sierra : 15.12 UTC — In der vergangenen Woche lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Aquariumzimmer . Audiacity . Bodymind . Bienenschwarmmaschine . Boosterimpfung . Spieldosensammlung . Selberdenken . Taucherhandzeichen . Taschkent . Tagmensch . Rüsselrosen . Sandwellenwinde . Schlafduft . Parabelbahn . Nashornkäfer . Nachtstraßenmuseum . Nomadland . Notknopfseile . Makitage . Makisonare . Lichtfangmaschine . Lichtenbergfalter . Instanzname . Holzstegfeder . Kiemenmädchen . iMovie . Itinerar . Höhlenachtbild . Kuppelwerk . Flamingobeine . Feneon . Geisterflotte . Emotionsregulation . Erzählräume . Dronenkamera . Fakekinderwagen . Dauerschlafen . Drohnenleuchten. — stop
Aus der Wörtersammlung: nacht
tokio
marimba : 22.28 UTC — Es ist spät geworden, beinahe Nacht. Auf einem Bahnsteig unter dem Flughafen warten Reisende, sitzen auf dem Boden, auf Koffern, auf Bänken, stehen, lehnen aneinander oder drehen sich auf engem Raum um die eigene Achse, schlafwandelnde Tänzer, die gerade noch in Madrid oder Tokio gewesen sind. Sie alle tragen ein Papiersegel vor dem Mund, manche von hellblauer Farbe, manche Weiss, andere in Tönungen, die für Mundsegelfarbe neu erfunden sind, grün, gelb, rot. Ein Mann spaziert dort auf und ab. Er nimmt den Weg entlang der Bahnsteigkante, balanciert vor dem Abgrund, als würde er riskantes Gehen lange Zeit geübt haben. Und wie er an mir vorbeikommt, hör ich ihn sprechen: Dieses Corona — Virus! Reine Erfindung, das ist verrückt, das Virus müsste man doch sehen! Ihr seid alle nicht bei Trost! — So formulierend spaziert er den langen Bahnsteig auf und ab. Seine Stimme spricht sanft, vielleicht ein wenig zornig, weil er bemerkt, dass man ihm nicht zuhört, dass ihm niemand antworten möchte, vielleicht sagen: Ja, mein Herr, das Corona — Virus ist tatsächlich eine reine Erfindung. Wir hören jetzt sofort auf mit der Erfindung. Alles wird gut! — Und dann kommt der Zug. Auch der Mann steigt in den Zug. Ich sitze, ich warte, ich würde ihn gern fotografieren, eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, einen Herrn, der flüchtet und doch bleibt. Einmal, kurz, meinte ich seine Stimme zu hören. — stop
krim : lichtbild no 3
romeo : 8.52 UTC — Associated Press veröffentlichte vor wenigen Jahren eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem kleinen Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, ausserdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Yalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 im 508 Stock bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Strasse getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop
irkutsk
marimba : 8.12 UTC — Ich beobachtete Filmaufnahmen, die in Irkutsk aufgenommen worden waren. Irgendjemand spazierte eine Straße entlang. Dort Häuser von Holz, Häuser, deren Fenster bis zum Boden hin reichten. Die Häuser wirkten, als würden sie langsam in den Boden versinken. Das komme, hörte ich, weil die Häuser über keinen Keller und kein Fundament verfügten. Sie seien auch nicht gut isoliert nach Unten hin, sodass die Wärme, die Menschen mit Öfen oder ihren Körpern entfachten, den Boden unter den Häuser tauten. In der vergangen Nacht träumte ich, in einem dieser Häuser selbst zu wohnen. Ich sass auf einem weichen Sofa und erzählte, dass ich geträumt habe, wie ich eine Strasse in Irkutsk entlang gehe und filme, indessen ich mich selbst erkenne, wie ich in der Tiefe auf einem Sofa sitze. — stop
am hugli
nordpol : 15.22 UTC — Einmal, es war Dezember, hörte ich zu, wie ich mir erzählte, ich würde im Auftrag einer Geschichte in dem kommenden Jahr nach Kalkutta reisen. Ich dachte, tatsächlich scheinen Geschichten, sobald sie sich verwirklichen, Persönlichkeiten zu werden, die Weisungen erteilen. Noch in derselben Nacht träumte ich von einer indischen Briefmarke, auf welcher Kiemenmenschen, eine Dame und ein Herr, in Wasser schweben. — stop
von fliegentieren
india : 20.02 UTC — Fliegen existieren, die sich im Moment der Dunkelheit an eine Wand setzen, auf ein Buch, auf den Boden, auf das vom Taglicht erwärmte Holz meines Schreibtisches. Dort verweilen sie still, bis es wieder hell wird, sie sind die Schläfer unter den Fliegen, Nachtschläfer. Indessen sind weitere Fliegen zu beobachten, die kaum sichtbar sind, solange Licht ist in meinen Zimmern, sie scheinen sich mittels Bewegungslosigkeit zu verstecken. Ich höre sie nicht, ich sehe sie nicht, ich vergesse, dass sie anwesend sind oder ihre Anwesenheit möglich sein könnte. Und dann ist also Dunkel. Unverzüglich fliegen sie los, Spuren der Duftmoleküle folgend landen sie auf Wangen, Stirn oder einer Schulter, die freilegt, die schläft, die in diesem Augenblick der Landung erwacht. Man könnte sagen, die Nachtflieger unter den Fliegen, bewirken Licht. Kaum stehe ich schlaftrunken neben dem Bett, haben sie sich bereits wieder versteckt. Sie wissen um den Zorn. Und sie wissen, dass bald wieder Dunkel werden wird. — stop
brieftaubenwörter
ginkgo : 18.08 UTC — In den Monaten Februar und März lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Bangsein . Apfelbananenmus . Brieftaubenwörter . Druckluftbauch . Filmbetrachtungsgesicht . Fangschreckenkrebs . Flugfilmzeit . Gefiederkarte . Krokodilmodell . Libellengespräch . Looter . Lötlampeneffekt . Miniaturensand . Nachtschiffgedanken . Mundschutzalgorithmus . Niddapark . Pfuhlschnepfe . Rebusprizip . Spurwerk . Stehschirmchen . Sonderquerdruck . Tangfahne . Summlaut . Twittertourette . Ungeimpft . Vortraumzeit . Watermen . Wortkernbilder . Zeppelinallee . Tastmaschine . Arktiswind . Zeigerblüte . Makimensch . Miniaturensand . — stop
vom nachtstrassenmuseum
alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Menschen auf der Strasse tief unter meinem Fenster nach Süden hin kurz vor Beginn der Ausgangssperren sich beeilen würden nach Hause zu kommen. Sie gehen voran so wie immer um diese Zeit, aber allein. Es sind ausserdem wenige Menschen, die sich dort unten bewegen. Für einen Moment dachte ich, vielleicht haben sie Eintritt bezahlt für das Museum der Nachstrassen zu Zeit der Ausgangsperre: 150 Euro. Ich muss das beobachten, das Museum, die Menschen, und die Nachtbienen, ihre Geräusche, ihre Wege, ihre Besuche hier oben, wo ich am Fenster stehe. — stop
ms molinari
whiskey : 15.47 UTC — In der Nacht zum 10. Dezember 2015 war etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Ich beobachtete auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine die pendelnde Bewegung zweier Fährschiffe der Staten Island Flotte auf der Upper New York Bay. Es handelte sich einerseits um die Fähre MS Molinari, andererseits um die Fähre MS Andrew J. Barberi. Stundenlange planmäßige Reisen der Schiffe von Stadtteil zu Stadtteil. Plötzlich, es war gegen 4 Uhr europäischer Zeit gewesen, 10 Uhr abends in New York, nahm die Fähre MS Molinari Kurs auf das offene Meer hinaus, ein so von mir noch nie zuvor beobachteter Vorgang. Nach einer halben Stunde wurde das Schiff langsamer, wartete einige Minuten, als würde es nachdenken, um kurz darauf zu wenden und zur St. George Terminalstation zurückzukehren. Wenige Minuten später verließ die Fähre John F. Kennedy, eigentlich eine Tagfähre, das Terminal in Richtung Manhattan Süd. Ich notierte: Das ist tatsächlich sehr seltsam, ich muss wach bleiben, ich muss das Seltsame weiter beobachten. Also blieb ich wach. Ich beobachtete stundenlang, längst war die Sonne aufgegangen, Fährschiffe der Staten Island Flotte auf einer digitalen Karte, ihre Symbole, ihre Namen. Am Nachmittag gegen 15 Uhr schlief ich vor dem Bildschirm ein. Zu diesem Zeitpunkt neigte sich in New York die Nacht langsam ihrem Ende zu. — stop