alpha : 12.08 UTC — In der schwankenden Straßenbahn wieder höre ich, wie sie mit brennenden Augen nach Wörtern suchen für das scheppernde Licht des Magnesiums, für das Fauchen der bengalischen Feuer, die sie in ihren kleinen Fäusten hielten. Da ist eine Nachtsekunde, die Sekunde, in der sie das rote, das verbotene Stäbchen entzündet und gerade noch eben rechtzeitig von sich geworfen haben. Das Heulen der chinesischen Pulverpfeifen. Und da sind noch Funkenregen und blaugraue Wölkchen, die sich auf kleine Zungen niederlegten. Nicht die Feuerblumen des Himmels, das Spektakel der nächsten Nähe entfesselt die Erinnerung von Stunde zu Stunde. Zündhölzer, verborgen in Hosentaschen, sind zurückgeblieben, auch dieses Schwefelholz, eine heimliche Geschichte. – stop /koffertext
Aus der Wörtersammlung: os
schlafende mutter
delta : 22.02 UTC — Wie viele Tage schon sitze ich an Deinem Bett, liebe schlafende Mutter, Stunde um Stunde. Immer wieder denke ich, wie schwer es doch ist, zu einem Menschen zu sprechen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Hör zu, ich werde Dir eine Geschichte vorlesen, die ich Dir schon einmal las vor über einem Jahr. Einen Winter und einen Frühling und einen Sommer lang warst Du aufgewacht, um nun wieder zu schlafen. Ich ahne, dass Du meine Stimme hören kannst, ich habe gelernt. Erinnerst Du Dich an meine Geschichte, die von Deinen Brillen erzählt: Es war noch dunkel im Haus. Ich hörte ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch näherte sich, es kam über die Treppe abwärts heran. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine Deiner drei Brillen, liebe Mutter, die über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen durch die Luft zu bewegen, durch Räume oder den Garten. Deine Brille kam näher, durchquerte das Wohnzimmer, kreiste einmal um meinen Kopf, landete schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem Du, wie ich vergeblich hoffte, einmal wieder Platz nehmen würdest. Über drei Brillen verfügtest Du, liebe Mutter, und jede dieser Brillen konnte fliegen. Eine Brille stationierte im Dachgeschoss, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte Deiner Brillen, liebe Mutter, zu ebener Erde. Wie sie blinkten, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels unhörbarer Funksignale orientierten. Jetzt liegen sie auf dem Tischchen reglos neben Deinem Bett, als würden sie schlafen wie Du, liebe Mutter. – stop
im haus der alten menschen : ein zimmer
tango : 22.22 UTC — Da sind Bilder und Fotografien an den Wänden, eine Katze und noch eine Katze, ein Mann unter einem Schneekirschbaum, der die Arme in die Luft wirft. Hände, die sich in ihren Fingern umarmen. Und zwei Lampen. Eine Lampe zum Knipsen und eine zum Streicheln, Licht an, Licht aus. Ein Hase von Bronze mit langen Ohren von Bronze. Ein hölzernes Kreuz auf einem Tisch. Ein weiteres hölzernes Kreuz an einer Wand. Und ein gusseiserner, bemalter Baum. Zwei blühende Orchideen, weiß. Ein Christstern, rot. Und ein Strauß geschnittener Blumen, wild. Ein Stern von Papier und eine Zeichnung von Kinderhand, dies und das. Pflegeschaumdosen. Cremetuben. Tücher. Tupfer. Klingen. Ein Radio. Vinylhandschuhe. Und eine Nahrungsmittelpumpe. Ein Bett. Eine Matratze, die sich bewegt. Ein Bündel getrockneter Blumen. Kompressen. Ein Messgerät. Ein Pillenzerstäuber. Fünf Bücher. Auch Proust, Briefe zum Leben. Ein kleines Schaf und ein Teddybär. Ein Engel von Porzellan. Ein Duftwasserflacon, Ohrstäbchen, Handvollmenge. Ein Rosenkranz und ein Tannenzapfen. Holzlöffel für Zunge und Hals. Eine Schere. Eine Pinzette. Eine Spritze. Ein Mundschaumstäbchen. Eine Windel. Terminplan für Logopädie gegen verlorenes Sprechen. Lavendelduftkissen. Keine Uhr, nur die eine, die mit mir ins Zimmer gekommen ist. — stop
regen
nordpol : 0.22 UTC — Seit 1271 Tagen bereits versuche ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerfort regnet. Ich mache das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünsche, überlege, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Immer wieder schlafe ich ein, ohne je vom Regenzimmer zu träumen. Einmal, als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draußen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren und dachte darüber nach, wie sich unsere Menschenwelt verändern würde, wenn wir von einem Tag zum anderen Tag über armlange Zungen der Geckos verfügten? In welcher Form kämen sie in einer voll besetzten Straßenbahn zum Einsatz? Und wie bei der Liebe? Und wie im Streit? Und was würden diese Zungen wohl im Schlaf unternehmen? – stop
indulin
echo : 20.55 UTC — Eine wunderbare Geschichte habe ich vor vielen Jahren entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich möchte sie an dieser Stelle an diesem schönen Samstagabend wiederbeleben. Mercè Rodoreda schreibt: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: – Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
buenos aires
bald winter
tango : 22.58 UTC — Einmal dachte ich über einen Winterkäfer nach. Aber anstatt einen Winterkäfer zu finden, war mir ein anderes Käferwesen in den Sinn gekommen. Dieser, noch immer namenlose Käfer, sollte ohne Ausnahme paarweise erscheinen, weich sein wie eine Schnecke und von der Körpertemperatur der Menschen und genauso groß, dass er sich in die Augenhöhle eines Schlafenden zu schmiegen vermag. Ich notierte, man würde an dieser Stelle vielleicht meinen, der Käfer würde sich mit seiner Wirkung als Nachtschirm begnügen, stattdessen wollte er sich sacht bewegen und in dieser Weise in Bewegung sehr entspannende Polarlichtspiele von milder, beruhigender Lumineszenz erzeugen. – Während ich diese Zeilen, die ich leicht verändert habe, damals sendete, hörte ich von der Nachricht, Benazir Bhutto sei von einem Selbstmordattentäter getötet worden. – stop
von herzohren
olimambo : 2.22 UTC — Einmal studierte ich das Wesen der Schmeckknospen, außerdem eine anatomische Geschichte, die sich mit dem Wort Schmeckknospen verbindet. Der Himmel blitzte, ohne Donner, kaum Regen. Ich atmete mit Vorsicht, die Luft duftete nach Schwefel. Während ich las, bemerkte ich, dass ich auch im Lesen sehr langsam geworden bin. Manchmal lese ich so langsam, dass ich nicht Satz für Satz, sondern Wort für Wort vorwärts lese, jedes Wort, sagen wir, wahrnehme, wie es ist. Während ich insgesamt langsamer werde, scheinen viele Menschen um mich her schneller zu werden, sie lesen immer schneller, und sie lieben immer schneller, und sie schreiben immer schneller, und ihre Schuhe fallen ihnen vom rasenden Gehen immer schneller von den Füßen. Und Ihre Wohnungen wechseln Stadtmenschen so rasant wie früher andere Personen ihre Zimmer in Hotels. Ich kann nicht sagen, ob ich nicht vielleicht schon viel zu langsam geworden bin für das moderne Leben. Sicher ist, ich spreche noch immer viel zu schnell, auch für sehr schnelle Menschen spreche ich viel zu schnell. Wenn ich von Herzohren sehr schnell erzähle, fällt niemandem auf, dass ich von Herzohren erzählte, man glaubt, ich erzählte von Herzen und andererseits von Ohren. Einmal wanderte ich sehr langsam von einem Zimmer in ein anderes. Ich beobachtete mit großer Freude, dass ich in meiner Haut alles das, was notwendig für das Leben sein würde, von dem einen Zimmer, in dem ich aus dem Fenster geschaut hatte, in das andere Zimmer, in dem ich ein weiteres Buch lesen wollte, mit mir genommen hatte, nichts blieb zurück. – stop
rose No 2
india : 22.58 UTC — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete einmal ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüßte, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf dem Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in demselben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
über postkarten
romeo : 15.10 — Postkarten existieren, die einerseits über eine Adresse verfügen, an welche sie gesendet werden könnten, aber über kein weiteres Zeichen, keine Nachricht, keinen Gruß, keine Geschichte. Andere Postkarten, auch sie existieren, erzählen in kleinsten Zeichen von einer Reise, beispielsweise, oder einer besonderen Liebe, mit feinsten Werkzeugen aufgetragene Schrift, doch eine Zustellung kann nicht gelingen, da eine Adresse fehlt, nicht einmal ein Absender ist vorhanden. Es kommt mir vor, als würde diese Gattung zielloser Postkarten Selbstgespräche führen. – stop