ginkgo : 7.03 UTC — Der Mann versteht nicht, warum ich ihm einen ängstlichen Blick schenke. Er steht am Rande der Leipzigerstraße und ruft: Himbeeren 1 Euro, Himbeeren 1 Euro. Er brüllt diese Formel Stunde um Stunde mit seinem Atemwind unter die passierende Leute, Passanten, und wenn man nun denkt, er könnte ein infizierter Sänger sein, dann wird man bemerken, dass es gefährlich sein könnte, hier ohne Maske, ohne Brille über die Straßen zu spazieren. Und im Café diese nette lauthals telefonierende Person: Mein Gott, sagt sie zur Liesel, wenn das nur ein Weihnachten nicht wird, mit einem Lockdown schon wieder! Wenn sie einmal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Winde, die alles das Unsichtbare schön durch die Räume tragen, Luftbusse fahren herum, Zeppelinwolken. Es ist schon seltsam was man alles so sieht und hört neuerdings. — stop
Aus der Wörtersammlung: nacht
lumineszenz
nordpol : 20.55 UTC — Vor Jahren einmal habe ich an dieser Stelle bereits über Winterkäfer nachgedacht, es war wohl Winter gewesen. Seltsamerweise ist mir damals ein ganz anderer Käfer eingefallen, ein Wesen, für das ich noch immer keinen Namen gefunden habe. Dieser namenlose Käfer sollte ohne Ausnahme paarweise erscheinen, weich sein wie eine Schnecke und von der Körpertemperatur der Menschen und genauso groß, dass er sich in die Augenhöhle eines Schlafenden einzuschmiegen vermag. Dort wird der noch namenlose Käfer sich nicht allein als Nachtschirm begnügen, stattdessen wird er ein wenig fließen und in dieser Weise in Bewegung, sehr entspannende Polarlichtspiele von milder, beruhigender Lumineszenz erzeugen auf den Augenlidern der schlafenden Menschen. — Ich habe diese kleine Geschichte gerade eben noch einmal erzählt, weil ich heute während des Spazierens überlegte, ob es nicht vorteilhaft wäre, Käferwesen zu entwerfen, die sich in schützender Weise auf meinen Mund und meine Nase legen würden, mich wärmen und die Luft zugleich filtrieren hinein und auch hinaus. Am späteren Abend werde ich eine Zeichnung versuchen. Käfer dieser Art sollten vielfarbig gestaltet sein. Nichts weiter. — stop
~/library/spelling
ginkgo : 9.35 UTC — Von Montagmorgen dieser Woche bis heute, Mittwochabend, lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Appalachen . Drohnengestaltmantel . Evakuierungsgebiete . Graswurzelbewegung . Grillwagen . Herznusstext . Homelesspeople . Hurricane . Kiemenmenschen . Lakritzwasser . Lötlampeneffekt . Makimensch . Montauk . Nachthausgeschichte . Plastiktonnenboote . Randomgefäß . Schlafdurcheinanderzeit . Seetangklumpen . Streetworker . Lakritzwasser . Suchzettelwälder . Teigtasche . Topormodus . Triage . Umspannwerk . Vitalfunktion. Nachtspeicherpoeten. — Faszinierende Sache. — stop
auf der intensivstation
ulysses : 8.22 UTC — Am Telefon berichtete eine Schwester der Intensivmedizin: Heute Nacht war es ernst, sie hatte eine Atemkrise. Vielleicht wollen sie kurz vorbeikommen? Eine Straßenbahnhalbstunde später trat ich in die Station. Seltsam hupende Geräusche von da, von dort. Blinkende Apparaturen, gelb, rot, grün. Eine weitere Schwester erzählte, sie habe morgens bei der Übergabe gehört, es sei knapp gewesen: Das Leben ihrer Freundin hing an einem seidenen Faden. Und ich dachte, sie wird nicht dieselbe sein, wenn sie wieder aufwachen wird. Wer wird sie sein? Und ich dachte noch dazu: Jedes der Zimmer an diesem Ort, jedes Abteil, ist eine Sorgenwelt. Und schon saß ich auf einem Stuhl vor dem Bett der Schlafenden. Sie lag auf dem Bauch, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Ohren. Eine der tapfer fröhlichen Schwestern schlug vor, ich solle doch möglichst mit der Schlafenden sprechen: Das mögen sie nämlich! Und schon waren wir unter uns allein mit den Maschinen. Ich versuchte also zu sprechen. Es ist schwer, einer schlafenden Person zu erzählen, man hört nur sich selbst, und man glaubt nicht, was man erzählt, obwohl doch alles wahr ist, was man erzählt. Sofort in dieser Notlage suchte ich in den Magazinen meiner Schreibmaschine nach Geschichten, die ich vorlesen könnte, vorlesen, sagen wir, wie sprechen, mit meiner Stimme locken. Ich sagte: Folgendes, hör zu! Da ist ein Museum, das Museum der Nachthäuser, das sich in New York am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der East River so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man aller freundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
regenhell
whiskey : 22.14 UTC — Einmal, vor Jahren, wachte ich auf. Es war hell im Zimmer. Ich bemerkte, dass es über Nacht unerwartet heftig geschneit hatte, all das Weiß vor den Fenstern, und ich dachte für einen Moment, ich sollte das Bild korrigieren. Und gestern nun eine ähnliche Geschichte, es hatte geregnet, die Bäume vor meinem Fenster tropften, ein Knistern oder leises Rauschen. — stop
im wartesaal
delta : 11.16 UTC — Alle Welt scheint zu warten auf besseres Wetter, auf E‑Mail, auf Briefe, Anrufe, Begegnungen, Kinder, eine Bitte, eine Entscheidung, einen Dank, eine Nachricht, eine Rückkehr, ein Lebenszeichen, eine Impfung, auf das Ende der Nacht, der Tage, des Lebens. Viel Zeit vergeht. — stop
kalkutta
echo : 0.25 UTC — Einmal wollte ich nach Kalkutta reisen. Ich dachte, das ist jetzt eine beschlossene Sache. Ich machte mich unverzüglich an die Vorbereitung meiner Reise: Koffer, Regenschirm, Ausweis, Apotheke, Impfungen, Notizbücher, Schreibmaschine, Fotoapparate, Flug hin und zurück, Hotelzimmer, Stadtplan, Literatur, Sonnenhut. Wenige Tage später erreichte mich ein erstes Paket des Dokumentarfilms Phantom Indien von Louis Malle. Ich las, der Film habe insgesamt eine Spielzeit von 6 Stunden und 3 Minuten. Solange Zeit, stellte ich mir vor, könnte eine Fahrt quer durch Kalkutta mit dem Taxi dauern. Es ist nun überhaupt die Frage, wie lange Zeit sollte ich mich mit der Vorbereitung meiner Reise nach Kalkutta beschäftigen? — Lange Zeit in der vergangenen Nacht das nordamerikanische Fernsehen beobachtet. Wie man sich in den Worten, wenn man sie spürt, finden kann, kann man sich im Rauschen rasender Worte verlieren. — stop
auf stelzen
echo : 0.08 UTC — Einmal war ein merkwürdiger Tag gewesen, die halbe Stadt stand im Wasser wie auf Stelzen. Man hörte das Wasser nicht, aber es war anwesend, in den Kellern, in den Stimmen in den Telefonen, den Unterführungen, den tiefer gelegenen Straßen. Spät, hoch auf einem Stelzhaus, sagte Marguerite Duras, sie führte ein Gespräch mit dem französischen Regisseur Benoît Jacquot auf einem Fernsehbildschirm, berührende Sätze über das wilde Schreiben, über die Verbindung von Zweifel und Einsamkeit. Ein Schriftsteller sei stumm. Unmöglich, über ein Buch zu sprechen, das gerade im Entstehen begriffen ist. Ein Buch sei Nacht. — Es ist nun Jahre später. Ich fuhr im Zug. Ich schaute in mein Notizbuch, las vom Wasser und von den Stelzen. Da stürmt ein Mann in den Zug, setzt sich unmittelbar neben mich, schnauft. Eine junge Frau steht auf und läuft davon, ein weiterer Mann steht auf und läuft davon. Der Mann, der sich neben mich setze, schnauft. Ich bemerke, er trägt keine Maske vor Nase und Mund. Also stehe ich auf und laufe davon. Es war ein merkwürdiger Tag gewesen. — stop
auf dem bildschirm
nordpol : 3.55 UTC — Philip Roth, der in einem Gespräch von einem Bildschirm aus erzählt, ein Schriftsteller müsse losschreiben, dürfe sich nicht beschränken, vor allem nicht seine Sprache. — Kurz vor Dämmerung. Sechs Marienkäfer haben in dieser Nacht zu mir gefunden. Wie sie geräuschlos über schneeweiße Wände laufen, immer wieder kurz sitzen, dann weiter, dann wieder sitzen, vielleicht schlafen. — stop
fred im zug
sierra : 22.32 UTC — Im Zug, es war Samstag, saßen nur wenige Menschen. Sie trugen alle eine Maske vor Mund und Nase. Ein seltsamer, berührender Anblick. Gerade deshalb, weil sie schliefen, wirkten sie verletzlich. Wie ich langsam an den Schlafenden vorüberging, die Versuchung je einer Fotografie. Plötzlich dachte ich an den Posaunisten Fred Wesley: Wie geht es Dir, Fred? Ich erinnerte mich so im Gehen an eine Nacht vor Jahren, da ich Fred Wesley mittels eines Filmdokuments so lange beobachtet hatte, bis ich der festen Überzeugung gewesen sein konnte, eine Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert: Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das hoffentlich noch immer so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, für Sekunden vor einem Mikrofon verharrt. Ich hatte damals den Verdacht, der alte Posaunist verfüge über die Fähigkeit, außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten. Deshalb notierte ich unverzüglich folgende E‑Mail: Sehr geehrter Mr. Wesley, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich sogleich mit meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop