foxtrott : 0.28 – Einmal nur für kurze Zeit die unverrückbare Grenze des Todes mittels eines Funkgerätes überschreiten. Ich stellte mir vor, ich könnte ein Gespräch führen mit einem Selbstmordattentäter, sagen wir mit MMK. Ich berichtete O. von dieser Idee. Ich sagte, stell Dir einmal vor, ich würde folgende Sätze sprechen: Lieber MMK, jetzt bist Du also tot, Du hast Deinen Auftrag zur vollen Zufriedenheit Deiner Vorgesetzten erfüllt, Du hast Dich in die Luft gesprengt, in alle Himmelsrichtungen sind Teile Deines Körpers davongeflogen. Wie geht es Dir jetzt? Wo bist Du, mein Freund? — O., der interessiert zugehört hatte, antwortete: Sag, lieber Louis, was erwartest Du denn, was MMK antworten würde? Ehe ich sprechen konnte, setzte O. fort, er sagte: Ich nehme an, Du wirst daran denken, dass er Dir sagen wird: Kein Paradies. Dunkel. Nichts. Ich bin allein, verdammt. Er schaute mich bedeutungsvoll an. Was aber, lieber Louis, machst Du, wenn er Dir erzählt, dass er im Paradies angekommen sei, dass alles noch wunderbarer sei, als je vorgestellt, ja, was machst Du dann, mein Junge? — stop
Aus der Wörtersammlung: op
the look of silence
papa : 0.45 — Als ich gestern Abend den außergewöhnlichen Dokumentarfilm The Look of Silence betrachtete, ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Meine Schnecke Esmeralda stürzte nämlich aus 1 Meter Höhe von der Wand auf den Fußboden, woraufhin ich die Schnecke vorsichtig in die Hände nahm und nach möglichen Schäden suchte. Als ich die Schnecke kurz darauf wieder vor die Wand setzte, als Esmeralda nach weiteren 2 Minuten erneut von der Wand stürzte, stoppte ich den Film und überlegte, ob meine Schnecke möglicherweise krank geworden sein könnte. Indessen kletterte Esmeralda, wie unter einem Zwang, zum dritten Mal die Wand hinauf, dieses Mal jedoch fiel sie nicht auf den Boden zurück. Besorgt verfolgte ich ihre Bewegung mehrere Minuten lang, alles ging so lange gut, bis ich die Betrachtung des Filmes fortsetzte. Nach einigen weiteren Versuchen ist nun Folgendes zu berichten. Esmeralda reagiert scheinbar auf Geräusche, die der Film erzeugt. Ich nehme an, meine Schnecke wird von Rufen der Zikaden, welche im Film immer wieder über längere Zeit zu hören sind, müde, sie schläft ein, sie vergisst sich sozusagen, ihre Lage an der Wand, die gefährliche Tiefe unter ihr. Eine erstaunliche Beobachtung. Ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, ob Schnecken über ein Hörvermögen verfügen, es ist denkbar, dass Schnecken über ein Körperhautohr gebieten. — stop
schnee
olimambo : 2.22 — Ich hörte das Geräusch einer scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand wollte mich wecken, obwohl ich doch bereits wach geworden war. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte, ich hatte über das Geräusch schon einmal notiert. Ich erinnerte mich zunächst an meinen Text und dann an den Ursprung des Geräusches, das ich hörte, oder war es vielleicht genau andersherum gewesen? Das Geräusch meiner Erinnerung kam von einem Glöckchen her, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht worden war, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. Heute Schnee, sehr leise. — stop
vor schnee
marimba : 6.18 – Ein Zoologe, L., mit dem ich gestern am späten Abend telefonierte, erzählte von einer Reise nach Grönland im vergangenen Frühling. Er sei eingeladen gewesen, an der Besichtigung eines schlafenden Wales teilzunehmen, der in einer tiefen Bucht vor Oqaatsut senkrecht mit dem Kopf nach oben im kalten Wasser schwebte. Ein großartiger Anblick, dieser mächtige Körper, umschwärmt von Seehunden, die unter gleichermaßen neugierigen Fischen wilderten. Von der nautischen Gesellschaft der Universität Oslo seien mehrere Kameras eingesetzt gewesen, die den Wal Zentimeter für Zentimeter untersuchten. Erste Hinweise deuteten auf eine möglicherweise noch unbekannte Spezies hin. Man sei am zweiten Tage der Untersuchung behutsam mittels eines Körper-U-Bootes in das Innere des Wales vorgedrungen, habe in die Dunkelheit des Magens geleuchtet, um dort zwei sehr alte Kämme von Elfenbein vorzufinden, ein Kofferradio, drei Rettungsringe ohne Beschriftung, einen Peilsender, sowie fünf Bücher, die merkwürdigerweise von wasserfester Substanz gewesen seien. Am kommenden Sonntag, so L., reise er nach Oqaatsut zurück, der Wal schlafe noch immer, er habe indessen kaum an Körpermasse verloren, was höchst erstaunlich sei. – Freitag. Früher Morgen. Die Luft duftet nach Schnee. – stop
5 stunden
nordpol : 10.22 – Ich beobachte das Fernsehgerät. Eine Reporterin des amerikanischen Fernsehens berichtet aus St. Denis, einer kleineren Stadt nordöstlich der größeren Stadt Paris. Sie erzählt in Echtzeit fünf lange Stunden lang. Die Sendung beginnt gegen 4 Uhr morgens, da ist es noch dunkel am Himmel, aber eine Straße der kleineren Stadt wird hell erleuchtet von Blaulicht und Scheinwerfern der Kameras, die nach Bildern und Geräuschen eines schweren Kampfes suchen. Schüsse sind zu hören, rhythmisch, drei oder vier dumpfe Detonationen. In Hauseingängen, vor Straßenecken, auf einer Kreuzung warten Polizisten und Soldaten, sie bewegen sich so, als wäre tiefster Winter, sie scheinen überhaupt nervös zu sein. Hinter der Flucht alter Häuserfassaden, die auf dem Bildschirm in einer scheinbar unverrückbaren Einstellung zu sehen ist, tobt dieser Kampf, das ist sicher, es heißt, eine Frau habe sich mittels eines Sprengstoffgürtels getötet, von Festnahmen wird berichtet, Namen junger, berühmter Terroristen werden postuliert. Weil doch nur selten hörbar geschossen wird, werden etwas später, es ist Tag geworden, hell, immer wieder Szenen einer Zeit auf den Bildschirm gespielt, als noch Dunkel war am Himmel, als noch geschossen wurde, sodass alle es hören konnten, die gerade erst wach geworden sind. Gestern erzählte mir Nasrin, die in einem Café am Flughafen arbeitet, ein Kollege deutscher Muttersprache habe sie gefragt, ob M., ein weiterer Kollege, vielleicht sich freuen würde, dass in Paris so viele Menschen getötet worden seien. Sie habe geantwortet, er solle M. doch selbst befragen, woraufhin der Kollege deutscher Muttersprache gesagt habe, ihm würde M. ja doch niemals die Wahrheit sagen. Da habe sie nicht weitergewusst, sie habe den Wunsch gehabt, sofort einzuschlafen oder aufzuwachen. – stop
im zug kürzlich
india : 0.12 – Ein Mädchen, das möglicherweise gerade erst sprechen lernte, in einer Sprache, die ich nicht verstehe, steht im Zug vor mir. Ich notiere auf ein Blatt Papier, als ich die kleine Person bemerke. Ich sage: Hello! Sofort schließt das Mädchen die Augen, bleibt aber wie angewurzelt vor mir stehen. Wenige Meter entfernt sitzen zwei Frauen und vier Männer, sie tragen Anoraks, die zu groß sind, die Frauen außerdem Kopftücher und Handschuhe, obwohl es im Zug warm ist. Sie scheinen müde zu sein, niemand spricht. Einer der Männer beobachtet mich, ein ruhiger, aufmerksamer, freundlicher Blick, ich denke noch, was sieht er in mir, da öffnet das kleine Mädchen seine Augen wieder, schaut mich an, kein Lächeln, als ich eine Hand hebe und winke. Ein Gesicht, blass, fast weiß, tiefe, dunkle Ringe unter den Augen, die glänzen. Was haben diese Augen gesehen in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren, vielleicht Menschen, die tot sind, wie sie auf einer Straße liegen, eine Hand der Mutter, die Augen des Mädchens bedecken im Moment einstürzender Häuser, Luft voller Fliegen unter einem Zeltdach, das nächtliche Meer, schreiende Menschen vor Stacheldraht bewehrten Toren, rasende Schäferhunde, die in Ungarn geboren worden sind? – Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen. / Julian Barnes Arthur & George – stop
sanguin nitro
echo : 0.12 – Ich wiederhole: Es ist eine Frage der Zeit, ehe irgendein Verrückter menschlichem Blut Sprengstoffmittel zufügen wird. Ein Lachen der Zünder. Oder ein Klatschen der Hände. – stop
paris : 5 minuten
sierra : 3.15 – Der junge Mann will wissen, ob ich vielleicht gerade Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Sein Gesichtsausdruck, indem er auf mein Mobiltelefon deutet, ist ernst. Ich wohne in Paris, sagt er, ich bin dort aufgewachsen, ich studiere in Deutschland, ich habe versucht meinen Großvater zu erreichen, aber er meldet sich nicht, ich komme nicht durch, ich bin so aufgeregt, auch meine Freundin ist verschwunden. Wir stehen am Bahnhof, warten auf einen Zug, der in Richtung des Flughafens fährt. Es ist kurz nach Mitternacht. Auf dem Mobiltelefon des jungen Mannes wird von achtzehn Todesopfern berichtet, auf meinem sind bereits über vierzig Menschen gestorben. Der junge Mann läuft immer wieder einmal einige Meter den Bahnsteig entlang, schaut auf sein Telefon, hält es an sein Ohr, kommt wieder zu mir zurück, fragt, ob ich etwas Neues in Erfahrung bringen konnte. Ich sage: Ich glaube, für Frankreich wurde gerade der Ausnahmezustand erklärt. Oh Gott, antwortet der junge Mann, was ist nur geschehen! Er steht ganz still vor mir, schaut mich an. Wir kennen uns eigentlich nicht gut. Fünf oder sechs Minuten Zeit sind vergangen, seit der junge Mann fragte, ob ich Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Plötzlich klingelt sein Telefon. – stop
lissabon
zwergdrache
marimba : 2.24 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarz-Weiß-Fotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorn hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – stop