romeo : 15.18 — Am See im Palmengarten. Erste milde Stunden. Abendsegler jagen durch die Dämmerung. Für einen Moment der Eindruck, es könnte sich bei den Schatten der Fliegenjäger um kleine, spielende Engel handeln. Auf der Bank neben mir ruht mein Filmtelefon, gerade eben erscheint der Feuerball einer detonierenden Bombe in der Stadt Boston nahe einer Marathonstrecke. Wenn ich den Kanal wechsele, Skateboardfahrer, die über Hausdächer springen auf der Insel Santorin, ein Mädchen mit Zahnspange trällert: I love you, i love you! Bald dunkle Rauchpilze über der Stadt Aleppo. Auf einer Straße liegt der Körper einer Frau, der sich noch bewegt, obwohl sie unbedingt tot sein müsste, so furchtbar die Verletzungen, die ihr zugefügt worden sind. Ich spiele den Film immer wieder ab, warum? Als es dunkel wird über dem Wasser, Stille. Man hört in der Lichtlosigkeit nichts vom Jagen der Tiere, wenn man sie nicht sieht. Wenige Stunden später wird Wladimir Putin sagen, bei dem Anschlag in Boston handele es sich um ein barbarisches Verbrechen. — stop
Aus der Wörtersammlung: palmengarten
l a t e r a l
himalaya : 0.05 – Soweit bin ich in meiner anatomischen Arbeit gekommen, dass ich an einem Nachmittag Reisenden, die von der Stadt Kobe weither nach Europa gekommen waren, erklärte, die Abteilungen der Regenwälder befänden sich l a t e r a l der Wüstenhäuser des Palmengartens. — Ist das eine Nachricht?
PRÄPARIERSAAL : skalpell
romeo : 3.05 — Ich habe das Fauchen eines Schwans gehört. Zunächst war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich mich nicht vielleicht geirrt haben könnte, ein Nachgeräusch, dachte ich, ein Schatten in den Ohren, wie in den Augen Nachbilder entstehen, weil ich am Abend wirklichen, fauchenden Schwänen im Palmengarten begegnet war. Also spulte ich das Band zurück und hörte noch einmal genauer hin, und da war das luftige Geräusch tatsächlich wieder zu hören gewesen in einer Atempause Emilys, deren Stimme ich im Nymphenburger Schlosspark aufgezeichnet hatte. Sie wollte Spazierengehen. Sie hatte gesagt, sie könne sich besser konzentrieren in Bewegung, vor allem besser schweigen, nachdenken im Gehen. Winterzeit, Schnee lag hoch bis zu den Knien und die Schwäne fauchten hungrig. Emily nun, so wie sie gesprochen hatte, ohne Pausen an dieser Stelle, weil ich ihr Schweigen in den Zeichen entfernte: > Bevor ich erzähle, wie ich die Öffnung des Körpers erlebt habe, möchte ich erwähnen, dass dieser erste Tag und auch der zweite Tag für mich nur schwer zu ertragen gewesen sind. Ich war beeindruckt von der großen Zahl der Tische, die in den Apsiden standen. Ganz ehrlich, ich war eingeschüchtert. Ich fühlte mich unsicher und unbedeutend und ich glaube, viele andere haben sich selbst auch so wahrgenommen. Man will das natürlich nicht zeigen. Man wünscht sich, souverän zu sein. Aber ich musste mich überwinden, den Körper überhaupt nur zu berühren. Da war ein Widerstand in mir, dem ich bis heute noch nachspüren kann Ich habe mehrere Versuche unternommen und hatte plötzlich große Angst, dass ich das überhaupt niemals könnte. Aber meine Freunde am Tisch waren sehr verständnisvoll. Sie haben mich nicht gedrängt und auch unser Tischassistent nicht. Er sagte, dass das ganz normal sei und dass ich mich beruhigen solle und ganz ruhig atmen. Ich hatte eine irgendwie verzerrte Wahrnehmung, alles war so laut um mich herum und ich bekam schlecht Luft. Ich bin dann erst einmal aus dem Saal geflüchtet. Eine Freundin hat mich begleitet und wir sind auf dem Flur hin- und hergelaufen. Und dann wollte sie zurück und ich folgte. Ich erinnere mich an den grünen Kittel unseres Assistenten. Er beugte sich gerade über den Körper des Toten und zog das Skalpell vom Kinn in Richtung des Nabels. Ich wunderte mich, dass man gar nichts hören konnte. Verstehen Sie, ich kann mir heute noch nicht erklären, warum ich ein Geräusch erwartet habe. Man konnte auch keine Spuren eines Schnittes erkennen. Dann ist etwas Merkwürdiges mit mir geschehen. Ich habe meine Position am Tisch wieder eingenommen, das heißt, ich habe mich wieder zu meiner Gruppe gestellt. Ich habe meine Handschuhe angezogen, mein Skalpell ausgepackt und meine Pinzette und dann habe ich angefangen zu arbeiten. Ich will das so sagen, ich habe den Körper auf dem Tisch zunächst mit dem Skalpell berührt und dann mit meinen Händen. Ich war sehr glücklich gewesen, dass ich mich überwinden konnte. Immer wieder ist aber das Gefühl einer gewissen Unwirklichkeit zurückgekehrt, der Eindruck an diesem Ort deplaziert zu sein, fremd oder so etwas. Sobald ich dann etwas getan habe, wenn ich gearbeitet habe, wenn ich also präpariert habe, ging das gut mit mir. Ich glaube, ich war eine von jenen, die stets tief über das Präparat gebeugt waren, ich bin sehr schnell in den Saal zum Tisch gelaufen, und wenn ich fertig war, habe ich den Saal so rasch wie möglich wieder verlassen.
PRÄPARIERSAAL : namen
marimba : 22.51 — Feuchte Fliegen lungern am Abend auf dem Boden herum. Das sanfte, einschläfernde Geräusch des Wassers, Dunkelheit kommt bald aus den Wolken gefallen. Unterm Schirm dort weiter anatomische Tonbänder verzeichnet. Veronika* erzählt eine feine Geschichte, die ich beinahe genau so wiedergebe, wie ich sie vor wenigen Minuten hörte: > Ich stehe vor einem Tisch und betrachte einen Körper. Das ist ein Bild, das ich nicht erfunden habe, ein Bild, das jetzt zu meinem Leben gehört. Eine Frau, die in einem weißen Kittel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursachen dieses Todes nichts zu tun, ich empfinde keine Trauer, aber Respekt. In den ersten Minuten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geordnet, nicht systematisch jedenfalls nachgedacht. Ich glaube, ich habe zunächst versucht, ein Gefühl, ein geeignetes Gefühl für diese Situation zu finden, eine Position, meine Position. Kurz zuvor waren wir noch im Hörsaal gewesen. Unser Professor hatte ein Präparat mitgebracht. Dieser helle Körper, der weit entfernt in einem Oval unter den hoch aufragenden Sitzreihen auf einer Bahre lag, hatte etwas Einsames an sich. Als ich mich dann an meinem Tisch stehend über den Körper eines Mannes beugte, den ich in den folgenden Wochen zerlegen würde, suchte ich unwillkürlich nach Spuren, die zu einer Vorstellung davon führen könnten, wie er einmal lebte. Aber da war nichts, was mich mit seiner Zeit noch verbinden konnte, kein Name. Das Haar des Mannes war entfernt, an seinen Ohren waren hölzerne Schilder angebracht, auch an seinen Handgelenken und an seinen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Ich erinnere mich, der Mann wirkte weder friedlich noch so, als würde er nur schlafen, da waren weder Zeichen einer langen Leidenszeit noch Spuren eines Kampfes. Das Gesicht war leblos, ein Gesicht ohne Ausstrahlung, ohne Elektrizität. Der Körper erinnerte mich an eine große Puppe, er hatte etwas Schematisches, aber vielleicht war das bereits mein Blick, meine Perspektive gewesen, die diesen Eindruck erzeugte? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konnte das bald gut, diesen Mann, diesen Körper betrachten. Ich war ganz entspannt dabei. Ich wusste auch, dass sich dieser Körper sehr rasch verändern würde in der Folge meiner Arbeit. Ich war der festen Überzeugung, dass wir dem Toten keinen Namen geben sollten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wusste wie sein Name lautete, als er noch lebte. Ich habe, kurzum, versucht, diesen Körper auf dem Tisch als ein Präparat zu betrachten, als eine für uns kostbare Hülle, als ein Vermächtnis. Meine Kommilitonen haben ihm einen Namen gegeben, aber wir haben uns deshalb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz einfach nicht beteiligt. - stop
* Name geändert
mangrove
india : 22.58 — Im Palmengarten befinden sich acht wabenförmige Glashäuser, die durch Schleusenräume miteinander verbunden sind, so dass man in wenigen Minuten zunächst durch eine Wüste spazieren kann, dann durch einen Regen‑, und kurz darauf durch einen Nebelwald. Ich sitz gern dort, jenseits der Mangrovenabteilung im Bromelienhaus, und lese in wasserfesten Büchern herum. Es ist angenehm still. Kaum jemand verirrt sich hierher, so versteckt liegt die Wabe im Zentrum der Glashausversammlung. Und vielleicht genau aus diesem Grund, weil es von Menschen still ist, kommen dutzende, leise jaulender Wachteln unter Bäumen zusammen, auf welchen Blumen lungern wie schlafende Vögel. Hatte vor Stunden noch unter Luftwurzeln etwas Wilhelm Genazino beobachtet. Plötzlich bemerkte ich, dass kein Geräusch um mich herum zu hören war. Völlige Stille. Eine merkwürdige, eine trockene Stille. Für einen kurzen Moment der Eindruck, während des Lesens vielleicht taub geworden zu sein. Schaute mich um, sah eine Hand auf einer Buchseite liegen und dachte, dass ich jetzt mit dieser Hand sofort zur Beruhigung ein Papiergeräusch erzeugen müsse. Ich blätterte also um, und ich hörte ein Rascheln und das leise Sausen der Luft, hörte Vögel wieder pfeifen, das Tropfen des Wassers. Ich hörte meine Stimme das Wort seltsam sagen.
radare
ginkgo : 20.58 — Palmengarten. Die Sonne geht gegen sechs Uhr unter, Enten schlafen zu meinen Füßen. Der Schirm ihrer Augen, der sich regelmässig öffnet, als würden sich in ihren kleinen Köpfen Halbschalen von Perlmutthaut langsam drehen. Gehen und Kommen, Wiederholung, Rhythmus, Radare. Transferierte in der Dämmerung handschriftliche Texte aus Notizbüchern in die Schreibmaschine, das kann man jetzt drucken, die Bewegung der Subwayzüge, die sich in meinen Zeichen zur Unleserlichkeit fortsetzte, verschwunden. — Wie sprechen, wie erzählen? — Erinnerte mich an den Moment, da ich erfahren habe, dass Buckelwale zur Paarungszeit über eine Sprache verfügen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist. Seither, von Zeit zu Zeit, die Wiederholung der Frage, was ich unter einer einfachen menschlichen Sprache verstehen sollte, die atemlose Sprache der Lust vielleicht oder die Sprache der Chaträume? Ob eine dieser menschlichen Sprachen vielleicht geeignet wäre, sich mittels einer Prozedur der Übersetzung von Wal zu Mensch zu verständigen? Wir könnten uns vom Land und von der Tiefsee erzählen. Eine grandiose Vorstellung, auf hoher See Luft perlend vor einem Wal zu schweben und zu warten und zu wissen, dass er gleich, nach ein wenig Denkzeit, zu mir sprechen wird. Etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine weitere Frage: Wie heißt Du, mein Freund? — Oder: Ich hörte von Bäumen!
herzgeschichte
olimambo : 0.02 — Das weiße Papier ist niemals leer. Diesen Satz habe ich gestern Nachmittag gegen 15 Uhr genau so notiert, wie er hier verzeichnet ist. Ich saß am kleinen See im Palmengarten und dachte an Herzen und solche Dinge, und als ich den Satz eine Stunde später noch einmal gelesen habe, konnte ich nicht sagen, warum ich den Satz eigentlich aufgeschrieben hatte. Das war ein merkwürdiger Moment gewesen, diese Sekunde, da ich bemerke, dass ich einen Satz, den ich selbst ausgedacht, nicht erkennen konnte. Trotzdem gefiel mir der Satz. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um einen wahren Satz handeln könnte, und dass ich nur abwarten müsse, bis sich sein feines Wesen zeigen wird. Und so lausche ich nun also. Irgendetwas brummt in meiner nächsten Nähe. Dämmerung. Und ich stelle mir vor, wie gut es doch wäre, wenn Menschen für eine gewisse Zeit ihre Herzen teilen könnten. Man meldet sich zum Beispiel in einem Hospital. Guten Abend, sagt man, guten Abend, wir haben heute Nacht etwas Zeit, mein Herz und ich. Und dann fährt man unverzüglich los, man fährt durch die Stadt und ihre Lichter und Düfte und legt sich sehr bald zu einem Menschen, dessen Herz schwach geworden ist, verbunden liegt man Stunden still.
luftlaufen
pupille : 0.02 — Gestern Nachmittag im Regen durch den Palmengarten spaziert. Saß bald unterm Schirm gut verpackt auf einer Bank am See und las in einer Sammlung feiner Texte, die Anton Tschechow in seiner persönlichen Ausgabe der Selbstbetrachtungen Marc Aurels vor langer Zeit einmal markiert hatte. Dort folgende Bemerkung: Du musst Dich daran gewöhnen zu denken und zu handeln, als sei das Ende deines Lebens schon da. Und ich dachte, es ist genau so, dass zwischen dem vorgestellten Ende des eigenen Lebens und dem tatsächlichen Ende, dessen Zeitort unbekannt, dessen Nahen von Tag zu Tag wahrscheinlicher wird, schmale oder noch breite Stege von Hoffnung, von Unkenntnis sich befinden, auf welchen ich mich bewegen kann, langsam, nachdenklich, oder in Tanzschritten, glücklich, übermütig und verwegen. – Wieder der Versuch, die Tropfgeräusche des Regens zu zählen. Nichts könnte beruhigender sein.
zahlenflüstern
sierra : 5.05 — Unterm Schirm im Palmengarten einem Gewitter zugehört. Nichts getan, als zu lauschen und zu beobachten, dass mein Gehirn nicht schnell genug ist, um die Tropfen eines kräftigen Regens, ihr Geräusch, nachzuzählen. Wie ich so ergeben vor Schildkröten und Karpfen auf einer Bank lungerte, ist mir aufgefallen, dass ich nicht ganz sicher sagen kann, ob es nicht vielleicht doch die Wörter sind, die mich zur Zählschnecke machen, jene Zahlen nämlich, die ich insgeheim verwende, um in der Summe voran zu kommen. Ich bin dann, während ich das Flammen meiner Zahlwörter beobachtete, eingeschlafen. Ein weiterer Regen weckte mich bald auf und wieder versuchte ich zu zählen. Dieses Mal zählte ich flüsternd und ich zählte lange. Jetzt weiß ich, dass ich flüsternd schneller zählen kann, als schweigend nur in Gedanken Zahlen notierend. Was ist das überhaupt für eine Stimme in meinem Kopf? Fangen wir noch einmal von vorne: Auch am vergangenen Abend, wie man mir erzählte, wurde kurz nach zehn Uhr in Teheran unter glanzvollen Sternen von den Dächern nach Freiheit gesungen.
lichtzeitmaschine
romeo : 0.01 — Glühbirnen sammeln für 500 Jahre Glühfadenlicht. stop. Dazu Handkurbelmaschinen zur Stromerzeugung. stop. Denkbar, dass ich den Ursprung einer wilden Geschichte entdeckte, während ich gestern Nachmittag schlafend durch den Palmengarten spazierte. stop. Verrückt sein. stop. Eine literarische Geschichte ins wirkliche Leben ziehen. stop. Seit Stunden nun geistert das Wort Menlopark durch meinen Kopf. stop. Ahne, woher das schöne Wort gekommen ist. stop. Wie lange Zeit, bei günstigsten Witterungsbedingungen, leuchtet eine 60 Watt Glühlampe? stop.