echo : 22.08 UTC — Immer der Nase entlang spazierte ich zum Markt, wo nachmittags Seemöwen stolzierten über den Boden, den sie längst so gründlich durchsucht hatten, dass Fisch gerade noch als Erinnerung feinster Moleküle in der Luft zu finden war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaunlich. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an einen frühen Morgen vor vielen Jahren. Ich trat damals zur Zeit der Dämmerung auf den Markusplatz. So dicht ruhte Nebel über der Lagune, dass ich nur wenige Meter weit sehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig voran. Vor einem Kaffeehaus hielt ich an, setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Im Luftwasserzimmer, in dem ich Platz genommen hatte, hörte ich Stimmen von Männern, die miteinander sprachen. Auch waren immer wieder Pfiffe zu hören, wie Radare oder Signaltöne. Es waren Männer mit vermutlich Reisigbesen, die den riesigen Platz kraft ihrer Arme und Hände fegten. Auch Melodien waren zu hören gewesen. Ich wartete ungefähr eine Stunde und lauschte. Nie habe ich einen dieser Männer gesehen, aber ich habe von ihnen vielfach erzählt. Es scheint überhaupt die Zeit, da man sich in Venedig noch verlaufen konnte, vorüber zu sein für alle Menschen, die über eine Schreibmaschine mit GPS-Verbindung verfügen. Es ist, glaubt mir, ein Vergnügen, diese Radarschreibmaschine auszuschalten und loszugehen und nach da und dort zu laufen, stets in dem Glauben, man wüsste, wo man sich befindet. Es bleibt dann nichts weiter zu tun, als nach einer halben Stunde die Schreibmaschine hervorzuholen und nachzusehen und sich zu wundern und zu freuen. — stop
Aus der Wörtersammlung: morgen
san marco
echo : 8.15 UTC — In der vergangenen Nacht habe ich geträumt, wunderbare 5 Jahre lang geschlafen zu haben. Als ich erwachte, fühlte ich mich wohl, dann bemerkte ich, dass ich im Wasser stand bis zum Bauch. Das Wasser war warm, es roch nach Tang und nach Salz und nach Öl in diesem Augenblick des Erwachens. Ich hörte vor dem Fenster die Stimmen spielender Kinder. Ich sah mich um und dachte: Was für ein schöner Anblick, all diese Lichter, es muss Nacht sein, Schiffe fahren herum, die von Vögeln gezogen werden, als wären sie Pferde. Dann erwachte ich erneut. Es war früher Morgen, anstatt Kinderstimmen, hörte ich die hell pfeifenden Stimmen einiger Seemöwen. Ich trat an ein Fenster, sah auf den Hof. Da waren tatsächlich Möwen. Sie versuchten, Mülltüten zu öffnen. Manche der Mülltüten lagen auf dem Boden, andere hingen in den Bäumen. Ich fand, die Möwen waren nicht sehr geschickt im Öffnen der Mülltüten. Plötzlich hüpften Kinder auf der Gasse herum. Sie trugen Schulranzen auf dem Rücken und Telefone mit Bildschirmen in ihren Händen. Immer wieder blieben sie stehen und steckten die Köpfe zusammen und lachten. Ich bemerkte, dass der Oleander vor dem Westfenster im Hof zu blühen begann. Es waren rote Blüten. Gestern Abend habe ich Menschen beobachtet, die auf dem Markusplatz um eine Öffnung im Boden standen, aus welcher Wasser sickerte. Sie fotografierten, aber das Wasser war sehr wenig, weswegen sie heranzoomen mussten. Auch waren da Menschen, die Tango tanzten nach Melodien eines Kaffeehaus-Orchesters. — stop
palanca
echo : 22.52 UTC — Abends von der Vaporettostation Palanca her die Küste nach Zitelle spaziert, dann wieder ein kleines Stück zurück. Es ist bald spät geworden, kurz nach 10 Uhr. Langsam, von Schleppern gezogen, bewegt sich in diesem Augenblick das Personenfrachtschiff Queen Mary 2 durch den Giudecca Canal ostwärts in Richtung des offenen Meeres. Da stehen Menschen weit oben an Deck hinter der Reling, die so klein sind, dass man, ohne ein Fernrohr zu verwenden, nicht zu erkennen vermag, ob sie vielleicht winken, man könnte sie für armlose Wesen halten. Weit links, zur Seite gerückt in den Schatten einer Brüstung, hockt auf einer Stufe der Steintreppe zur Chiesa del Santissimo Redentore hinauf, eine junge Frau, die etwas durcheinander zu sein scheint. Da ist ein Koffer, geöffnet. Sie hat den Inhalt des Koffers, Kleider, Schuhe, einen blinkenden Kamm, und Blusen, auch einen Sommerhut, um sich herum ausgebreitet. Sie sitzt dort im Kreis ihrer Besitztümer wie in einem Nest, trinkt aus einer Flasche Wein, und flucht mittels italienischer Sprache zu dem Schiff hinauf, dass es eine wahre Freude ist. Man wird sie dort oben in der Ferne kaum hören, nur ich vermutlich, der in ihrer Nähe hockt und das Wasser beobachtet, das dunkel schimmert. Es die Zeit der Flut bereits. Das Wasser berührt die Kronen der Quais, da und dort geht es an Land, um über das uralte Pflaster zu züngeln. Eine Gruppe von Ameisenschatten passiert mich westwärts, eine halbe Stunde später kommen sie mit ein paar Brosamen zurück. Beständiges Brummen. Gestern war ein sonniger Morgen gewesen, da wurde ich von einem hellen Pfeifen geweckt. Ich öffnete das Fenster, eine Frau grüßte vom gegenüberliegenden Haus herüber, sie brachte an einem Seil, das ein Rädchen an der Fassade meines Hauses bewegte, gerade feuchte Tücher aus, so haben wir Kinder noch Seilbahnen von Haus zu Haus gezogen. — stop
s.alvise
nordpol : 15.55 UTC — Heute Morgen ist mir etwas Seltsames mit mir selbst passiert. Ich war nämlich Einkaufen in einem Supermarkt. Eine alte Dame, sehr freundlich, weckte mich, in dem sie mir erklärte, wo genau ich Plastikhandschuhe finden könne, um Apfelsinen oder Melonen in meine Hände nehmen zu dürfen. Ich muss mich schlafend nach Handschuhen erkundigt haben oder aber habe Äpfel und Birnen barhändig berührt. Die alte Dame war sehr fürsorglich und leise, als ob sie seit Jahrhunderten mit schlafenden Menschen im Supermarkt Umgang pflegte. Ich kaufte für zwei Tage Obst, Krabben und Linsen, und auch etwas Wasser und Kaffee, trat dann aus dem Supermarkt hinaus in die warme, helle Sonne, ein Vaporetto fuhr in wenigen Metern Entfernung an mir vorbei, und ich sah sehr deutlich mich selbst an Bord des Schiffchens stehen, wie ich vielleicht gerade die Echolote einer Twitternachricht beobachtete, welche ich eine Stunde zuvor gesendet hatte. Eine Eidechse flitzte über uraltes Pflaster landeinwärts, zwei junge Seemöwen warteten pfeifend auf die Ankunft ihrer Eltern, und das Wasser zu meinen Füßen blinkte, als sendete es Botschaften irgendwohin. Nachmittags dann war ich spazieren im Cannaregio. Ich glaube, ich habe ein Haus entdeckt, das über keinerlei Türen verfügt, oder aber vielleicht über eine Tür auf dem Dach, eine Dachtür. Ob vielleicht in dieser merkwürdigen Stadt Menschen existieren, die zu fliegen, in der Lage sind? — stop
morgens
bamako : 16.52 UTC — Mutter vor Jahren, wie sie aus dem Haus tritt. Es ist früher Morgen, vielleicht Oktober, Nebel. Sie trägt einen Morgenmantel, der noch immer in ihrem alten Haus im Badezimmer an einem Haken hängt. Sie bückt sich nach der Zeitung, schließt die Haustür, geht langsam, etwas unsicher bereits, zum Wohnzimmertisch, legt die Zeitung auf ihm ab. Wenige Schritte entfernt wartet eine Tasse Kaffee. Die holt sie jetzt. Sie setzt sich vor die Zeitung und beginnt ihre eigene Zeitung herzustellen. Das ist ein Vorgang, der eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nehmen kann. Um ihre eigene Zeitung herstellen zu können, muss sie die angelieferte Zeitung Seite um Seite betrachten. Sobald sie eine Seite entdeckt, auf welcher ein Artikel sich befindet, den sie zu lesen wünscht, trennt sie die Seite vorsichtig von allen weiteren Seiten, faltet sie und legt sie zur Seite. In dieser Weise entsteht nach und nach ein kleiner Stapel von Zeitungsseiten, die die alte Dame nach und nach lesen wird. Sie geht spazieren, sie geht einkaufen mit ihrem Wägelchen von schottischem Musterstoff, sie telefoniert mit ihren Freundinnen und sie sammelt Blätter im Garten und grüßt die Fische, die sich bereits auf den Winter vorbereiten. Indessen, immer wieder einmal, entfaltet sie eine der Seiten ihrer Zeitung, um sie zu lesen. Dann ist Abend geworden. Unter der Lektüre einer der letzten Zeitungsseiten schläft sie ein im Bett, das in ihrem alten Haus noch immer steht, wie auch die Nachttischlampe und ihre Bücher, ein Turm, die sie vorhatte zu lesen. — Im Haus der alten Menschen, dort, wo über die Flure Rollstühle fahren, dort wo Mutter nun lebt, existieren weder Zeitungen noch Bücher. Ich habe das genau so beobachtet. — stop
von lampen
tango : 22.15 — Ein Mann schob einen kleinen Wagen einen Flur entlang. Der Wagen war bepackt mit größeren oder kleineren elektrischen Lampen, die der Mann entzündet hatte, so als wollte er, dass ich sie alle sehen könnte, vielleicht um sie an mich zu verkaufen. Nein, eigentlich war das ganz anders gewesen, ich wusste, der Mann verkaufte keine Lampen, sondern er tauschte Lampen aus, Deckenlampen, Schreibtischlampen, Notleuchten, Lichttapeten, glimmende Stäbchen, auch fliegende Lichter, Drohnenleuchten. Diese Drohnen, winzige Wesen, sausten um seinen Kopf herum, als wären sie Insekten, Fliegen, die Stirnlampen trugen, mit welchen sie mehr oder minder freiwillig ausgerüstet, ihren Flug dokumentierten. Wahre Wolken von Licht waren zu bemerken, auch saßen Fliegen auf dem Rücken des Mannes, der in einer Weise leuchtete, als wäre Schnee gefallen. Da war noch eine Schnecke, die sich über seinen Hals bewegte, auch die Schnecke leuchtete: Das sah sehr schön aus, das viele Licht und der Mann, der seinen schaukelnden Wagen über den Flur schob, gerade auf mich zu. Plötzlich blieb der Mann stehen. Er fragte, ob ich die Schnecke haben wolle, sie sei zahm, sie ernähre sich von Staub, den sie zu sehr feinen Würmchen pressen würde, welche ich dann bequem aufsammeln könnte. Außerdem sei sie wunderschön anzusehen nachts auf ihrer Wanderung durch die Dunkelheit. Ohne eine Antwort abzuwarten, fasste sich der Mann an seinen Hals und zog am Gehäuse der Schnecke, die sich wehrte, sie leuchtete zunächst rot und dann blau, und wurde schließlich in dem Moment, da sie sich vom Hals des Mannes löste, grün. So, in dieser grünen Farbe leuchtend, reiste sie an der Hand des Mannes durch die Luft. Kurz darauf hockte sie an meinem Hals, dicht unter dem Kinn. Ich vermochte ihr Licht an meiner Schulter erkennen, die Schnecke schien sich wohlzufühlen, leuchtete in einem schwachen Orange, das pulsierte, langsam, beruhigend. Ich solle ihr einen Namen geben, sagte der Mann. Dann war Morgen, es regnete, seltsamerweise aus einer Wolke, die sich unmittelbar über meinem Bett unter Zimmerdecke türmte. — stop
samuel beckett : 16 steine
romeo : 3.25 UTC – Ich nutze diesen Aufenthalt, um mich mit Steinen zum Lutschen zu versorgen. Es waren kleine Kiesel, aber ich nenne sie Steine. Ja, dieses Mal brachte ich einen bedeutenden Vorrat von ihnen zusammen. Ich verteilte sie gleichmäßig in meinen vier Taschen und lutschte sie nacheinander. Dadurch entstand ein Problem, das ich zunächst auf folgende Art löste: Angenommen, ich hatte sechzehn Steine und vier davon in jeder meiner vier Taschen, nämlich in den zwei Taschen meiner Hose und den zweien meines Mantels. Wenn ich einen Stein aus der rechten Manteltasche nahm und in den Mund steckte, so ersetzte ich ihn in der rechten Manteltasche durch einen Stein aus der rechten Hosentasche, den ich durch einen Stein aus der linken Hosentasche ersetzte, den ich durch einen Stein aus der linken Manteltasche ersetzte, den ich wiederum durch den Stein in meinem Mund ersetzte, sobald ich mit dem Lutschen fertig war. Auf diese Weise befanden sich immer vier Steine in jeder meiner vier Taschen, aber nicht genau dieselben … / Mittwoch. stop. Wieder Samuel Becketts wunderbarer Text der sechzehn Steine an diesem späten Abend. Dunkel. Schwere, würzige Luft der Kastanienblüte. Nachtbienen pfeifen am Fenster vorüber. Das war schon einmal so gewesen. — stop
von sekunden
alpha : 6.01 UTC — Ich bleibe stehen. Es ist früher Morgen. Was höre ich? Was lässt sich denken? — stop
nachtuhr
india : 0.06 UTC — Diese eine Minute in der Nacht. Ich stehe in der Diele im Licht und schaue auf meinen linken Arm. Ich meine, eine Uhr zu erkennen, die sich unter meiner Haut befindet, eine winzige Uhr mit einem blauen Zifferblatt, es ist dort kurz nach 2 Uhr. Ich bin überzeugt, diese Uhr noch nie zuvor gesehen zu haben. Ich gehe in die Küche und schreibe im Halbschlaf auf einen Zettel: Nachtuhr suchen. Dann schlafe ich wieder ein und finde am Morgen auf dem Tisch neben Äpfeln und Bananen meine Notiz. Seltsame Geschichte. Ob vielleicht Uhren dieser Art existieren, tauchende Uhren. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Bald wieder schlafen. — stop
°^°
india : 20.05 UTC — Morgens in den Schnellbahnen pfeifen Mobiltelefone als wären sie Menschen. Das ist sehr wirkungsvoll, ich hebe, obwohl ich es besser weiß, fast immer den Kopf. — stop