noe las noch an demselben Abend drei Stunden, dann war er eingeschlafen. Seither schweigt Noe, weshalb Miller sich vor Stundenzeit zur Inspektion auf den Weg nach unten begab. 2 Fuß in der Minute, schneller geht das nicht, schneller würde Miller das Leben kosten, wir müssen uns gedulden. Fünf Stunden noch, dann wird Miller Noe erreichen, eine spannende Situation, vielleicht wird auch Miller dann schweigen, das ist denkbar, eine beunruhigende Vorstellung wie unsere beiden Tiefseemänner schweigend in der Düsternis schweben, wie sie sich vielleicht unterhalten werden in der Zeichensprache der Taucher. — Habe ich Dir, lieber Louis, berichtet, dass es vor wenigen Tagen schneite? Noch nie habe ich Schnee auf offener See beobachtet. Seemöwen jagen dicht über die Wasseroberfläche hin. Es sieht so aus, als würden sie Flocken fangen, mächtige Tiere, gelbe Schnäbel, hellbraune Flügel. Sie wirken in etwa verkleidet, Möwenvögel, die sich in Kostümen junger Habichte bewegen, ihre schrillen Rufe, ein weiteres Dutzend sitzt auf unserem Funkturm, Eiszapfen haben sich gebildet, Wolken kommen näher, berühren das Wasser. Miller ist in diesem Moment auf fünfhundert Fuß Tiefe angekommen. Unter ihm, meldet Miller, sei in der Dunkelheit Noe zu erkennen, das Licht seiner Lampen. Ein gewaltiger Körperschatten soll vor ihm zu sehen sein. Ich melde mich bald wieder. Dein OE
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18.08.2011
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linie d
india : 22.02 – In einem New Yorker Subwayzug mit geschlossenen Augen freihändig stehen und balancieren, sagen wir eine zweistündige Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Boulevard. Das Reiten auf einem wilden Tier. Vielleicht könnte ich sagen, dass das Erlernen einer Subwaystrecke, das neuronale Verzeichnen ihrer Steigungen, ihrer Gefälle, ihrer Kurven, auch ihrer feinsten Unebenheiten, dem wortgetreuen Studium eines Romantextes vergleichbar ist. Aber dann die Zufälle des Alltages, das Unberechenbare, ein Tunnelvogel, eine schmutzige Möwe, Höhe 135. Straße, die den Zug zur Bremsung zwingt, die Eigenart des Zuges selbst, das unvorhersehbare Verhalten zusteigender Fahrgastpersonen, wie sich eine Jazzband nähert, wie ich dringend darum bitte, man möge nicht näher kommen. — stop
kairobildschirm
sierra : 6.28 — Regen, erste Milde des Jahres. Ein Freund, arabischer Jazzmusiker und stark wie ein Bär, erzählte vor wenigen Stunden, er sei versucht gewesen, während der Rede Husni Mubaraks am Donnerstagabend, sein Fernsehgerät zu zertrümmern. Kann ich nun von einem Wunder sprechen, dass in der zurückliegenden Nacht in den Straßen Kairos nicht rasende Gewalt ausgebrochen ist? Merkwürdig der Augenblick, als sich nachmittags über den hellblauen Himmel der riesigen Stadt ein Hubschrauber fortbewegte, sandfarben und so klein, dass er kaum noch sichtbar gewesen war, ein Luftfahrzeug, in dem sich vielleicht ein Menschendespot befand, von dem ich nicht sagen kann, ob er je verstehen wird, was geschehen ist. Kurz darauf das Beben des Bodens, seismografisch messbar unter Tausenden tanzender Füße, die ihre Schuhe wieder tragen. Auf meinem Fernsehbildschirm erweist ein General mit einer irritierenden militärischen Geste den Opfern des Aufstandes seine Ehre. — stop