tango : 20.01 UTC – Über dem Kanal de Saint-Martin nahe der Rue Bichat im 10. Pariser Arrondissement kreist seit drei Tagen ein krähenartiger Vogel, ohne je zu landen. Er scheint mit der kalten Winterluft ein Gespräch zu führen im Flug bei Tag und bei Nacht. Vogelbeobachter sind eingetroffen. Sie sitzen auf Bänken und Balkonen, ihre Fernrohre auf Stative gestellt und gegen den Himmel ausgerichtet. Es ist deshalb, weil mit diesem sprechenden und singenden Vogel möglicherweise etwas nicht stimmt. Seit der Vogel eingetroffen ist, so wird erzählt, erscheinen auf den Bildschirmen lokaler Fernsehgeräte Filmaufnahmen, die aus der Sicht dieses Vogels aufgenommen worden sein könnten. Gleichwohl sind Geräusche verzeichnet, sodass nun das Weinen von Kindern in den Pariser Häusern zu vernehmen ist, auch auf den Bildschirmen der Handtelefone sind Kinder zu sehen, die in Zelten wohnen ohne einen Fußboden, weil dort hindurch der Schlamm, der von den Bergen kommt, talabwärts strömt. Die Kinder sind krank, das kann man sehen, sobald man die erschrockenen Augen öffnet. Auch die Eltern der Kinder sind krank, sie tragen Pusteln im Gesicht und auf den Armen und Beinen und auf ihren mageren Rücken. Vulkane wachsen auf den Körpern der Menschen und speien Eiter und Blut. Jener Vogel, der diese Aufnahmen in einer afrikanischen Gegend machte, um sie persönlich nach Europa zu transportieren, war und ist noch immer ein geduldiger Beobachter. Der Vogel flog leise in Bodennähe umher, ohne das Leid zu stören, das sich ihm öffnete, als wäre es eine dunkle schmerzende Blume. Kinder fassten nach dem Vogel, deuten auf ihn, sie waren ohne Furcht. Und die Eltern der Kinder erzählten in einer fremdartigen Sprache, wie es ist derart krank und elend und bedroht zu sein. Ihre Gesten zu dem Auge des Vogels hin waren flehende Gesten. Seit Tagen nun kommen diese Bilder in die Welt der Bildschirme und der Lautsprecheranlagen bei Tag und bei Nacht am Kanal de Saint-Martin nahe der Rue Bichat im 10. Pariser Arrondissement. Niemand kann sagen, warum das so ist und wie lange die Heimsuchung noch dauern wird. Vielleicht, so eine Vermutung, werden weitere Vögel kommen, weitere Bilder, Filme, Geräusche. Eine Person soll auf einer Kanalbrücke stehend lautstark gefordert haben, den Vogel endlich vom Himmel zu holen. Einmal waren Schüsse zu hören. — stop
Aus der Wörtersammlung: mager
minutengeschichte
echo : 0.02 UTC — Im Haus der alten Menschen in einem Flur steht ein Rollstuhl. Eine winzige Person sitzt in diesem Stuhl, so klein ist sie, dass von hinten her nur ein Hut von ihr zu sehen ist, der sich nicht bewegt, weil die kleine Person, eine alte Dame, eingeschlafen ist. Auf einem Sofa in ihrer unmittelbaren Nähe hockt ein Mann, ihr Sohn. Der Sohn schaut zum Fenster hinaus, es blitzt, ein Regen beginnt, der die Luft hell werden lässt, und dann donnert es, und die alte Dame wird wach. Mit ihren mageren Händen, die zittern, nähert sie sich ihrem Sohn. Er lächelt sie an, und sie sagt zu ihm: Komm, hilf mir, ich möchte aufstehen und gehen. Und der Mann antwortet: Mutter, du kannst nicht gehen, Du bist seit einem Jahr nicht auf eigenen Beinen gestanden, Du bist schwer gestürzt, Du bist auf Deinen Kopf gefallen, Deine Beine sind so dünn, dass ich sie je mit einer Hand umfassen könnte. Und da sagt die alte Dame zu ihm: Ich kann gehen, ich weiß das, komm hilf mir, ich bin immer gegangen. Warum willst Du mir nicht helfen! Und sie sieht ihn an, er kennt diesen Blick. Und es donnert und blitzt da draußen vor dem Fenster, ein wunderbares Gewitter, ganz wunderbar. — stop
patagonien
nordpol : 22.08 UTC – Schnee liegt sehr fein wie gepudert, die Luft klirrt von der Kälte, Eichhörnchen hetzen über die Straße. Das Haus, in dem die alten Menschen wohnen, dampft, aus den Schornsteinen wie ein großes Schiff, das gerade Anlauf nimmt, um in See zu stechen. Der Boden, auf dem ich gehe unter Bäumen, an deren blattlosen Ästen sich frostige Äpfel halten, zittert. Und auch der lange Flur im Haus, über den ich spaziere, scheint unter meinen Füßen zu schlingern. An einem Tisch sitzt eine alte Lehrerin, sie sitzt immer nur so da und schaut zum Fenster hinaus, sie spricht nicht, niemals. Eine andere alte Dame hangelt sich in ihrem Rollstuhl sitzend durch die Flure von morgens bis abends, sie lächelt, wenn man ihr begegnet. Klein ist sie, zierlich, trainiert wie eine Turnerin, magere und doch kräftige Arme. Beinahe meine ich, dass sie sich an mich vielleicht erinnert, sie lächelt mich an, vermutlich deshalb, weil ich ihr schon häufig begegnete. Längst könnte sie eine Strecke bis nach Mexiko in dieser hangelnden Weise zurückgelegt haben. Oder bis nach Patagonien. — stop
von kevin und liesl im zug
tango : 22.52 UTC — Ich hörte, er heiße Kevin. Er sagte, er sei ohne Dach über dem Kopf. Auch im Sommer oder im Herbst sei das Leben nicht leicht, im Sommer habe er viel Durst, im Herbst fürchte er sich vor dem Winter. Er würde gern seine Geschichte erzählen, warum er so arm geworden sei, dass er keine Wohnung habe und nichts zu essen. Wenn Kevin spricht, ist seine Stimme wunderschön anzuhören. Es ist eine Stimme, die gut singen könnte, ein Tenor vielleicht. Nur das mit Kevins Geschichte ist so eine Sache, ich höre Kevins Lebensgeschichte seit Anfang des Jahres im Morgenschnellzug zum Flughafen immer wieder. Ich sollte sagen, Kevin erzählt täglich eine andere Geschichte, er ist im Grunde ein guter Erzähler, und auch ein guter Erfinder. Im Winter erzählt er Wintergeschichten, im Sommer Sommergeschichten. Gestern wurde Kevin von einer jungen, mageren Frau begleitet. Sie war sehr schmutzig. Kevin erzählte ihr, dass ich ihm manchmal etwas Geld geben würde oder eine Brezel, auch dass ich aufschreiben würde, was er berichte. Sie setzten sich neben mich. Die junge Frau sagte: Wenn man träumt, ist man im Inneren wach und warm. Am Flughafen stiegen beide mit mir aus. Wir sprachen eine halbe Stunde. Der Bahnhof war wieder einmal undicht. Regen kam von der Decke. Das Licht war teilweise ausgefallen, an den Wänden saßen ein paar dicke Kröten. Sie schnappten mit armlangen Zungen nach Tauben, die über den Bahnsteig segelten. Ich hörte, das Knochengespenst an Kevins Seite soll Lieselotte heißen, sehr seltsam dieser Name für eine recht junge Person. Ich erfuhr, dass sie Literaturwissenschaften in London studierte, sie mag gern lesen, aber sie komme nicht dazu, weil sie das Bild ihres Vaters in sich trage, der immerzu betrunken war, ein schmerzendes Bild, das hell vor ihr leuchte. Ich weiß jetzt, Bilder eines betrunkenen Vaters zu verdunkeln, erfordert ungeheure Kraft und Ausdauer. Lieselotte kann deshalb seit einem Jahrzehnt nicht schlafen. Sie mag Kevin, der so schöne Geschichten erzählt, dass sie beide von seinen Geschichten ein wenig weiterleben können. Es ist jetzt Abend. — stop
herbst
marimba : 8.12 UTC — Ich gehe spazieren, wo die alten Menschen wohnen, über Flure, wo die alten Menschen sitzen vor den Türen, hinter welchen uralte Menschen liegen, die in ihren letzten Betten schlafen. Eine alte Dame zieht sich im Rollstuhl sitzend Stunde um Stunde am hölzernen Wandgeländer voran. Wie viele Kilometer ist sie so schon unterwegs gewesen? Ich hörte, sie sei 88 Jahre alt. Wenn sie mir begegnet, lächelt sie wie ein junges Mädchen, fragt, warum sie hier sei, antwortet sofort: Wohl, weil ich alt bin. Auf einem Tisch, um den herum weitere schlafende Menschen sitzen, steht ein Telefon von grauer Farbe mit einer Ziffernwählscheibe. Der Hörer des Telefons schwebt an einer mageren Hand neben einem Ohr, das lauscht. Eine weitere magere Hand wählt Nummer für Nummer Stunde um Stunde. Draußen vor den Fenstern kühler, herbstlicher Regen. Und hier, gleich komme ich an ihm vorüber, das Zimmer der alten Claudine Tulla, sie schläft schon seit zehn Jahren in ihrem letzten Bett. Wie doch die Zeit vergeht. — stop
auf schienen
alpha : 0.10 — Als würde sich diese merkwürdige Frau auf unsichtbaren Geleisen durch die Zeit bewegen, so kommt sie in unregelmäßigen Abständen immer wieder einmal an mir vorüber, armselig gekleidet, jawohl, auf das Äußerste armselig gekleidet, trägt sie im Sommer wie im Winter eine Polizeischirmmütze, einen merkwürdig grünen, zerschlissenen Faltenrock, eine gelbe, verschmutzte Bluse und darüber eine Jeansjacke, mein Gott, außerdem Turnschuhe, die möglicherweise längst über keinerlei Sohlenwerk mehr verfügen. Aber das mit den Schuhen ist gar kein Wunder, sie läuft andauernd schnell herum, ich habe sie niemals stehend oder irgendwo sitzend angetroffen. Ungewöhnlich an dieser Frau ist insbesondere ein Pappschild, welches an einem längeren Stock befestigt wurde. Sie trägt das Pappschild hoch über dem Kopf, stolz scheinbar, es ist immer dasselbe Schild, geschützt von einer feinen Folienhaut. Auf diesem Schild nun ist mit akkurater Schrift folgende Forderung aufgezeichnet: Keine Gewalt gegen unsere Polizei! Die Verbreitung dieser Botschaft scheint ihr wesentliches Anliegen zu sein, ich habe mehrfach versucht, an die eilende Person heranzutreten, vergeblich, entweder war sie zu schnell oder ich war zu langsam in der Verfolgung gewesen. Tatsächlich beschleunigt sie ihre Schritte unverzüglich, wenn ich versuche, mich ihr zu nähern. Einmal, es war hoher Sommer, telefonierte ich gerade, als ich sie kommen sah. Ich nahm meinen Telefoncomputer vom Ohr und richtete ihn auf die demonstrierende Frau, um sie zu fotografieren. Gestern, Sonntag um kurz vor Mitternacht: Sie scheint sehr leicht geworden zu sein, andere würden vielleicht sagen, dass sie äußerst mager geworden ist. Sie raucht wie eine Lokomotive. — stop
geschichte von einem chinareisenden
olimambo : 0.28 — Alles fing damit an, dass M. ein besonderes Schulheft, welches sich seine Tochter wünschte, nicht bezahlen konnte. In dieser Sekunde, da er die Enttäuschung in den Augen des Kindes wahrnehmen musste, entschloss sich der Vater zu handeln. Er rangierte sein kleines Auto aus der Garage, rollte Ersatzreifen und Fahrräder in den Garten, fegte Blätter und Papiere auf die Straße, entfernte Ölflecken und Spinnennetze, dann begann er zu sparen. Er sparte so sehr, dass er mager wurde. Manchmal besuchte er abends nach der Arbeit seine Garage und stellte sich vor, mit welch wunderbaren Waren er sie bald füllen würde. Als er lange genug gespart hatte, 12 Monate und drei Wochen, setzte er sich in ein Flugzeug und reiste nach China. Es war ein Abenteuer, er konnte weder Chinesisch und noch Englisch, er konnte nur die türkische und ein wenig die deutsche Sprache. Am Flughafen wurde er abgeholt von einem Landsmann, den er seit sehr langer Zeit kannte. Sie fuhren aus der Stadt Peking heraus nordwärts nach Yanging, dort besuchten sie eine Fabrik, die DVD-Scheiben produzierte, sie war groß wie eine kleine Stadt. Zwei Tage blieb M. noch in Peking, er besuchte den Platz des himmlischen Friedens, dann flog er zurück nach Europa. Vier weitere Monate später landete ein Container im Hamburger Hafen an. Einhunderttausend DVD-Scheiben, unbespielt, waren im Container enthalten. Zu diesem Zeitpunkt ist das Ende der Geschichte, einer wahren Geschichte, noch vollständig offen. stop. Zwei Uhr achtundzwanzig in Gaza City. – stop
Port-au-Prince
marimba : 1.05 — Auf Haiti, einer Insel, essen Menschen, sobald sie ein Gefühl des Hungers verspüren, Plätzchen, das heißt, sie verzehren von der Sonne getrocknete Scheiben von Lehm, der mit Margarine und einer Handvoll Salz in Metallfässern verrührt worden ist. Kurz darauf haben die Menschen Schmerzen, aber keinen Hunger für drei Stunden. Wenn sie auf die Straße gehen, um der Welt von ihrem Hunger, der bald wiederkommen wird, und ihren Schmerzen im Bauch zu erzählen, werden sie von Soldaten der UN und Polizisten ihres Landes erschossen. stop. Von meinem Fernsehbildschirm abgenommen. stop. Zwanzig Uhr und zwölf Minuten in Port-au-Prince, Haiti. — stop