himalaya : 0.02 — Besonderer Abend, Frostnacht erwartet. Seit zwei Stunden schwebt der Zeiger meines Außenluftthermometers dicht über der Nulllinie. Stehe am Fenster und freu mich darauf, dass ich das erste Eisbuch meines Lebens, das seit Monaten im Kühlschrank auf Pangasiusfilets gebettet liegt, nun endlich hervorholen kann. Werde dann bald in den kleinen Park um die Ecke spazieren und mich auf eine eisige Bank setzten, das Buch behutsam entblättern und lesen im Licht einer Taschenlampe von nordischen Stränden, von Instrumentenbauern und Musikern, die in Zelten wohnen. — Wie mutig wäre ich im Widerstand gegen den geheimdienstlichen Zugriff einer Diktatur auf meine Person? — stop
Aus der Wörtersammlung: op
teheran
echo : 0.02 — Acht Menschen wurden in Teheran, weil sie um Freiheit demonstrierten, zum Tode verurteilt, Hunderte weitere Menschen werden viele Jahre in Gefängnissen existieren. Und doch setzen sich Aufbegehren und Widerstand fort. Meine persischen Freunde. Wie sie jede Nachricht aus ihrer Heimat sorgsam in Gesprächen wiegen, wie sie hoffen, wie sie zwischen Begeisterung, Zorn und Sorge oszillieren. — Die Einsamkeit der Trauernden, die Einsamkeit der Wartenden, indem sie um das Leben eines Verschwundenen bangen. – Vier Uhr zwölf in Naypyidaw, Burma. — stop
engelgeschichte für geraldine
delta : 0.03 — Vor langer Zeit habe ich eine kleine Geschichte geschrieben, die von Engeln erzählt. Ich kann nicht genau sagen warum, ich habe diese Geschichte bereits zweimal aus dem Licht der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie aber nie gelöscht. Als ich gestern nun über die Kindheit eines Mädchens nachdachte, das in einer vornehmen Gegend Manhattans aufgewachsen ist, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich habe nach ihr gesucht. Ich werde sie jetzt für Geraldine an dieser Stelle endgültig notieren. Liebe Geraldine, wo auch immer Du sein magst, diese folgende Geschichte gehört Dir. Hör zu: Einmal, immer nur einmal im Jahr, kommen die Engel der Stadt New York in einer Kirche zur großen Versammlung geflogen. Die steinernen Engel kommen von den Friedhöfen her, die hölzernen Engel aus den Gartenlauben, kostbare Porzellanengel öffnen ihre Vitrinen und segeln über den Hudson durch die kühle Abendluft. Auch von den Tapeten steigen Engel auf, verlassen ihre Postkartenzimmer, Bücher und Zeilen, in welchen sie vermerkt worden sind Zeichen für Zeichen. Sie steigen aus den Träumen der Kinder, der Mütter, der Väter, wie Menschen aus Straßenbahnen steigen sie aus. Sobald sie Luft unter ihren Schwingen fühlen, werfen sie ihre Goldstaubmäntel von den Schultern, springen aus Badewannen, stark schon unterm Wasser geschmolzen, löschen das Licht, das auf ihren Köpfen flackert, umflattern noch einmal kurz die Häupter der steinernen Marien, auf deren Händen sie um ein weiteres Jahr gealtert sind. Es ist kaum richtig Nacht geworden, da kann man es in den Kellern schon ächzen hören, wenn sie sich mit vereinten Kräften gegen die schweren Deckel der Truhen stemmen, in denen sie aufgehoben sind von Fest zu Fest. Man muss sich, sofern man ein Mensch ist, nur im Dezember in Manhattan, Queens oder Brooklyn am richtigen Tag zur richtigen Stunde vor einen Engel setzen. Sobald es dunkel geworden ist, setzt man sich hin und wartet. Man wartet nicht lange, man wartet eine Stunde oder zwei und plötzlich ist der Engel fortgeflogen. Nach Süden ist er geflogen, oder nach Norden, auf kürzestem Weg vorbei an bebenden Vögeln zur größten Kirche der Stadt. Dort nimmt der Engel unter Engeln Platz. Überall sitzen sie inzwischen bis unter die Gewölbe, auf der Kanzel, den Betstühlen, den heiligen Figuren, auch auf den Mosaiken des Bodens, den Chören, dem Altar, den Verstrebungen der Kreuze, den Knochenfiguren, ja, auf Christus selbst haben sie Platz genommen. Sie sind alle sehr leicht. Im Grunde wiegen sie nichts. Sie sind von der Schwere eines Wunsches und sprechen in einer von keinem Forscher erschlossenen Sprache. Fröhliche Engelgestalten, jawohl. Sie lachen, das Lachen der Engel, wie tolle Fledermäuse lachen sie, so hell. Dann, kurz nach Mitternacht ist’s geworden, kommt einer der drei großen Engel, immer kommt nur einer von ihnen und immer kommt er zu spät, wurde aufgehalten im Auftrag befindlich, einmal ist es Gabriel, dann Raphael, dann Michael. Sehr langsam, ein Künstler des Fliegens, schwebt er herein, nimmt Platz auf den Stufen, schlägt die Beine übereinander und leuchtet. Ruhig sieht er unter die Versammlung, während er seine gewaltigen Schwingen hinter dem Rücken faltet. Jetzt werden die kleinen Engel andächtig und still. Vereinzelt kommt noch ein vergesslicher Kundschafter durchs Kirchenschiff gerast, da und dort trudelt ein betrunkenes Federwesen von höherer Stelle. Ist dann alles schön geordnet, erhebt der Erzengel seine Stimme. Es ist ein Singen, ein wunderbarer Altsopran, eine unerhört schöne Sprache. Er sagt: Guten Abend, Engel.
nachricht
delta : 0.02 — Jede 6. Sekunde stirbt auf dieser Welt an Nahrungsmangel ein Kind. — Ist das eine Nachricht? — stop
franny and zooey
foxtrott : 10.00 — Flugzeug über Atlantik quer. 7 Stunden 25 Minuten. Bewegung auf dem Bildschirm wie Dämmerung, wie Eisschmelze, wie Graswachsen. Luft von Zimt, Mundvoll Lebkuchen. So liegen, ein Auge ruhend auf Pixelmeer, das andere auf Salingers Franny. Wispernde Stimmen der Manhattenoffizers, leise Aufnahme, einen Tag festhalten, eine Nacht. Das Wasser des Grönlandeises, noch langsamer als das Älterwerden und so sicher, so ausgemacht, wie es im Süden nach den Häusern der armen Küstenmenschen greift. Man hört das nicht, man denkt das nicht. Es ist längst schon eingearbeitet, vielleicht, in jede Erwartung. Luft von Zimt, Mundvoll Lebkuchen. Ein Auge ruhend auf dem Meer, das andere auf Franny. Coltrane, John: A love supreme. Zeit vergeht. — stop
grüne schuhe
lima : 22.02 — Beobachtung des New Yorker Polizeifunks. Scheppernde Stimmen, als würde man Transparentpapier beatmen, Sprache von Zahlen, von Codes. Gelegentlich Passagen, die Geschichten erzählen. Eine lauthals singende Frau im Central Park, Höhe Dakota Building, sie kehrt als Spur, als Wörterinsel immer wieder zurück, man vermutet, dass sie vielleicht verrückt sein könnte. Die Frau ist etwa 50 Jahre alt, trägt grüne Schuhe, Blue Jeans, eine beige Jacke und läuft im Kreis herum. Einmal will man ihre Papiere überprüfen und da hörte ich im Rauschen des Äthers tatsächlich eine hell schimmernde Stimme. — stop
schweizer platz
segelohren
whiskey : 23.33 — Manchmal, wenn ich nach Wörtern, Sätzen, Auswegen suchend durch meine kleine Wohnung spaziere, glaube ich, auf einem Boden zu handeln, der nicht fest ist, der schwankt, der schlingert. Ich gehe dann sofort andersherum, dieselbe Strecke oder einmal kurz aus dem Haus rüber zum See, der in diesen Tagen längst zugefroren sein müsste. Das hilft gegen Seekrankheit auf dem Nachtschiff und alle weiteren Dinge. — Kurz vor Mitternacht. Ruhige, entspannte Arbeitsstunden stehen bevor. Ich hatte seit dem frühen Abend eine Frage in meinem Kopf so lange vergeblich hin und her bewegt, dass ich sie nun guten Gewissens zur Seite legen kann. Sie wird wiederkommen. Ich versuchte nämlich zu verstehen, weshalb Barack Obama auf den Einsatz der Landminenwaffen, die insbesondere gegen zivile Menschen wirken, nicht verzichten will oder kann. In diesen Momenten der Irritation, wieder die Ansicht, wie viel ich nicht weiß, eine Ahnung, die sich nur schwer weiterdenken lässt. Aber die Herzen der Tiefseeelefanten sind mir bekannt, sind vertraut, kommen näher und näher wie ihre Ohren, fantastische Hautsegelflächen, die sie sanft über den sandigen Boden des Atlantiks tragen. – Gute Nacht!
regenschirmtiere vol.2
tango : 22.28 — Seit einigen Tagen denke ich, sobald ich lese, begeistert an Neurone, Synapsen, Axone, weil ich hörte, dass ich mittels Gedanken, die Anatomie meines Gehirns zu gestalten vermag. Vorhin, zum Beispiel, ich folgte der Ankunft eines Schiffes in New York im Jahre 1867, überlegte ich, was nun eigentlich geschieht in diesem Moment der Lektüre dort oben hinter meinen lesenden Augen, ob man verzeichnen könnte, wie für das Wort M a r y, das in dem Buch immer wieder aufgerufen wird, frische Fädchen gezogen werden, indem sich das Wort schrittweise mit einer unheimlichen Geschichte verbindet. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schlafend, Stunde um Stunde, Geräusche fallenden Wassers vernehme? In der vergangenen Nacht jedenfalls habe ich wieder einmal von Regenschirmtieren geträumt, sie scheinen sich fest eingeschrieben zu haben in meinen Kopf, vielleicht deshalb, weil ich sie schon einmal nachtwärts gedacht und einen kleinen Text notiert hatte, der wiederum in meinem Gehirn zu einem bleibenden Schatten geworden ist. Natürlich besuchte ich meinen Schattentext und erkannte ihn wieder. Trotzdem das Gefühl, Gedanken einer fernen Person wahrgenommen zu haben. Die Geschichte geht so: Von Regenschirmtieren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Wasser, und ich wunderte mich, wie ich so durch die Stadt ging, beide Hände frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und ich staunte, nie zuvor hatte ich eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, die Flughaut der Abendsegler. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnete noch immer. Jetzt sitze ich seit bald einer halben Stunde mit einer Tasse Kaffee vor meinem Schreibtisch und überlege, wie mein geträumter Regenschirm sich in der Luft halten konnte. Ob er wohl über Augen verfügte und über ein Gehirn vielleicht und wo genau mochte dieses Gehirn in der Anatomie des schwebenden Schirms sich aufgehalten haben. — stop
times square
sierra : 1.30 – Und wieder, immer wieder, auch heute Nacht, das Schreiben im Stehen, weil das Stehen sich in der Nähe des Gehens befindet, das Sitzen aber in der Nähe des Liegens, also des Schlafens. — stop