whiskey : 0.01 — Ich schlief über einem Buch des Schweizer Schriftstellers Nicolas Bouvier. Ehe ich fest eingeschlafen war, hatte ich in letzter Sekunde noch einen Gedanken wahrgenommen. Ich sagte zu mir mit leiser werdender Stimme: Du solltest einmal überlegen, ob es sinnvoll ist, nach einer Methode zu suchen, im Schlaf ein Buch lesen zu können. Ja, das wäre eine interessante Geschichte. Man würde sich natürlich an die erzählende Wirklichkeit des Buches selbst nicht erinnern, das man gerade noch las oder hörte, während man schlief, weil man das Buch nicht bewusst wahrnehmen konnte, und doch wäre man mit Herrn Bouvier nach Galway geflogen wegen eines Lochs im Sturm. Man wäre in einer Art und Weise nach Galway geflogen, dass man sich einmal später so gut an diesen Flug erinnern könnte, als wäre man selbst dort in Kilronan gewesen, eine Ahnung, Geräusche, Luft und Leute. — Das geschmeidige Wort Salinenweg. Wie ich über eine hölzerne Brücke gehe im Winter, ich streiche mit einer Hand Schnee von einem Geländer. Immer wieder, im Sommer, im Frühling, im Herbst, wenn ich diesen Ort passierte, erzählte ich von diesem Moment, als ich im Winter den Schnee berührte. — stop
Aus der Wörtersammlung: luft
über staten island nachts
whiskey : 8.28 — Auf der Suche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop
lisbon
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 122, Luftfahrt — 773, Automobile — 38 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 2, 19. Jahrhundert – 16, 20. Jahrhundert – 12 , 21. Jahrhundert — 547 ], physical memories [ bespielt — 356, gelöscht : 1022 ], 1 Telefonbuch der Stadt Chicago [ bedauernswerter Zustand ], Öle [ 0.8 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 342, Kniegelenke – 12, Hüftkugeln – 158, Brillen – 56 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 88, Größen 38 — 45 : 45 ], Kühlschränke [ 16 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 2, mit Taucher – 54 ], Telefone [ 368 ], Engelszungen [ 26 ] | stop |
raymond carver goes to hasbrouck heights / 2
zoulou : 3.55 — Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von engen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
milanomaki
echo : 0.18 — Während eines Spaziergangs im botanischen Garten hörte ich, man habe zuletzt im Jahr 2000 eine bisher nicht bekannte Struktur der menschlichen Hand entdeckt, das ligamentum metacarpale pollicis, ein Band, welches die Stabilität der Daumenbewegung erhöhe. Bisher hatte ich angenommen, die Anatomie des menschlichen Körpers sei bereits seit Jahrzehnten restlos aufgeklärt. – stop. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, Count Basie: At the Aquarium. Vor wenigen Minuten erreichte mich eine E‑Mail. Milanomaki notiert > : Ich sollte ein Ohrenmensch sein. Ich sitze mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und höre zu, einem Menschen vielleicht oder einer Fliege, die über mir im Luftraum turnt. Oder ich stehe in einem Zimmer ganz still, um so präzise wie möglich denken zu können. Kurz darauf setze ich mich an einen Schreibtisch und mache viele Wörter, dann mache ich eine Pause, dann lese ich alles das Notierte noch einmal durch, dann streiche ich so viele Wörter mit dem Kopf, wie möglich ist, um bald wieder nur einen Strich vor mir auf dem Papier vorzufinden. Ich habe viel erlebt. — stop
grammophon
zoulou : 3.36 — Würden jene Fahrzeiträume frühmorgens in warmen Abteilen der Züge nicht existieren, würden wir vielleicht nie miteinander sprechen. Er ist meistens müde von der Nachtarbeit. Fünfzehn Minuten Zeit, zu kurz, um schlafen zu können, zu lang, um zu schweigen. M. wurde in der marokkanischen Hafenstadt Nador geboren. Er ist Moslem, gläubig, einer der Guten, wie er sagt, einer, vor dem sich niemand fürchten müsse. Er geht in die Moschee, er spielt Fußball, er ist verheiratet, nachts beaufsichtigt er Maschinen, die Briefe sortieren, und er lacht gern. Sein Blick ist warm, er verfügt über zwei Hände, darauf besteht er, und zwei Augen, eine Nase, einen Mund. Vor Kurzem warnte er mich, weil ich öffentlich über den Glauben der Moslems notierte. Er sagte: Da musst Du vorsichtig sein, es gibt viele Verrückte, schau, dass sie nicht wissen, wo Du wohnst. Einmal, kurz nach einer Reise nach New York, lese ich ihm eine Geschichte vor, folgende Geschichte, sagen wir, eine Geschichte wie eine Frage: Im Central Park zur Mittagszeit ein betender Mann, Moslem, Rikschafahrer, der Höhe 61. Straße unter einer mächtigen, weitverzweigten Ulme kniet, vielleicht unter einem jener Bäume, deren Setzlinge im Jahr 2008 nach Oregon geschickt wurden, um sie dort großzuziehen und wieder nach Manhattan zurückzuholen. Das klagende Singen der Kinderschaukel. Ein Eichhörnchen hetzt über eine Wiese. Bald kauert das Tier in der Nähe des betenden Mannes, scheint ihn zu beobachten. Ich könnte jetzt warten, bis der Mann mit seinem Gebet fertig geworden ist. Ich könnte mich zu ihm in seine Rikscha setzen. Wir könnten gemeinsam durch den Park fahren. Ich könnte ihm eine Geschichte erzählen. Ich könnte erzählen, dass ich eben noch in einem Café hörte, wie eine junge, lustige Mutter von ihrer Absicht berichtete, ihren Sohn, der noch nicht geboren worden ist, mit dem Namen „Grammophon“ zu versehen. Das ist eine wirklich aufregende Geschichte, die ich tatsächlich sofort erzählen sollte. Ich sollte den jungen Mann weiterhin fragen, ob er mir vielleicht erklären wolle, weshalb es lebensgefährlich für mich sein könnte, wenn ich mich fragend über Mohammed, den Propheten, äußern würde. Vielleicht würde der junge Mann bremsen, vielleicht sich unverzüglich von seinem Fahrrad schwingen. Wir würden uns auf eine Bank setzen und Geschichten erzählen von Grammophonen, von Propheten und wie es ist, im Winter Rikscha zu fahren. Und vielleicht würde ich ihm dann noch vom Schnee erzählen, den ich als Kind aus der Luft gefangen habe. Ja, so könnten wir das machen, sofort, gleich, wenn der betende Mann sich erheben wird. – stop
ein pferd
himalaya : 6.08 — Im Traum auf einer Hochebene begegnet mir ein Pferd. Als das Pferd näher kommt, entdecke ich Hunderttausende Ameisen, die auf ihm wandern. Ein Rauschen ist zu vernehmen, die Luft schmeckt bitter, aber das habe ich mir wohl ausgedacht. Wenn sich das Pferd schüttelt oder mit einem Muskel zuckt, fliegen Ameisenkörper durch die Luft. Dann wartet das Pferd geduldig, bis alles wieder an Bord gekommen ist. — stop
josephine begegnet louis armstrong
nordpol : 5.02 — Im September des Jahres 2010 fahren Josephine und ich auf der Staten Island Fähre John F. Kennedy spazieren. Ein schwülwarmer Tag. Gewitterwolken, vom Meer her gekommen, hängen tief über der Upper Bay. Die Luft knistert. Möwen umkreisen das Schiff, wie irr stürzen sie immer wieder herab, schnappen nach Passagieren, die auf der Promenade fotografieren, als ob jede einzelne von ihnen bereits von einem Blitz getroffen worden sei. Wir sitzen, unteres Deck, auf einer der Holzbänke der mittleren Reihen. Ich erinnere mich noch gut an die Stimme der alten Dame, wie sie aufgeregt erzählt. An einem ähnlichen Tag im Jahr 1966, sie war noch eine junge Frau gewesen, habe sie an Bord der John F. Kennedy Louis Armstrong beobachtet. Dort, genau dort saß er, sagt sie, und deutet auf eine Bank in der Nähe der Fenster, die an diesem Tag vollkommen leer ist. Ein Fotograf und zwei weitere Männer seien damals um die bedeutende Person herumgelaufen, man habe ihn fotografiert. Ein schöner Mann, sagt Josephine, ein wirklich schöner Mann, und so berühmt. Sie lacht jetzt und macht eine kurze Pause, schaut ostwärts nach Brooklyn hin. Ich war ein junges Mädchen, erzählt sie weiter, und plötzlich saß dort Louis Armstrong, ganz unglaublich, ich war starr vor Schreck gewesen. Er sah müde aus, und er hatte große Füße und war sehr schwarz für meine Verhältnisse, ein wirklich schwarzer Mann, der vornehm gekleidet war und ich glaube, wenn ich mich erinnere, dass sie auf etwas gewartet haben, immerzu sahen sich die Männer um, sie wirkten ein wenig gehetzt, nur Louis Armstrong nicht. Ich glaube, er hat mich damals gesehen, wie ich ihn anstarrte. Ich war erst 26 Jahre alt, und ich war glücklich, diesem Mann persönlich zu begegnen. Seither habe ich immer, wenn ich die John F. Kennedy gesehen habe, an Louis Armstrong gedacht, jedes einzelne Mal. Die alte Dame Josephine erhebt sich, schlendert zu einer der Türen, die auf die Promenade führen. Ich muss ihr schnell folgen, sie kann die schweren Türen mit ihren eigenen Händen nicht öffnen. Draußen Sturm, das Meer schäumt. Riesige Seemöwen, gelbe Augen, sitzen auf der Reling in unserer Nähe. — Ende der Geschichte. — stop
ein junge
india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flughafenterminal beobachtete ich einen Mann, der sich äußerst sparsam, lange Zeit überhaupt nicht bewegte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung, neben der Zeitung Folgendes: eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, Zuckerwürfel, Notizblock und Bleistift. Eine halbe Stunde verging in dieser Weise, die Hände des Mannes ruhten in seinem Schoß. Einmal rückte der Mann seinen Koffer, der hinter ihm an der Wand parkte, ein kleines Stück zur Seite, ein andermal hob er seine Kaffeetasse in die Luft, um sie in einem Zug auszutrinken. Dann wieder keinerlei Bewegung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagierte weder auf Lautsprecherdurchsagen noch kümmerte er sich um Menschen, die das Café auf Laufbändern passierten, es waren viele chinesische Reisende darunter, die gerade erst aus Shanghai und Peking in großen Flugzügen eingetroffen waren. Der Mann starrte auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt worden war. Ein Junge lag dort unbekleidet auf einer Bastmatte mitten auf einer schmutzigen, feuchten Straße. In einiger Entfernung, im Hintergrund, warteten Menschen, die den Jungen beobachteten. Der Junge schwitze, seine schwarze Haut war von Fliegen bedeckt, er sah mit halb geschlossenen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutzanzug steckte. Anstatt eines Kopfes war auf den Schultern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zerknitterte Haube, genauer, die unter Luftdruck zu stehen schien. Das Wesen hatte seine rechte Kunststoffhand nach dem Jungen, der einsam auf dem Boden liegend verharrte, ausgestreckt, es wollte ihn vielleicht ermutigen, aufzustehen und zu ihm an den Rand der Straße zu kommen. Obwohl sich die Hand nicht bewegte, vermittelte sie den Eindruck, dass sie sich bewegt haben musste und weiterhin bewegen würde, weil die Stellung ihrer Finger nur in dieser vermuteten Bewegung einen Sinn ergab. Ja, diese Hand musste in der Zeit des Bildes eine winkende Hand gewesen sein, aber es war deutlich zu sehen, dass der Junge vermutlich nicht länger die Kraft hatte, aufzustehen oder zu kriechen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüstern, oder die Fliegen auf seinem Körper zu vertreiben. Es war still, vollkommen still, nichts zu hören. — stop