Aus der Wörtersammlung: mensch

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ferrovia

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alpha : 18.02 UTC — Ich kam mit dem Zug nach Vene­dig, trat auf den Vor­platz des Bahn­hofs­ge­bäu­des, hör­te, ver­traut, das Brum­men der Vapo­ret­to­mo­to­ren, bemerk­te das dun­kel­blau­graue Was­ser, und einen Geruch, auch er ver­traut, der von Wör­tern noch gefun­den wer­den muss. Und da war die Kup­pel der Chie­sa di san Simeone Pic­co­lo im Abend­licht, und es reg­ne­te leicht, kaum Tau­ben, aber Kof­fer­men­schen, hun­der­te Kof­fer­men­schen hin und her vor Ticket­schal­tern, hin­ter wel­chen gedul­di­ge städ­ti­sche Per­so­nen oder Furi­en war­te­ten, die das ein oder ande­re Dra­ma bereits erlebt hat­ten an die­sem Tag wie an jedem ande­ren ihrer Arbeits­ta­ge. Und da war mein Blick hin zur Pon­te degli Scal­zi, einem geschmei­di­gen Bau­werk lin­ker Hand, das den Canal Gran­de über­quert. Ich will das schnell erzäh­len, kurz hin­ter Vero­na war ich auf den Hin­weis gesto­ßen, es habe sich dort nahe der Brü­cke, vor den Augen hun­der­ter Beob­ach­ter aus aller Welt, ein jun­ger Mann, 22 Jah­re alt, der Gam­bier Pateh Sabal­ly, mit­tels Ertrin­kens das Leben genom­men. Ein Mensch war das gewe­sen, der auf gefähr­li­cher Rou­te das Mit­tel­meer bezwang. Nie­mand sei ihm zu Hil­fe gekom­men, ein Vapo­ret­to habe ange­hal­ten, man habe eini­ge Ret­tungs­rin­ge nach ihm gewor­fen, aber er habe nicht nach ihnen gegrif­fen, wes­halb man eine oder meh­re­re Film­auf­nah­men mach­te, indes­sen man den jun­gen Mann ermu­tig­te: Wei­ter so, geh nach Hau­se! Das war im Janu­ar gewe­sen, das Was­ser der Kanä­le kalt wie die Betrach­ter­see­len. In die­sem Augen­blick, als ich aus dem Bahn­hof in mei­nen vene­zia­ni­schen Zeit­raum trat, war kei­ne Spur der Tra­gö­die dort unter dem Him­mel ohne Tau­ben zu ent­de­cken, außer der Spur in mei­nem Kopf. — stop

ping

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redentore

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nord­pol : 16.58 UTC — Von der Wasser­bus­sta­tion Reden­tore aus ist heu­te das Schwes­ter­chen Zitel­le nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mit­tels gewöhn­li­cher Ohren die Luft betas­tet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudec­ca, ein leich­ter Wind weht von Ost. Es ist viel­leicht des­halb so still, wo es doch nicht wirk­lich still sein kann, weil die Luft lang­sam west­wärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stel­le in die Tie­fe bege­ben wür­de, ein Fisch wer­den, ein Fisch sein, wenn man ins Was­ser tauch­te, könn­te man Zitel­le ganz sicher weit­hin sin­gen hören, ihr Pfei­fen und Zetern tag­ein und tag­aus, dass es eine wah­re Freu­de ist, wie sie immer wie­der kurz inne­hält, um zu lau­schen, ob ihr jemand ant­wor­tet, viel­leicht von Palan­ca her oder von den Giar­dini – Zwil­lingen, die sich immer wie­der ein­mal mel­den, sobald die See stür­misch gewor­den ist. Es heißt, die­ses Sin­gen, Zetern, Jau­len der Wasser­bus­sta­tionen sei weit ins offe­ne Meer hin­aus zuhö­ren. Kein Wun­der demzu­folge, kein Wun­der. – stop

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morgens

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bamako : 16.52 UTC — Mut­ter vor Jah­ren, wie sie aus dem Haus tritt. Es ist frü­her Mor­gen, viel­leicht Okto­ber, Nebel. Sie trägt einen Mor­gen­man­tel, der noch immer in ihrem alten Haus im Bade­zim­mer an einem Haken hängt. Sie bückt sich nach der Zei­tung, schließt die Haus­tür, geht lang­sam, etwas unsi­cher bereits, zum Wohn­zim­mer­tisch, legt die Zei­tung auf ihm ab.  Weni­ge Schrit­te ent­fernt war­tet eine Tas­se Kaf­fee. Die holt sie jetzt. Sie setzt sich vor die Zei­tung und beginnt ihre eige­ne Zei­tung her­zu­stel­len. Das ist ein Vor­gang, der eine hal­be Stun­de Zeit in Anspruch neh­men kann. Um ihre eige­ne Zei­tung her­stel­len zu kön­nen, muss sie die ange­lie­fer­te Zei­tung Sei­te um Sei­te betrach­ten. Sobald sie eine Sei­te ent­deckt, auf wel­cher ein Arti­kel sich befin­det, den sie zu lesen wünscht, trennt sie die Sei­te vor­sich­tig von allen wei­te­ren Sei­ten, fal­tet sie und legt sie zur Sei­te. In die­ser Wei­se ent­steht nach und nach ein klei­ner Sta­pel von Zei­tungs­sei­ten, die die alte Dame nach und nach lesen wird. Sie geht spa­zie­ren, sie geht ein­kau­fen mit ihrem Wägel­chen von schot­ti­schem Mus­ter­stoff, sie tele­fo­niert mit ihren Freun­din­nen und sie sam­melt Blät­ter im Gar­ten und grüßt die Fische, die sich bereits auf den Win­ter vor­be­rei­ten. Indes­sen, immer wie­der ein­mal, ent­fal­tet sie eine der Sei­ten ihrer Zei­tung, um sie zu lesen. Dann ist Abend gewor­den. Unter der Lek­tü­re einer der letz­ten Zei­tungs­sei­ten schläft sie ein im Bett, das in ihrem alten Haus noch immer steht, wie auch die Nacht­tisch­lam­pe und ihre Bücher, ein Turm, die sie vor­hat­te zu lesen. — Im Haus der alten Men­schen, dort, wo über die Flu­re Roll­stüh­le fah­ren, dort wo Mut­ter nun lebt, exis­tie­ren weder Zei­tun­gen noch Bücher. Ich habe das genau so beob­ach­tet. — stop

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in der straßenbahn

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nord­pol : 15.02 UTC — Fol­gen­des. Wenn ich mich schrei­bend mit deut­schen Men­schen aus­ein­an­der­set­ze, die über­zeugt sind, afri­ka­ni­sche Men­schen, die sich auf die Flucht nord­wärts nach Euro­pa bege­ben, sei­en selbst schuld, wenn sie im Meer ertrin­ken, man soll­te Ihnen nicht hel­fen oder nur im Not­fall, wenn jemand da ist, also wenn Hil­fe unver­meid­bar ist, wenn sie dem­zu­fol­ge nicht unsicht­bar und unge­hört zu ertrin­ken dro­hen, stel­le ich mir immer wie­der ein­mal vor, was die­se Men­schen an die­sem schö­nen Sonn­tag wohl gefrüh­stückt haben? Ich fra­ge mich, ob sie gut geschla­fen haben und wie sie woh­nen, ob sie glück­li­che Men­schen oder eher unglück­li­che Men­schen sind? Haben die­se Men­schen Kin­der? Wür­de ich sie in einer Stra­ßen­bahn sit­zend erken­nen? Also sit­ze ich etwas spä­ter in einer Stra­ßen­bahn. Und plötz­lich spü­re ich einen Blick auf mir las­ten, der nicht freund­lich ist. — stop

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eine wiese

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echo : 22.05 UTC — Ich hat­te einen lus­ti­gen Traum. Da war im Traum eine Wie­se unter Apfel­bäu­men. Plötz­lich lag ich in die­ser Wie­se her­um und beob­ach­te­te Wes­pen, wie sie dicht über mir hin- und her­flo­gen auf einer schnur­ge­ra­den Linie. Bemer­kens­wert war, dass sie alle sehr klei­ne Äpfel trans­por­tier­ten in eine der Rich­tun­gen, ich glau­be west­wärts. Am Rand der Wie­se stand, halb schon im Wald, ein Haus. Im Haus traf ich eine alte Frau an, die mit sich selbst zu spre­chen schien. Aber das war dann doch ganz anders gewe­sen, die alte Frau sprach mit den Wes­pen, sie bedank­te sich für jeden der Äpfel, den die Wes­pen über einer Scha­le abwar­fen, die im Schoß der alten Frau ruh­te. Ich erin­ne­re mich, die Küche duf­te­te nach Kuchen­teig. In einem Käfig in einer Ecke des Hau­ses hock­te ein Huhn auf einem Apfel, den das Huhn selbst gelegt haben soll, auf einem Wes­pen­ap­fel oder einem Apfel vol­ler Wes­pen. Dann wach­te ich auf. Ein schö­ner Tag begann. Und jetzt ist Abend gewor­den. In der Stadt Chem­nitz tra­gen Men­schen, die ent­we­der Faschis­ten sind, oder sich nicht scheu­en, in einer Rei­he mit Faschis­ten her­um­zu­lau­fen, wei­ße Rosen am Revers. Eine ent­setz­li­che Geschich­te. — stop
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elisabeth

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char­lie : 0.05 UTC – Vor eini­gen Wochen besuch­te ich das Haus der alten Men­schen, in dem mei­ne Mut­ter wohnt. Ich spa­zier­te über die Flu­re des Hau­ses, mit einem Apfel in der Hand, und war­te­te, dass ich in das Zim­mer mei­ner Mut­ter geru­fen wür­de. Auf einem Sofa am Ende eines der Flu­re vor einem Fens­ter saß eine alte Frau, wie zu einer Salz­säu­le erstarrt. Als ich zum drit­ten Male an ihr vor­über­kam, erin­ner­te ich mich an eine Geschich­te, die ich ein­mal in Brook­lyn erleb­te. Ich hat­te sie vor Jah­ren notiert. Ich schrieb: Im Win­ter des vergan­genen Jah­res, an einem win­dig kal­ten Tag, besuch­te ich in Brook­lyn einen alten Herrn, Mr. Tomas­zweska und sei­ne Frau Elisa­beth. Sie woh­nen nahe der Clark Street in einem sechs­stö­ckigen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hat­te den alten Mann wäh­rend einer Fahrt auf einem Fähr­schiff zufäl­lig kennen­ge­lernt. Er beob­ach­tete, wie ich Fahr­gäste foto­gra­fierte, die ihre Namen heim­lich in die höl­zer­nen Sitz­bänke des Schif­fes ritz­ten. Er sprach mich freund­lich an, woll­te mir einen Schrift­zug zei­gen, den er selbst drei Jahr­zehnte zuvor an Ort und Stel­le in der glei­chen Wei­se wie die beob­ach­teten Passa­giere einge­tragen hat­te. Wir führ­ten ein kur­zes Gespräch über die New Yor­ker Hafen­be­hörde, Eisen­bahnen und Flug­zeuge, weiß der Him­mel, wie wir dar­auf gekom­men waren. Als wir das Schiff ver­lie­ßen, lud Mr. Tomas­zweska mich ein, ein­mal zu ihm zu kom­men. Dar­um stieg ich nur weni­ge Tage spä­ter in den sechs­ten Stock des schma­len Hau­ses auf den Höhen Brook­lyns. Die Tür zur Woh­nung stand offen, war­me Luft kam mir ent­ge­gen, die nach süßem Teig duf­te­te, nach Zimt und Früch­ten. Die Räu­me hin­ter der Tür waren verdun­kelt. Ich hat­te sogleich den Ein­druck, dass ich viel­leicht träum­te oder ver­rückt gewor­den sein könn­te, weil in die­sem Halb­dunkel an den Wän­den, auch auf dem Boden, Lam­pen, Dioden­lichter, glüh­ten. Modell­ei­sen­bahn­züge fuh­ren auf schma­len Gelei­sen her­um. Ich höre noch jetzt das lei­se Pfei­fen einer Dampf­lo­ko­mo­tive, das mei­nen Besuch beglei­tete. Es war eine rasen­de Zeit, Stun­den des Stau­nens, da in der Woh­nung des alten Herrn eine sehr beson­dere Modell­an­lage gas­tier­te, ja, ich soll­te sagen, dass die Woh­nung selbst zur Anla­ge gehör­te, wie der Him­mel zur wirk­li­chen Welt. Alle Züge fuh­ren auto­ma­tisch von einem Com­pu­ter gesteu­ert, die Luft über den Gelei­sen roch scharf nach Zinn. Wir spra­chen indes­sen nicht viel, Mr. Tomas­zweska und ich, son­dern schau­ten dem Leben auf dem Boden in aller Stil­le zu. An einem Fens­ter, des­sen Vor­hän­ge zuge­zogen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Elisa­beth. Sie beach­tete mich nicht, starr­te viel­mehr lächelnd auf eine klei­ne Klap­pe, die in die Wand des Hau­ses einge­lassen war. Manch­mal öff­ne­te sich die Klap­pe und ich konn­te für Momen­te das Meer erken­nen, das an die­sem Tag von grün­grauer Far­be gewe­sen war, wunder­bare Augen­blicke, denn immer dann, wenn das Meer in dem klei­nen Fens­ter erschien, lach­te die alte Frau mit glocken­heller Stim­me auf, um kurz dar­auf wie­der zu erstar­ren. Ein­mal setz­te sich Mr. Tomas­zweska neben sei­ne Frau und füt­ter­te sie mit war­mem Oran­gen­ku­chen, den er selbst geba­cken hat­te. Und wie wir uns wie­der auf den Boden setz­ten, um ein Modell des Orient­ex­press durch die Zim­mer der Woh­nung krei­sen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemein­sam hier oben sehr glück­lich sei­en. Er kön­ne mit sei­ner Frau zwar nicht mehr spre­chen, er kön­ne sie nur noch strei­cheln, was sie ver­ste­hen wür­de oder sich erin­nern an die Spra­che sei­ner Hän­de. Ver­stehst Du, sag­te er, sie ver­gisst immer sofort, alles ver­gisst sie, auch wer ich bin, aber sie ver­gisst nie­mals nach den klei­nen Engeln zu sehen, die uns besu­chen, sie kom­men dort durch die Klap­pe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wun­der, sag­te der alte Mann, wie schön sie lacht, mein jun­ges Mäd­chen, nicht wahr, mein jun­ges Mäd­chen. – stop
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landschaft mit händen

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sier­ra : 22.18 UTC — In einem Zug woll­te mir ein jun­ger Mann einen Algo­rith­mus erklä­ren. Er sag­te: Schau Lou­is, die­ser Algo­rith­mus hier scheint von einer sehr begab­ten Per­son for­mu­liert wor­den zu sein. Ich möch­te behaup­ten, die­ser Algo­rith­mus stellt im Grun­de ein Lebe­we­sen dar. Der jun­ge Mann sah mich mit einem leich­ten Sil­ber­blick an, ver­mut­lich von Begeis­te­rung auf sein Gesicht gespielt. Die­sen Algo­rith­mus, fuhr er fort, sei der­art kom­plex, dass kaum noch ein mensch­li­ches Wesen ihn allein erfas­sen kön­ne. Man müs­se ver­mut­lich über einen leis­tungs­star­ken Rech­ner ver­fü­gen, um auch nur annä­hernd an sei­nen Kern, an eine Idee, die irgend­wo in dem Algo­rith­mus steck­te, her­an­zu­kom­men. Wäh­rend der jun­ge Mann sprach, folg­te ich sei­nen Hän­den, die über die Tas­ta­tur sei­nes Note­books hüpf­ten, als wären sie hell­häu­ti­ge Tie­re. Ich geste­he, ich habe kaum ver­stan­den, wovon der jun­ge Mann eigent­lich erzähl­te, da waren zu vie­le Zah­len im Spiel gewe­sen. Ich dach­te in jenem Moment vor­ran­gig an mei­ne eige­ne Lang­sam­keit, dass ich mit der Zeit zunächst immer schnel­ler wur­de, und dann plötz­lich wur­de ich lang­sa­mer, was ich zunächst nicht bemerk­te, bis ich in einem Zug saß und hel­le Fin­ger­ge­schöp­fe betrach­te­te, die eine Tas­ta­tur bedien­ten. So schnell waren sie vor mei­nen Augen gewe­sen, dass sie nach und nach unscharf wur­den, wie wohl mei­ne eige­nen Hän­de vor den Augen mei­nes Vaters unscharf gewor­den waren, als er sie mit einem selt­sa­men Blick betrach­te­te, des­sen Ursprung ich in einem Zug vie­le Jah­re spä­ter ent­deckt zu haben mein­te. — stop
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sommerhüte

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alpha : 2.08 UTC — An einem war­men Som­mer­abend war­ten Men­schen vor einem Markt auf Bän­ken. Einer nach dem ande­ren tritt in den Laden und kommt bald je mit einer Was­ser­me­lo­ne zurück. Man sitzt dann wie­der auf der Bank, hal­biert die küh­le Frucht, löf­felt sie aus und setzt sich das Scha­len­ge­häu­se auf den Kopf. So gesche­hen in einer mit­tel­eu­ro­päi­schen Stadt an einem Sams­tag gegen zehn Uhr am Abend. — stop

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papiere

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del­ta : 22.58 UTC — In die­sem Moment, da die Tem­pe­ra­tur der Luft 38 °C erreicht, darf ich einen Text zitie­ren, den ich vor Jah­ren bereits notier­te. Er han­delt von Eis­pa­pie­ren und von einem beson­de­ren Kühl­schrank, den ich damals in Emp­fang genom­men hat­te, von einem Behäl­ter enor­mer Grö­ße. Ich schrieb, ich wieder­hole, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­bare Eisbü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­bringen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eisbü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­neren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank aufge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sagen, der von einem Notstrom­ag­gregat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­falles ausrei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eisbü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­liche Vorstel­lung, jene Vorstel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, woll­te ich Eisbü­cher besit­zen, Eisbü­cher lesen, schim­mernde, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schuber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den liebe­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gaszei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eisbuch­rei­se­koffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­terten Bli­cke der Fahr­gäste, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­liche Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hinein­ge­schrieben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eisbuch­rei­se­koffer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem entschlos­senen Blick, ein gie­ri­ges Auge, nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man nicht ange­kommen ist in den fros­tigen Zim­mern und Hal­len der Eisma­ga­zine, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eisti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eisbuch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten arkti­schen Tief­se­ee­is­ge­schichten, auch jene verlo­renen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen, man fürch­tet, sie könn­te zerbre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hörten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. – stop

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von geckos

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nord­pol : 22.32 UTC — Irgend­je­mand, ver­mut­lich eine Per­son, die von dem Haus der alten Men­schen pro­fi­tiert, weil es ihr gehört, bewirk­te, dass das Dach über den Zim­mern der alten Men­schen, auch über jenen, die dem Tode nahe sind, abge­ris­sen wird mit schwe­ren Werk­zeu­gen, um ein wei­te­res Stock­werk auf dem Haus der alten Men­schen zu errich­ten. Staub rie­selt her­ein. Es reg­net. Wenn der Him­mel reg­net, reg­nen auch die Decken in den Zim­mern, als wären sie Wol­ken, und die Wän­de sind feucht, und die Augen der Kran­ken­schwes­tern zit­tern und ihre Nasen beben, wäh­rend sie durch die Flu­re von Zim­mer zu Zim­mern eilen, um die alten Men­schen zu beru­hi­gen, die kla­gen, die nicht ver­ste­hen, was geschieht. Es ist ein Fias­ko, es ist unvor­stell­bar, nie­mand wür­de eine Geschich­te glau­ben, wie die­se Geschich­te, die nicht erfun­den ist, wenn man sie erfun­den haben wür­de. Wie die Geckos über beben­de Wän­de huschen, Geckos in allen mög­lich Far­ben schil­lernd, See­len auf Füßen, die nicht wis­sen wohin. Davon muss erzählt wer­den, wenn ein­mal die rich­ti­ge Zeit gekom­men ist. — stop

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