Aus der Wörtersammlung: terminal

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samstags

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fox­trott : 5.12 — Frü­her Nach­mit­tag, Som­mer. Ich beob­ach­te auf einem Fähr­schiff, das nach Sta­ten Island fährt, einen älte­ren Mann bei kon­zen­trier­ter Arbeit. Er sitzt auf einer Bank des Pro­me­na­den­decks tief über ein Buch gebeugt. Eini­ge Kin­der tol­len in sei­ner Nähe her­um, er nimmt, so sehr ist er bemüht, mit einem Blei­stift den Zei­len eines Buches zu fol­gen, kei­ne Notiz von ihnen. Ich den­ke zunächst, der alte Mann wür­de sei­ne Augen mit Hil­fe eines Blei­stifts ent­lang der Zei­chen­li­nie füh­ren, aber als ich mich nähe­re, ent­de­cke ich Wort für Wort eine leich­te Ver­zö­ge­rung der Bewe­gung, die aus der Ent­fer­nung betrach­tet doch wie eine flie­ßen­de Bewe­gung wirkt. Am Ende jeder Zei­le notiert der Mann eine Zif­fer, ver­mut­lich des­halb, weil er die Wör­ter des Buches zählt. Das ist selt­sam und zugleich berüh­rend, wie er so selbst­ver­ges­sen auf dem gro­ßen Schiff ver­weilt, und ich hof­fe, er möge auf Sta­ten Island ange­kom­men, mit dem nächs­ten Schiff zurück­fah­ren nach Man­hat­tan, und wie­der­um auf sei­nem Trans­fer Wör­ter zäh­len. Als das Schiff an das St. Geor­ge Ter­mi­nal anlegt, schließt der alte Mann das Buch, ver­staut sei­nen Blei­stift in einer Tasche sei­nes Jacketts, erhebt sich mühe­voll, um das Schiff lang­sam gehend über die Brü­cke, die sich zur Fäh­re hin senk­te, zu ver­las­sen. Im Saal des Ter­mi­nals bleibt er für einen Augen­blick vor einem Aqua­ri­um ste­hen, betrach­tet die Fische oder sein Spie­gel­bild, um sich weni­ge Minu­ten spä­ter von der Men­schen­men­ge, die auf das war­ten­de Schiff strömt, mit­neh­men zu las­sen. Nebel ist auf­ge­kom­men, die Möwen, die das Schiff auf sei­nem Weg nach Man­hat­tan beglei­ten, still. Ich ste­he drau­ßen auf der Pro­me­na­de und beob­ach­te das Was­ser, wie es weit unten ent­lang des Schiffs­kör­pers schäumt. Von Zeit zu Zeit schau ich durch Fens­ter zu dem alten Mann hin, zu sei­nem Buch, sei­nem Blei­stift, sei­nen Hän­den. — stop
unterwassertapete6

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leon grog abends

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echo : 2.55 — Am Flug­ha­fen, in einem War­te­saal unter dem Ter­mi­nal 1, hock­te ein älte­rer Mann am spä­ten Abend auf einer Bank. Neben ihm stand eine Fla­sche Milch auf dem Boden, sowie eine klei­ne, arg ram­po­nier­te Leder­ta­sche, die man frü­her viel­leicht ein­mal über die Schul­ter hän­gen konn­te, aber der Rie­men der Tasche war vom lan­gen Tra­gen zer­schlis­sen, bau­mel­te zu Tei­len von den Sei­ten der Tasche, die leicht geöff­net war, so dass ein Blick mög­lich wur­de auf einen Sta­pel von Luft­post­brie­fen, die sich in die Tasche füg­ten, als wären sie genau für die­se Tasche gefer­tigt oder aber die Tasche für genau die­se Samm­lung schein­bar weit­ge­reis­ter Brie­fe. Sie waren viel­fach geöff­net wor­den, viel­leicht gele­sen, das war deut­lich zu erken­nen. Einen der Brie­fe hielt der Mann gera­de in dem Moment, da ich ihn auf der Bank bemerk­te, an sein Ohr, er schien zu lau­schen. Sei­ne Augen hat­te er geschlos­sen, er wirk­te kon­zen­triert, ja andäch­tig. Als ich von dem alten Mann in die­ser Hal­tung eine Foto­gra­fie mit mei­nem Tele­fon­ap­pa­rat machen woll­te, sah er mich plötz­lich an und hob in einer reflex­ar­ti­gen Bewe­gung den Brief in die Höhe, so dass sein Gesicht nun bei­na­he ganz ver­deckt war. Da ging ich wei­ter, um nicht zu stö­ren, aber der Mann rief mir zu: War­ten sie, set­zen sie sich! Er über­reich­te mir den Brief, mit dem er kurz zuvor noch sein Gesicht mas­kiert hat­te, und for­der­te mich auf, das Kuvert an mein Ohr zu hal­ten. Der Brief knis­ter­te, als ich ihn in mei­ne Hän­de nahm. Auf der Anschrif­ten­sei­te des Brie­fes war mit fei­nen Zei­chen fol­gen­der Schrift­zug auf­ge­tra­gen: Leon Grog, Av. Rovis­co, 26, Lis­boa. Der Mann lach­te und deu­te­te auf sich selbst: Das bin ich, sag­te er, Leon. Er wies mit einer groß­zü­gi­gen Ges­te auf eine Brief­mar­ke hin, die akku­rat am rech­ten obe­ren Rand des Brie­fes befes­tigt wur­de, ein Stück Him­mel war zu erken­nen von hel­lem Blau, und ein blit­zen­des Flug­zeug, eine Cara­vel­le, die gera­de eben zu star­ten schien. Als ich selbst die Brief­mar­ke an mein Ohr leg­te, hör­te ich ein hel­les Rau­schen, ich hör­te die Moto­ren des Flug­zeu­ges und schloss die Augen wie der Herr zuvor sei­ne Augen geschlos­sen hat­te. Als ich sie wie­der öff­ne­te, bemer­ke ich einen wei­te­ren Brief, der gleich­falls an Herrn Leon Grog adres­siert wor­den war, wie­der­um nach Lis­sa­bon, wäh­rend der ers­te Brief aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten gesen­det wor­den war, kam die­ser hier von Kolum­bi­en her, eine Brief­mar­ke zeig­te etwas Regen­wald und einen Nas­horn­vo­gel von präch­ti­gem Gefie­der. — stop

ping

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aufs offene meer

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india : 5.08 – In die­ser Nacht ist etwas sehr Merk­wür­di­ges gesche­hen. Ich beob­ach­te­te auf dem Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne die pen­deln­de Bewe­gung zwei­er Fähr­schif­fe der Sta­ten Island Flot­te auf der Upper New York Bay. Es han­del­te sich einer­seits um die Fäh­re MS Moli­na­ri, ande­rer­seits um die Fäh­re MS Andrew J. Bar­be­ri. Stun­den­lan­ge plan­mä­ßi­ge Rei­sen der Schif­fe von Stadt­teil zu Stadt­teil. Plötz­lich, es war gegen 4 Uhr euro­päi­scher Zeit gewe­sen, 10 Uhr abends in New York, nahm die Fäh­re MS Moli­na­ri Kurs auf das offe­ne Meer hin­aus, ein so von mir noch nie zuvor beob­ach­te­ter Vor­gang. Nach einer hal­ben Stun­de wur­de das Schiff lang­sa­mer, war­te­te eini­ge Minu­ten, als wür­de es nach­den­ken, um kurz dar­auf zu wen­den und zur St. Geor­ge Ter­mi­nal­sta­ti­on zurück zu keh­ren. Weni­ge Minu­ten spä­ter ver­liess die Fäh­re John F. Ken­ne­dy, eigent­lich eine Tag­fäh­re, das Ter­mi­nal in Rich­tung Man­hat­tan­süd. Das ist tat­säch­lich sehr selt­sam, ich muss wach blei­ben, ich muss das Selt­sa­me wei­ter beob­ach­ten. — stop

molinari

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brief an charlie

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echo : 2.10 — Ges­tern schrieb ich an Char­lie einen Brief auf Papier. Lie­ber Char­lie, es war schön, Dich wie­der­ge­se­hen zu haben. Ich freue mich, dass Du Dich Dei­ner­seits freu­test als ich Dir erzähl­te, ich wür­de ein­mal einen klei­nen Text geschrie­ben haben, in dem Du vor­kommst. Ich habe die­sen Text gesucht und für Dich aus­ge­druckt. Ich hof­fe, er gefällt Dir. Herz­li­che Grü­ße. Dein Lou­is > An der Nacht­zeit­küs­te / 24. Febru­ar 2011 : Flug­ha­fen. Ter­mi­nal 1. Drei Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Ich sto­ße auf Char­lie, 36, Arbei­ter. Der Mann, der in Togo gebo­ren wur­de und lan­ge Zeit dort leb­te, sitzt unter schla­fen­den Rei­se­men­schen an der Nacht­zeit­küs­te. Er sieht selt­sam aus an die­ser Stel­le, ein Mann, der in sei­nem Leben noch nie mit einem Flug­zeug reis­te, statt­des­sen in Zügen, Bus­sen, Schif­fen durch den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent Rich­tung Euro­pa geflüch­tet war, ja, merk­wür­dig sieht Char­lie aus, wie er so unter schlum­mern­den Nord­ame­ri­ka­nern, Usbe­ken, Chi­le­nen, Japa­nern, Neu­see­län­dern sitzt. Er trägt Sicher­heits­schu­he, ein karier­tes Holz­fäl­ler­hemd und Hosen von kräf­ti­gem Stoff, mit Kat­zen­au­gen besetz­te dun­kel­blaue Bein­klei­der, die in jede Rich­tung reflek­tie­ren. Nein, unsicht­bar ist Char­lie, auch im Dun­keln, sicher nicht. Er macht gera­de Pau­se, trinkt Kaf­fee aus einer schrei­end gel­ben Ther­mos­kan­ne und genießt ein Stück­chen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorg­fäl­tig kaut er vor sich hin, nach­denk­lich, viel­leicht weil er sich auf ein Spiel kon­zen­triert, das er seit Jah­ren bereits an die­ser Stel­le war­tend stu­diert. Char­lie tippt Lot­to. Char­lie ist ein Meis­ter des Lot­to­spiels, Char­lie spielt mit Sys­tem. Er hat noch nie ver­lo­ren. Er hat noch nie ver­lo­ren, weil er noch nie einen wirk­li­chen Cent auf eine der Zah­len­rei­hen setz­te, die er in sei­ne Notiz­bü­cher notiert. Char­lie ist ein beob­ach­ten­der Spie­ler, Vater von fünf Kin­dern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nacht­ar­bei­ter ist. Wenn ich mich neben ihn set­ze und ihm zuse­he, wie er mit einem roten Kugel­schrei­ber Zah­len­ko­lon­nen in sei­ne Hef­te notiert, freut er sich, macht eine klei­ne Pau­se, erkun­digt sich nach mei­nem Befin­den, und schon schreibt er wei­ter, ana­ly­siert, rech­net, sucht nach einer For­mel, die sei­ne Fami­lie zu einer rei­chen Fami­lie machen wird. Ein­mal fra­ge ich Char­lie, ob er noch Brie­fe schrei­ben wür­de an sei­ne Eltern in Lomé. Ja, sagt Char­lie, jede Woche schrei­be er einen Brief an sei­ne Eltern, die am Meer leben, am Atlan­tik näm­lich. Ein ander­mal will ich wis­sen, war­um er nicht einen Com­pu­ter ein­set­zen wür­de, um viel­leicht schnel­ler fin­den zu kön­nen, was er sucht. Char­lie lacht, sieht mich an durch kräf­ti­ge Glä­ser einer Bril­le, sagt, dass er wis­se, wie bedeu­tend Com­pu­ter sei­en für die Welt, in der wir leben, sei­ne Kin­der spiel­ten mit die­sen Maschi­nen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er wei­ter. Eine ruhi­ge, kla­re Schrift. Rote Zei­chen. In die­sem Moment begrei­fe ich, dass ich einer Beschwö­rung bei­woh­ne, einem Gebet, Male­rei, einer Kom­po­si­ti­on, der “all­mäh­li­chen Ver­fer­ti­gung der Idee beim Schrei­ben”. Her­mann Bur­ger – stop

ping

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salzluft

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sier­ra : 6.25 — In der zen­tra­len Biblio­thek der Stadt Upp­sa­la soll eine Abtei­lung duf­ten­der Bücher exis­tie­ren. Der Beschrei­bung nach han­delt es sich bei die­ser Abtei­lung um einen küh­len, abge­dun­kel­ten Saal, in dem sich ent­lang der Wän­de glä­ser­ne Behäl­ter rei­hen, in wel­chen sich je ein Buch befin­det. Die­se Bücher sei­en min­des­tens ein­hun­dert Jah­re alt. Sie hät­ten sehr beweg­te Zei­ten hin­ter sich, sei­en zur See gefah­ren, über­dau­er­ten selbst­ver­lo­ren Jahr­hun­der­te in Kir­chen oder über­leb­ten zu Füßen vul­ka­ni­scher Ber­ge schwers­te Erup­tio­nen. Nähe­re man sich nun einem die­ser Behäl­ter, wür­de man bemer­ken, dass er über einen Vor­satz mit einem Rie­gel ver­fü­ge, den man öff­nen kön­ne, sobald man eine Nase an den Vor­satz leg­te. Unver­züg­lich wür­de man über­rascht von inten­si­ven Düf­ten, von Salz­luft­duft, zum Bei­spiel, wie er See­hä­fen eigen sei, oder von Schwe­fel­dämp­fen, von Weih­rauch- oder Myr­re­düf­ten. Lesen kön­ne man die Bücher natür­lich nicht, das sei nun über­haupt nicht vor­ge­se­hen, sie sind ja ein­ge­sperrt, und das wür­de sich nie­mals ändern, eine merk­wür­di­ge Geschich­te. Die­se merk­wür­di­ge Geschich­te wur­de mir ges­tern von einem Rei­sen­den erzählt, der nachts im Ter­mi­nal 1 des Flug­ha­fens war­te­te. Es war um kurz nach fünf Uhr, als sich eine Frau mit einem sehr klei­nen roten Kof­fer in der Hand nähr­te. Sie erkun­digt sich nach der Uhr­zeit. Ich sag­te: Es ist genau fünf­zehn Minu­ten nach. Wor­auf­hin die Frau wei­ter frag­te: Mor­gens oder abends? — stop

ping

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terminal 1

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india : 7.02 — Eine kugel­run­de Frau sitzt am Flug­ha­fen sehr auf­recht auf einer Bank. Sie hält in jeder Hand ein Tele­fon. Ein­mal betrach­tet sie das eine Tele­fon, dann wie­der das ande­re Tele­fon. Wie ich sie so beob­ach­te, glau­be ich zu bemer­ken, dass sie für bei­de Tele­fo­ne zärt­li­che Gefüh­le zu hegen scheint, als sei­en sie klei­ne Tie­re, die manch­mal zu ihr spre­chen. Ich spü­re plötz­lich selbst zärt­li­che Gefüh­le in mir wach­sen für die­se Frau oder die­ses Bild der Frau mit ihren Tele­fo­nen. Unver­mit­telt schaut sie mich an, und ich sen­ke mei­nen Blick, öff­ne schnell mei­ne Schreib­ma­schi­ne und begin­ne zu notie­ren, obwohl ich nichts im Kopf habe, das ich notie­ren könn­te. Also schrei­be ich zunächst, dass ich gera­de eben notie­re, obwohl ich nichts zu notie­ren habe, weil ich ver­le­gen bin. Ich schrei­be, eine kugel­run­de Frau sitzt früh­mor­gens sehr auf­recht auf einer Bank. Bald wird Som­mer wer­den. Am Flug­ha­fen exis­tie­ren weder Vögel noch Mäu­se. — stop

ameisenvogel

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alice austen

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echo : 1.58 — Vor län­ge­rer Zeit ein­mal woll­te ich ein Haus besu­chen, das die Foto­gra­fin Ali­ce Aus­ten vie­le Jah­re ihres Lebens bewohn­te. Ich erin­ne­re mich, es war ein bit­ter­kal­ter Tag gewe­sen, Schnee bedeck­te Sta­ten Island, und die Luft war so eisig, dass selbst die Möwen nicht zu flie­gen wünsch­ten. Ver­mut­lich des­halb, weil es so kalt gewe­sen war, blieb ich an der Rail­way Sta­ti­on Clif­ton im Zug, anstatt aus­zu­stei­gen und ein paar Meter zu Fuß zu Aus­tens Haus zu gehen. Ich fuhr wei­ter bis nach Tot­ten­ville, wo der Zug eine hal­be Stun­de war­te­te, um dann die­sel­be Stre­cke zurück­zu­fah­ren. Ein Ange­stell­ter der Bahn­ge­sell­schaft dampf­te wie eine Loko­mo­ti­ve über den Bahn­steig von Wagon zu Wagon, er schlug Eis von den Tritt­bret­tern des Zuges. Als wir uns  wie­der in Bewe­gung setz­ten, ließ er sich auf eine Bank fal­len und schlief sofort ein. Auch auf mei­nem Rück­weg zum Fähr­schiff­ter­mi­nal stieg ich in Clif­ton nicht aus, es war noch immer stür­misch, und ich ver­gaß das Haus, das ich besich­ti­gen woll­te, und Ali­ce Aus­ten, die tau­sen­de Foto­gra­fien Man­hat­tans zu einer Zeit ange­fer­tigt hat­te, da das Foto­gra­fie­ren noch Mut, Kraft und Aus­dau­er erfor­der­te. Ges­tern habe ich ein wenig Zeit auf der Suche nach ihr ver­bracht. Sie soll als ein­zi­ge Frau der Insel Besit­ze­rin eines Auto­mo­bils gewe­sen sein. Auf einer Foto­gra­fie ist ihre Lebens­ge­fähr­tin Ger­tru­de Tate zu sehen, wie sie still hält. Die jun­ge Frau sitzt auf einer Veran­da, die heu­te noch exis­tie­ren soll, umge­ben von Blu­men, einer Wild­nis so wild, dass sie die nahe Küs­te ver­birgt. Auf einer wei­te­ren Foto­gra­fie, die ich noch nicht ken­ne, soll Ali­ce Aus­ten an der­sel­ben Stel­le im Alter von 26 Jah­ren zu sehen sein, auch sie sit­zend, eine Selbst­auf­nah­me, unter einem Strauß Blu­men ver­bor­gen ein Gum­mi­ball gefüllt mit Luft, die sie mit­tels einer kräf­ti­gen Bewe­gung ihrer Hand durch einen Schlauch zu ihrer Kame­ra gepresst haben muss­te, um die Licht­auf­nah­me aus­zu­lö­sen. Ein Geräusch viel­leicht, wie ein Atem­zug mög­li­cher­wei­se, oder ein Seuf­zen. — stop

ping

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über staten island nachts

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whis­key : 8.28 — Auf der Suche im Inter­net nach Pro­pel­ler­flug­ma­schi­nen, die von Hand zu bedie­nen sind, ent­deck­te ich eine Leih­sta­ti­on für Droh­nen­vö­gel nahe des St. Geor­ge Fer­ry Ter­mi­nals, und zwar in der Bay Street, Haus­num­mer 54. Obwohl ich mich in Mit­tel­eu­ro­pa befand, muss­te ich, um Kun­de wer­den zu kön­nen, kei­ne wei­te­ren Anga­ben zur Per­son hin­ter­le­gen als mei­ne Kre­dit­kar­ten­num­mer, nicht also begrün­den, wes­halb ich den klei­nen Metall­vo­gel, sechs Pro­pel­ler, für drei Stun­den nahe der Stadt New York aus­lei­hen woll­te. Auch erkun­dig­te sich nie­mand, ob ich über­haupt in der Lage wäre, eine Droh­ne zu steu­ern, selt­sa­me Sache. Ich bezahl­te 24 Dol­lar und star­te­te unver­züg­lich mit Hil­fe mei­ner Com­pu­ter­tas­ta­tur vom Dach eines fla­chen Gebäu­des aus. Ich flog zunächst vor­sich­tig auf und ab, um nach weni­gen Minu­ten bereits einen Flug ent­lang der Metro­ge­lei­se zu wagen, die in einem sanf­ten Bogen in Rich­tung des offe­nen Atlan­tiks nach Tot­ten­ville füh­ren. Ich beweg­te mich sehr lang­sam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die fer­ne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bild­schirm war sehr gut zu erken­nen, ich ver­moch­te selbst Gesich­ter von Rei­sen­den hin­ter stau­bi­gen Fens­ter­schei­ben pas­sie­ren­der Züge zu ent­de­cken. Nach einer hal­ben Stun­de erreich­te ich Clif­ton, nied­ri­ge Häu­ser dort, dicht an dicht, in den Gär­ten mäch­ti­ge, alte Bäu­me, um nach einer wei­te­ren Vier­tel­stun­de Flug­zeit unter der Ver­ranz­a­no-Nar­rows Bridge hin­durch­zu­flie­gen. Nahe der Sta­ti­on Jef­fer­son Ave­nue wur­de gera­de ein Feu­er gelöscht, eine Rauch­säu­le rag­te senk­recht hoch in die Luft als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steu­er­te in der­sel­ben Höhe wie zuvor, der Lower Bay ent­ge­gen. Am Strand spa­zier­ten Men­schen, die wink­ten, als sie mei­nen Droh­nen­vo­gel oder mich ent­deck­ten. Als ich etwas tie­fer ging, bemerk­te ich in der Kro­ne eines Bau­mes in Ufer­nä­he ein Fahr­rad, des Wei­te­ren einen Stuhl und eine Pup­pe, auch Tang war zu erken­nen und ver­ein­zelt Vogel­nes­ter. Es war spä­ter Nach­mit­tag  gewor­den jen­seits des Atlan­tiks, es wur­de lang­sam dun­kel. — stop

polaroidzug

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tod in peking 4

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del­ta : 0.25 — Wenn ich an die Stadt Peking den­ke, den­ke ich auch an einen Freund zurück, des­sen Leben in die­ser fer­nen Stadt vor zwei Jah­ren und vier­und­drei­ßig Tagen ende­te. Er war Foto­graf gewe­sen, sein Kör­per und sei­ne Woh­nung exis­tie­ren nicht mehr, sei­ne Foto­ap­pa­ra­te wur­den mög­li­cher­wei­se ver­schenkt oder ver­kauft, doch zahl­rei­che sei­ner Foto­gra­fien leben in der digi­ta­len Sphä­re wei­ter fort, auch Ein­trä­ge bei Face­book, da nie­mand zu fin­den ist, der sie löschen könn­te oder löschen woll­te. Die viel­leicht letz­te Auf­nah­me von sei­ner Hand in Euro­pa, zeigt einen Gepäck­wa­gen im Ter­mi­nal 1 des Frank­fur­ter Flug­ha­fen, 3 Kof­fer und 1 Ruck­sack. Weil der foto­gra­fie­ren­de Mensch hin­ter der Kame­ra stand, wir­ken sie schon ver­waist, oder viel­leicht nur des­halb, weil sie in Kennt­nis sei­nes nahen­den Todes von mir betrach­tet wer­den. Sicher ist, dass Men­schen nach dem Ver­stor­be­nen suchen, sie sto­ßen dann auch auf Tex­te, die ich notier­te, ver­wei­len, weil sie sich erin­nern oder weil sie sich wun­dern, viel­leicht haben sie einen ähn­lich tra­gi­schen Ver­lust erlebt. Ande­re blei­ben nur für Sekun­den, weiß der Him­mel war­um, viel­leicht waren sie Such­ma­schi­nen, nie­mand schreibt, nie­mand kom­men­tiert, ein Schau­en und Schwei­gen. – stop

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ein junge

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india : 7.08 — Im Café No 5 unterm Flug­ha­fen­ter­mi­nal beob­ach­te­te ich einen Mann, der sich äußerst spar­sam, lan­ge Zeit über­haupt nicht beweg­te. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zei­tung, neben der Zei­tung Fol­gen­des: eine Tas­se Kaf­fee, ein Glas Was­ser, Zucker­wür­fel, Notiz­block und Blei­stift. Eine hal­be Stun­de ver­ging in die­ser Wei­se, die Hän­de des Man­nes ruh­ten in sei­nem Schoß. Ein­mal rück­te der Mann sei­nen Kof­fer, der hin­ter ihm an der Wand park­te, ein klei­nes Stück zur Sei­te, ein ander­mal hob er sei­ne Kaf­fee­tas­se in die Luft, um sie in einem Zug aus­zu­trin­ken. Dann wie­der kei­ner­lei Bewe­gung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagier­te weder auf Laut­spre­cher­durch­sa­gen, noch küm­mer­te er sich um Men­schen, die das Café auf Lauf­bän­dern pas­sier­ten, es waren vie­le chi­ne­si­sche Rei­sen­de dar­un­ter, die gera­de erst aus Shang­hai und Peking in gro­ßen Flug­zü­gen ein­ge­trof­fen waren. Der Mann starr­te auf eine Schwarz­weiß­fo­to­gra­fie, die auf der Titel­sei­te einer Zei­tung abge­druckt wor­den war. Ein Jun­ge lag dort unbe­klei­det auf einer Bast­mat­te mit­ten auf einer schmut­zi­gen, feuch­ten Stra­ße. In eini­ger Ent­fer­nung, im Hin­ter­grund, war­te­ten Men­schen, die den Jun­gen beob­ach­te­ten. Der Jun­ge schwit­ze, sei­ne schwar­ze Haut war von Flie­gen bedeckt, er sah mit halb­ge­schlos­se­nen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutz­an­zug steck­te. Anstatt eines Kop­fes war auf den Schul­tern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zer­knit­ter­te Hau­be genau­er, die unter Luft­druck zu ste­hen schien. Das Wesen hat­te sei­ne rech­te Kunst­stoff­hand nach dem Jun­gen, der ein­sam auf dem Boden lie­gend ver­harr­te, aus­ge­streckt, es woll­te ihn viel­leicht ermu­ti­gen, auf­zu­ste­hen und zu ihm an den Rand der Stra­ße zu kom­men. Obwohl sich die Hand nicht beweg­te, ver­mit­tel­te sie den Ein­druck, dass sie sich bewegt haben muss­te und wei­ter­hin bewe­gen wür­de, weil die Stel­lung ihrer Fin­ger nur in die­ser ver­mu­te­ten Bewe­gung einen Sinn ergab. Ja, die­se Hand muss­te in der Zeit des Bil­des eine win­ken­de Hand gewe­sen sein, aber es war deut­lich zu sehen, dass der Jun­ge ver­mut­lich nicht län­ger die Kraft hat­te, auf­zu­ste­hen oder zu krie­chen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüs­tern, oder die Flie­gen auf sei­nem Kör­per zu ver­trei­ben. Es war still, voll­kom­men still, nichts zu hören. — stop

ping