papa : 12.15 UTC — Ich habe zur Stunde eine Frage, die zu beantworten vermutlich nicht leicht sein wird. In wenigen Minuten werde ich nämlich für einen alten Freund eine Schreibmaschine erwerben, eine mechanische Reiseschreibmaschine des Typs Olympia Splendid 66 in roter Farbe, ein wunderschönes Stück aus dem Jahr 1959, ich würde sie im Grunde gern selbst besitzen. Mein Freund wird bald verreisen, ich nehme an, nicht ohne seine neue Schreibmaschine mit sich zu nehmen, eine Reise, die ihn durch Indien mit der Eisenbahn von Mumbai nach Darjeeling führen wird. Als ich meinen Freund Ludwig zum letzten Mal sah, arbeitete er auf einem Notebook schreibend in einem Café an einer Geschichte über Algorithmen liebevoller Selbstbefragung. Sein Notebook war zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre alt, jene Orte des Gehäuses, da es Ton und Bildaufnahmen seiner nächsten Umgebung anfertigen konnte, waren mehrfach mit selbstklebendem Gewebe abgedeckt, sodass weder Ton noch Licht in die Schreibmaschine gelangen konnten, um von dort aus möglicherweise unbemerkt an einen geheimen Ort in der digitalen Sphäre gesendet zu werden. Ich will nicht sagen, dass Ludwig sich in irgendeiner Weise verfolgt fühlen würde, er erwähnte aber bei Gelegenheit, er könne schon seit langer Zeit nicht mehr dafür garantieren, dass seine elektronische Schreibmaschine, sein Notebook, sich tatsächlich loyal verhalten würde. Er wünschte sich, seine Zeichen wieder einmal unmittelbar auf Papier zu setzen, bedingungsloses Vertrauen haben zu können. Ich werde ihm seinen Wunsch erfüllen. Nun stellt sich, wie berichtet, die Frage, was hat mein Freund Ludwig auf den Papieren noch vor, wie lange Zeit bleibt ihm noch? Wie viele Farbbänder sollte ich für Ludwig in Sicherheit bringen? Sie sind rar geworden, sie werden verschwinden. — stop
Aus der Wörtersammlung: stunde
minutenminiatur : schlaflos
nordpol : 8.16 UTC — Um kurz nach sechs Uhr in der Früh berichtet Katharina in einem Laden unter dem Flughafenterminal 1 vor einer Kasse stehend, sie fliege nun seit bald zwei Jahren Langstrecke nach New York und wieder zurück. Eine anstrengende Pendelbewegung, soeben vor einer halben Stunde erst sei sie gelandet, sie liebe die Beobachtung des Sonnenlichts, das in großer Höhe über dem Atlantik während eines Nachtfluges zurück nach Europa im orangefarbenen Zwielicht stets sichtbar am Horizont verweile. An diesem Morgen ist Katharina sehr aufgeregt, sie habe, sagt sie, in den vergangenen zwei Jahren die Stadt New York selbst nie betreten, gestern aber, vor wenigen Stunden, mit einer Kollegin, mit Muriel, vom Flughafen John F. Kennedy aus ein Taxi genommen, um über die Williamsburg Bridge zum ersten Mal in ihrem Leben nach Manhattan zu fahren, drei Stunden Zeit. Sie seien am Times Square gewesen, vor der New York Public Library, im Grand Central Terminal und im Central Park, noch immer spüre sie Spannung, vermutlich könne sie nicht schlafen. — stop
zylinder
india : 12.01 UTC – Vor einigen Wochen besuchte ich B., der noch immer in einer kleinen Wohnung über einem Jazzcafé wohnt, weswegen sein hölzerner Fußboden manchmal bebt, sodass auch seine Gäste beben und der Kaffee in den Tassen, und im Sommer fliegen die kleinen Sommerfliegen los, weil das Beben dermaßen schrecklich für ihre Beinchen ist, dass sie lieber stundenlang herumfliegen als wären sie Vögel ohne Füße. B. wohnt also in dieser kleinen Wohnung und ist noch immer traurig. Ich kenne ihn seit 15 Jahren, niemals habe ich ihn glücklich wahrgenommen, nicht eine Sekunde lang, oder in einem Zustand, den man als weder glücklich noch unglücklich bezeichnen könnte. B. ist unglücklich, weil er das so will, er hat sich in seiner Traurigkeit eingerichtet, wie in einem unsichtbaren Zelt, in dem er lebt, das er mit sich auf jede Reise nimmt, er reist ja nicht viel, aber er ist ein guter Gastgeber, sehr feinfühlig, ein geduldiger Zuhörer, der niemals lacht. Er schreibt im Übrigen an einem Buch, das rund ist, ich meine, er schreibt an einem Winterbuch von der Gestalt eines Zylinders. Man kann in dem Buch blättern, aber man weiß nicht, wo das Buch anfängt, weil in B.s Buch kein Anfang existiert, man liest, und wenn man lange genug liest, wird man plötzlich meinen, sich zu erinnern, oder man hat eine Markierung in das Buch notiert, was eigentlich nicht gestattet ist. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. — stop
basskäfer : es ist samstag
alpha : 17.15 UTC — Ein Basskäfer (Coleoptera chamberus) ist tatsächlich in etwa geformt wie ein Kontrabass. Einen Finger lang oder hoch, vermag der Käfer zu fliegen, aber nicht zu gehen. Nähert man sich einem Basskäfer vorsichtig, wird man sonore Töne vernehmen, die einem Gehäuse entkommen, das vorn wie hinten, oben wie unten, ähnlich beschaffen ist, eine Art Zeppelinluftschiff mit einem Kopf, das auf dem Bauch landete. Das Gehäuse glänzt, als wäre es von poliertem Holz. Der Käfer scheint nun auf den zweiten Blick hin, tatsächlich ein Käferwesen zu sein, insbesondere sein Kopf zeigt alle Merkmale eines Käferkopfes, Fühler, Augen, Mundwerkzeuge, darüber hinaus verfügt sein zentraler Körper über Deckflügel, welche sachte beben, darunter ruhen durchsichtige Schwingen, die den Käfer durch die Luft transportieren, jedoch nicht sehr dauerhaft oder weit, weil es nicht vornehme Aufgabe der Basskäfer ist, herumzufliegen, vielmehr ist vornehme Aufgabe der Basskäfer, Geräusche zu erzeugen, die von der Art der Kontrabassinstrumente sind, so wie wir Menschen sie kennen, weil wir sie erfunden haben. Deshalb sind an der äußeren Gestalt der Basskäfer keinerlei Beine oder Füße zu erkennen, weil sie sich im Inneren des Käfers befinden. Dort zupfen sie an Saiten von Chitin, stunden-gar tagelang. Basskäfer scheinen in dieser Weise miteinander zu kommunizieren. Sobald ein Basskäfer auf einen Trompetenkäfer trifft, sind beide Käfer glücklich. — stop
zur menschenfaltung
marimba : 15.01 UTC — Sie haben, sagte ein Beamter von hohem Rang, vor einiger Zeit von einem faltbaren Medusenzimmer erzählt. Ich würde nun gerne wissen, sind sie in der Verwirklichung ihrer Vorstellung einen oder gar mehrfache Schritte vorangekommen? Ich frage deshalb vorsichtig an, fuhr der Beamte fort, weil ich mit dem Gedanken spiele, prüfen zu lassen, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, faltbare Menschen zu entwickeln, Menschen, die nach einer Prozedur rasend schneller Trocknung, gepresst und gefaltet, auf dem Postwege verschickt werden und an ihrem Zielort mittels Feuchtigkeit wieder entfaltet werden könnten. Auch eine Menschenlagerung über längere Zeiträume wäre in dieser Art und Weise denkbar. Kurz bevor ich antworten konnte, wachte ich auf . Seit einigen Stunden denke ich nun darüber nach, ob ich träumend tatsächlich wünschte, etwas zur Anfrage zu äußern. Möglicherweise erwachte ich, um eine Antwort zu verhindern. — stop
von fliegerbomben
alpha : 1.15 UTC — Gestern Abend sagte ich zu Jakob: Lieber Jakob, es ist kurz vor Mitternacht. Ich habe Dich zwei Monate, drei Tage und acht Stunden lang belichtet, in diesem Moment bist Du fertig geworden. Ich spazierte in der Küche auf und ab, ging für eine halbe Stunde auf der Straße spazieren, als ich zurückkam, saß Jakob noch immer still vor dem Tisch und betrachtete seine Hände. Er schien unglücklich zu sein, er war vielleicht unsicher, wusste nicht zu sagen, was das bedeutet, belichtet oder fertig geworden zu sein. Ich fragte: Sag, mein lieber Jakob, was ist los, wie geht es Dir? Lieber Louis, antwortete Jakob, ich kann nicht sagen, wie ich mich fühle, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen wird mit mir. Werde ich von Dir vergessen werden, oder wirst Du mich in eine Geschichte übertragen, in der ich mich wohlfühlen kann? Lange Zeit beobachtete ich den feingliedrigen, zeitlos wirkenden Mann, wie er scheu zu mir aufsah, wie er versuchte, in meinen Augen zu lesen. Ich sagte: Lieber Jakob, ich werde Dich niemals vergessen! Ich werde eine Geschichte schreiben, die nur für Dich gemacht sein wird, für einen Mann von außerordentlichem Fingerspitzengefühl. Ich werde für Dich sorgen, lieber Jakob, in Deiner Freizeit wirst Du Briefmarken sammeln, versprochen, ich werde für Dich eine zarte Geschichte schreiben. — stop
no 45
olimambo : 23.52 UTC – Gestern habe ich etwas Seltsames mit mir selbst erlebt. Ich saß am Tisch vor meiner Schreibmaschine, als es plötzlich dunkel wurde in der Wohnung, nur etwas Licht vom Himmel war noch zu erkennen gewesen. Auch war es ganz still geworden, John Coltrane in dem Augenblick verstummt, als sich das Radio ausschaltete, ein Klicken, kaum wahrnehmbar. Nach ein oder zwei Minuten bemerkte ich, dass der Bildschirm meiner Schreibmaschine noch hell ins Zimmer strahlte, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass es stockfinster geworden war, eine seltsame Beobachtung, dass ich das Licht der Schreibmaschine nicht als eigentliches Licht wahrgenommen habe. Was, fragte ich mich, würde ich unternehmen, wenn nun nach zwei oder drei Stunden meine Schreibmaschine sich erschöpft ausschalten würde, wie mein Radio sich ausgeschaltet hatte. Nehmen wir einmal an, dachte ich, es wird dunkel bleiben und still für Monate oder Jahre, wäre ich in der Lage, mich an meine Gedanken, an meine Geschichten, die sich in der Schreibmaschine noch immer aufhalten werden, aber nicht lesbar sein würden, erinnern? Tatsächlich überlegte ich bald, ob es möglich wäre, mit Gegenständen, die sich in meinem Besitz befinden, Strom zu erzeugen. Wie lange Zeit müsste ich eine Handkurbel drehen, um kurz darauf für eine Stunde Zeit, Texte auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine lesen zu können. — Kurz vor Mitternacht. Agenturen melden, dass Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern im Transferbereiches des New Yorker John F. Kennedy Airport gestrandet, das heißt, festgehalten sind. — stop
winterspur
sierra : 16.02 UTC — Ich spazierte einmal im Gebirge durch den Schnee. Es war ein eiskalter Wintertag, der Himmel von einem wundervollen Polarblau, das ich gern gepflückt und mit mir in der Manteltasche nach Hause getragen hätte. Vögel waren nicht zu sehen, aber sie waren zu hören gewesen, dumpfe Geräusche wie aus einem Traum heraus. Ja, die Vögel schliefen, nichts anderes war möglich, hockten unter Schneeschirmen, die sich über Tannen und Fichtennadeln spannten, und warteten auf den Frühling. Ein Pfad führte durch den Wald, eine Spur, die Tiere bei Nacht und Menschen bei Tag gemeinsam in den Schnee eingetragen haben mochten. Wenn ich ganz still stand, konnte ich leise mein Herz in der Brust schlagen hören. Ein seltenes Ereignis, das eigene Herzgeräusch von unten herauf, oder war das doch nur eine Vorstellung gewesen. Und ich dachte an Eichhörnchen, ich dachte, gut, dass ich kein Eichhörnchen bin in diesem Winter. Eine Stunde ging ich so den Pfad entlang, dann kehrte ich um. — stop
einer
delta : 2.05 — Einer, der schreibt und schreibt und schreibt. Einer, der schneller schreibt als er lesen kann. Einer, der schreibt wie einer, der geht und sich niemals umsieht. Einer, der schreibt, wie er atmet. Einer, der schreibt, so lange er existiert, schreibt und schreibt, und wenn es zuletzt nur noch zwei oder drei Worte sind in der Stunde, die er schreiben wird. — stop