sierra : 12.10 — Man sollte meinen, ein Buch sei ausschließlich zum Lesen geeignet, eine Substanz hellen Papiers, Zeichen in gefalteter Linie, die mit den Augen studierend entlangzuarbeiten ist, Farben, Gerüche, Klänge, Drama. Seit einigen Stunden nun weiß ich, Bücher helfen gleichwohl in mechanischer Weise anatomisch wieder beweglich zu werden. Toni Morrisons Roman Jazz, zum Beispiel, 402 Gramm Gewicht für Minuten in meiner Hand am Ende eines Unterarmes, den ich zu strecken wünsche, widerspenstig ist er noch, bewegt sich nicht von eigener Kraft in jede der von mir gewünschten Richtungen. Wie er jetzt von der Schwerkraft der Dichtung nach unten gezogen wird, behutsam, in der Art und Weise langsam fallender Äpfel, sagen wir, eine Bewegung, mit den Augen nicht wahrnehmbar. – Kurz vor 12 Uhr. Mittag. Jenseits des Tales, das ich vom Hospital aus überschauen kann, spaziert gleißendes Sonnenlicht über den Obersalzberg hin, unheimliche Gegend. Ich meinte für Sekunden ein Rudel Kentauren gesehen zu haben, die den Saum eines Buchenwaldes entlang galoppierten. stop. Großartige erste Sätze im Kopf. stop. Toni Morrison. stop. STH, I know that woman. She used to live with an flock of birds on Lenox Avenue. Know her husband, too. He fell for an eighteen-year-old girl with one of those deepdown, spooky loves that made him so sad and happy he shot her just to keep the feeling going. When the woman, her name is violet, went to the funeral to the the girl and to cut her dead face they threw her to the floor and out of the church. She ran, then, through all that snow, and when she got back to her apartment she took the birds from their cages and set them out the windows to freeze or fly, including the parrot that said, „I love you.“
Aus der Wörtersammlung: sekunde
salzburg : stefan zweig, kapuzinerberg no 5
lima : 8.16 — Von der Linzer Gasse hinauf zum Paschingerschlössel, in dem Stefan Zweig mit seiner ersten Frau, der Schriftstellerin Friederike Maria Burger, 15 Jahre lang wohnte und arbeitete. Ein steiler Weg, 264 Treppenstufen, James Joyce und Thomas Mann werden diese Strecke gegangen sein vor einer Sekunde noch vor den langsam westwärts fließenden Bergen. Das Haus No 5, großzügige Terrasse, hinter Laubbäumen versteckt, scheint sich von selbst im leichten Wind zu bewegen. Unten im Tal, schneegrün an diesem Abend, die Salzach. Auf den Dächern der Stadt lungern moderne Menschen, sie lesen, trinken Wein, schlafen in ihren Himmelsgärten in der warmen Novembersonne. Ein später Feuerkäfer passiert den schmalen, steinigen Weg, längst bin ich im Wald angekommen. Das Kloster der Kapuzinermönche liegt hinter mir. Buchen, Eschen, Linden brennen. Eine gebückt gehende alte Frau, ich sehe, sie geht kreuz und quer über die Pfade des Berges. So betagt muss sie ihrer Erscheinung nach sein, dass sie Stefan Zweig noch persönlich gekannt haben könnte. Wie sie zuletzt unter den Bäumen verschwindet, uraltes Kind, dachte ich an eine Fotografie, die in der digitalen Sphäre existiert. Sie zeigt Stefan Zweig und seine zweite Frau Lotte Altmann in ihrem Haus in der brasilianischen Stadt Petrópolis leblos liegend auf einem Bett. Dieser Blick nun eines Journalisten und seiner Lichtfangmaschine, der seit dem 23. Februar 1942 nicht wieder zurückgeholt werden kann. — stop
zehnstreifenleichtfuß
himalaya : 7.32 — Ein Lichtbild auf einem Tisch. Die Aufnahme zeigt das Innere meines Armes. Es ist zunächst nicht einfach, in den dargestellten Knochenstrukturen, meine eigenen Strukturen zu erkennen. Ich weiß, das bin ich, aber ich sehe mich nicht. Das, was ich sehe, habe ich immer schon mit mir geführt, und trotzdem betrachte ich unbekanntes Gebiet. Diese kleine Schraube hier, sie leuchtet, ich kann ihr Gewinde erkennen, ist jetzt meine Schraube. Im abgedunkelten Röntgenraum arbeitet eine Frau, die meinen Arm auf den Tisch bettet, sodass er präzise auf der Fotoplatte zu liegen kommt. Ich solle ganz still sitzen, sagt sie, weswegen ich die Luft anhalte und meine Augen weit öffne, weil ich nachschauen will, ob ich nicht doch vom radiologischen Licht einen Schimmer wahrnehmen kann. Eine Sekunde Atemstille. Und noch eine Sekunde Atemstille. Ein Summen hinter Bleiglasfenstern. — Ich hatte die Existenz der Zehnstreifen-Leichtfuß-Käfer vergessen. — stop
sekundenzeit
india : 10.01 — Ich habe eine lustige Geschichte mit mir selbst erlebt. Ich stand in einem Garten am späten Abend und versuchte, indem ich mich konzentrierte, die Umrisse meines Körpers wahrzunehmen, nicht die Umrisse einer bestimmten, einer ausgewählten Region meines Körpers, sondern die Umrisse meines Körpers insgesamt. Plötzlich meinte ich, mich in einem Film zu befinden, einem Film, der sich sehr langsam bewegte, mit einem Bild pro Jahrhundert, sagen wir, sodass ich mich nicht erinnern konnte, überhaupt schon einmal in Bewegung gewesen zu sein. Auch der wolkenlose Himmel über mir hatte sich noch nie zuvor bewegt, und die gefrorenen Blätter der Bäume und ihre Nachtschatten. Wie ich in dieser Weise verharrte und mich in die Vorstellung der Bewegungslosigkeit vertiefte, für einen Moment der Eindruck, Minutenzeit wahrnehmen zu können. — stop
lichtinseln
foxtrott : 6.15 — Ich kann vielleicht sagen, dass ich, sobald sich die Augen eines Schlafenden vor meinen eigenen Augen öffnen, ohne Ausnahme sofort gefangen bin. Habe in der Beobachtung schlafender Menschen nachts, wenn ich durch Flughafenhallen spazierte oder in Subwayzügen reiste, Erfahrungen gesammelt, der Blick auf vorüberziehende Lichtinseln draußen vor dem Fenster, dann wieder auf das entspannte Gesicht eines unbekannten Reisenden, der träumte. So schnell sich die Augen eines Schlafenden öffnen, kann ich meinen beobachtenden Blick niemals verbergen. Vermutlich existiert keine schnellere Bewegung, zu der ein menschlicher Körper in der Lage wäre, als jene Bewegung der Augen, wenn sie sich öffnen. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass diese in Bruchteilen einer Sekunde entkleideten Augen unverzüglich präsent sind, weil der Blick sogleich anwesend ist und wirkungsvoll, sein Licht, vielleicht deshalb, weil ein Blick noch vor der Öffnung der Augenlider beginnt oder zu Lebzeiten niemals endet. — stop
asmara tigri
lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschichte erzählen wird, scheint müde zu sein. Immer wieder fallen für Sekunden ihre Augen zu. Früher Morgen, Tigri hat die Nacht über gearbeitet. Wir sitzen in einem Schnellzug vom Flughafen in die Stadt. Gerade wollte sie noch wissen, warum ich auf dem Notebook einen Film betrachte, der von einstürzenden Türmen des World Trade Centers berichtet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stunden lang Briefe sortiert, das heißt, Luftpostbriefe für Inseln, die im Pazifischen Ozean liegen, weil sie eine Spezialistin für Inseln ist, auch für Inseln atlantischer Gebiete, aber vor allem kenne sie sich aus mit Inseln, die Kiribati heißen oder Tonga oder Palau oder Vanuatu. Sie sagt, dass sie diese Namen lieben würde, dass sie Anfang der 70er Jahre in einem Dorf nahe der eritreischen Hauptstadt Asmara geboren worden sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wieder aufgebaut werden musste, weil an einem Sonntagabend ein MIG-Flugzeug das Dorf zerstört habe und viele ihrer Freunde getötet. Zu diesem Zeitpunkt lebte Tigri bereits in Westdeutschland. Wenn sie den Namen ihres Dorfes ausspricht, bin ich nicht imstande, das schöne Geräusch in meinem Kopf zu behalten, aber das Wort Asmara kann ich mir merken. Sobald ich das Wort Asmara formuliere, leuchten ihre Augen, also sage ich dreimal Asmara und freue mich über die Wirksamkeit dieses Wortes. Asmara soll eine Stadt hellen Lichtes sein, sage ich, es soll dort immerzu nach Kaffee duften, und Tigri lacht und ich denke, dass das jetzt entweder so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jedenfalls das Helle mag und auch den Kaffeeduft. Man spreche Tigrigna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemerke, dass ihr ganzer Name selbst in diesem Wort enthalten sei. Wieder lacht die junge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bruder, ein Gynäkologe, aus den Diensten eines Krankenhauses entlassen wurde, weil man ihn nicht als das behandeln wollte, was er zu sein wünschte. Mein Bruder, wissen Sie, möchte ein König sein. Nun ist er arbeitslos und König. Er ist natürlich schwarz wie ich, genauso schwarz, und schwarz steht den Königen nur in Afrika. Sie macht eine kurze Pause, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf dieser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im vergangenen Jahr sei ihr Vater gestorben in Eritrea, ein glücklicher Mensch, ein Busfahrer, ein sehr stolzer Herr. Im Oktober desselben Jahres sei schließlich die Mutter mit dem Flugzeug via Rom nach Frankfurt gekommen. Sie habe, ohne das zu wissen, einen Tumor im Kopf mitgebracht, im Februar war sie dann umgefallen und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fenster. Ein heißer, schwüler Morgen. Ob sie den Film ansehen dürfe, will sie wissen.
ein Millionstel Gramm Wort
tango : 16.22 — Meine neue Schreibmaschine ist leicht und flach, ihr Atem geht leise. So fein ist sie gebaut, dass ich sie unter meinem Hemd verbergen könnte, niemand würde sie bemerken. Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Maschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? L i m a. Wie viele Male wird es heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort L i m a, das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. — stop
PRÄPARIERSAAL : zeppelin
echo : 2.16 — Wallstreet gestern Abend auf Fernsehbildschirm. Hinter einem Reporter, der vom abwärts strebenden Verhalten der Kurse erzählte, warteten japanische Menschen. Sie winkten fröhlich in die Kamera, grüßten, fächelten sich Luft zu mit fleischfarbenen Zeitungspapieren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dachte ich, würde ich südwärts laufen zur nahegelegenen Hafenstation, würde mich auf das obere Deck eines der alten Fährschiffe begeben, würde bald im kühlenden Fahrtwind sitzen, eine Coke in der linken, eine Teigtasche mit Hummerfleisch in der rechten Hand, das Tonbandgerät in der Tasche und Mels Stimme im Kopfhörerohr, wie sie erzählt von anatomischer Zeit. — 2 Uhr und zwanzig Minuten. Regen. Blitze. Donner. Gerade eben hörte ich mich selbst, meine eigene Stimme. Ich formulierte vorsichtig eine Frage, wollte wissen, ob Mel sich im anatomischen Saal gefürchtet habe? Nein, antwortete Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekunde lang vor den Toten gefürchtet. > Ich hatte in diesen 6 Wochen keine Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf meine Aufgabe konzentriert. Ich habe mich vor Testaten ein wenig gefürchtet, und ganz am Anfang vielleicht davor einmal rasch umzufallen. Nur deshalb hatte ich wirklich Angst, umzufallen, das heißt nicht arbeiten zu können, aber davon erzählte ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau überlege, dann kann ich mich nicht erinnern, dass im Präpariersaal überhaupt irgendjemand umgefallen ist. Vielleicht musste man mal aus dem Saal gehen und sich setzen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschlafen hatte und deshalb müde war und weil die Augen brannten vom Formaldehyd in der Luft. Aber umgefallen, ich meine, ohnmächtig geworden, davon habe ich nichts mitbekommen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch präparierte, hatte ich bisweilen den Eindruck, dass dieser Saal nicht wirklich war. Ich konnte meine Eindrücke nicht mit der Straße, über die ich nach Hause spazierte oder mit den Gesprächen der Menschen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Verbindung bringen. Ich hatte den Eindruck, dass der Saal, dass die ganze Situation irgendwie frei schwebte, also ganz für sich war, isoliert. Und so reiste ich also hin und her, von da nach dort und wieder zurück, aber das war nicht schwer gewesen, so hin und her zu springen. Ich habe von dem ein oder anderen meiner Freunde gehört, dass sie Albträume gehabt hätten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Ich glaube, ich war in irgendeiner Weise geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, vielleicht war es die Dichte der Aufgaben, die mir gestellt waren. Ich hatte keine Zeit, lange über diese merkwürdige Situation nachzudenken. Ich meine, ich habe nicht lange darüber nachgedacht, dass ich, Mel, hier den Körper einer alten Frau so lange zerlege und betrachte, dass er fast verschwunden sein wird, wenn ich fertig sein werde. Ja, – es war sehr viel zu tun. Das hat es leichter gemacht.
elst-pizarro
delta : 0.03 — Vor wenigen Tagen die Existenz des erdnahen Kometen Elst-Pizarro bemerkt, eines reisenden Körpers, der bereits im Jahre 1997 entdeckt worden ist. Vielleicht könnte es sinnvoll sein, von diesem Vorgang als einer einseitig wirksamen Kollision zu sprechen, weil ich mich mit der Sekunde der ersten Wahrnehmung verformte, durch meine Begeisterung einerseits, andererseits durch eine Versammlung von Fragen, die nun an mir zerren, als verfügten sie über eine physikalisch messbare Gravitation. – stop
kokons
echo : 22.58 — Im botanischen Garten das leise, das Nichtdenken geübt. Ich legte mein Ohr auf einen hölzernen Tisch und dachte nichts. Aber da war etwas merkwürdig: Mein Ohr auf dem Tisch hörte sich selbst. Und das andere, zum Himmel gerichtete Ohr, erlebte den Besuch einer Ameise. Also dachte ich doch an die Ameise, wie sie meine Ohrmuschel untersuchte. Wie gut, an Ameisen und an nichts Weiteres denken zu müssen. Dann schlief ich ein. Als ich erwachte, dachte ich sofort weiter an nichts. Die Ameise war verschwunden, aber ich hörte mein Ohr auf dem Tisch, und ich hörte den Gesang einer Nachtigall, die zunächst geschwiegen, dann aber meinen Besuch vielleicht vergessen hatte, weil ich reglos zu einer Pflanze unter anderen Pflanzen geworden war. Ich fragte mich, denke ich, indem ich der Stimme eines Vogels lausche? Ist das Denken nur dann gedacht, wenn ich meiner denkenden Stimme zuhöre, mich und meine denkende Stimme also wahrnehme? Immer wieder bemerkt, dass ich Sekunden zuvor noch an etwas oder über etwas gedacht habe, obwohl ich mir nicht zugehört hatte. Eine Gedankenerinnerung. Manchmal verhalten sich Gedanken wie Räume, Kokons, die verwickelte Gedankenpakete enthalten. Schallplattengedanken. Ich könnte demnach Schallplatten verzeichnen, die angenehme Stimmen und Stimmungen wiederholen, frohe Begegnungen und gelungene Gespräche. — stop