Aus der Wörtersammlung: wangen

///

gebäck

pic

gink­go : 6.05 — War bei Har­rods gewe­sen, ein hell aus­ge­leuch­te­ter Saal. Ver­käu­fe­rin­nen in grü­nen Over­alls sta­pel­ten kunst­voll mensch­li­che Arme und Bei­ne und Köp­fe auf Tische. Kla­re, in den Augen schmer­zen­de Sub­stanz fiel von der Decke. Bald dar­auf Kurz­stre­cken­fahrt im U‑Bahnwaggon. Ein feuch­ter mensch­li­cher Arm ruh­te auf mei­nen Ober­schen­keln. Die­ser Arm nun war in Zei­tungs­pa­pier gewi­ckelt, sei­den­wei­ße Sub­stanz tropf­te auf den Boden. Gleich gegen­über ein Mann und eine Frau. Das Gesicht des Man­nes dampf­te. Die Frau, die eine Melo­die vor sich hin­summ­te, schäl­te mit einem Tee­löf­fel­chen gramm­schwe­re Fleisch­pro­ben aus den Wan­gen des Man­nes, um sie ent­we­der sofort zu ver­zeh­ren oder wei­te­ren Fahr­gäs­ten dar­zu­bie­ten. — stop. — Mon­tag. stop. Duke Elling­ton : Take the “A” Train. stop. Es ist denk­bar, dass ich über das Gedächt­nis eines Ele­fan­ten ver­fü­ge. — stop

ping

///

spieldose

2

tan­go : 0.03 — Vor Jah­ren, zur Som­mer­zeit, an der Sei­te einer schwer­mü­ti­gen Frau durch trop­fen­den Wald nahe eines Kran­ken­hau­ses. Es hat­te gereg­net, eine Sint­flut, das Kleid der Frau, von dem sie erzähl­te, dass es sich um ein bren­nen­des Kleid han­de­le, kleb­te an ihrem Kör­per fest. Schmal war sie gewor­den, zer­brech­lich, fast durch­sich­tig die Haut ihrer Hän­de, ihrer Wan­gen, ihres Hal­ses. Ich erin­ne­re mich, dass ich ihr Libel­len zeig­te, sie jag­ten dicht über den damp­fen­den Boden hin, Wald­erd­bee­ren, einen Frosch. Ich frag­te nach ihren Gedan­ken, aber ich konn­te sie  nicht errei­chen, auch mit mei­nen Bli­cken nicht, weil sie mich nicht anse­hen woll­te, son­dern vor sich hin starr­te, indem sie vor­sich­tig ihre Schrit­te setz­te, als wür­de der Boden unter ihren Füßen nicht wirk­lich exis­tie­ren. Ihr fei­nes Gesicht, ihre hel­len Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer lan­gen Zeit des Schwei­gens sag­te, nie­mand kön­ne ver­ste­hen, wie sie sich füh­le, kein Mensch, das sei schreck­lich, und das Atmen, die Angst, die Lee­re, der Ein­druck zu fal­len, und dass sie nicht wüss­te, wann das alles wie­der­kommt, wenn es doch ein­mal auf­ge­hört haben soll­te, und war­um. In einer ihrer Hän­de barg sie eine Spiel­do­se. Manch­mal hielt sie die klei­ne Maschi­ne vor ihr Gesicht und dreh­te an einer Kur­bel. Sie neig­te dann den Kopf zur Sei­te, und für einen Moment schien der Schmerz nach­zu­las­sen, eine Ahnung im Som­mer­re­gen, eine Erfah­rung größ­ter Fer­ne und Hilf­lo­sig­keit inmit­ten zir­pen­den, pfei­fen­den, rau­schen­den Lebens. Ges­tern in einer beson­de­ren Wei­se von dem erschüt­tern­den, hoff­nungs­fro­hen Film Helen in die Tie­fe erzählt. — Top five der schlech­tes­ten, gut gemein­ten Rat­schlä­ge von Leu­ten, die über­haupt kei­ne Ahnung haben: Fahr in die Feri­en, lies ein Buch, lass Dir die Haa­re schnei­den, reno­vier Dei­ne Woh­nung, ler­ne Joga.

///

kaukasus : unsichtbare fotografie

9

sier­ra : 2.08 – Okto­ber­licht, das auf eine Stra­ße fällt. In der Mit­te die­ser Stra­ße liegt eine jun­ge Frau auf dem Rücken. Sie liegt, als wür­de sie bald schla­fen, die Bei­ne von sich gestreckt. Eine blaue Blu­se. Gel­be Turn­schu­he. Jeans. Da und dort segelt ein Schat­ten unter der Haut ihrer Wan­gen, und doch ist das Gesicht ein schnee­wei­ßes Gesicht mit einem roten, blü­hen­den Mund. Augen, die halb geschlos­sen sind. Unend­lich müde blaue Augen oder doch eher unend­lich müde dunk­le Augen, ja, doch eher dunk­le Augen, das Blau der Blu­se irrt auf ihrem Gesicht her­um. Auch ihre Hän­de sind weiß und etwas blau. Eine Hand liegt auf der Stra­ße, die ande­re Hand auf dem Bauch der jun­gen Frau. Hän­de, die etwas plan­ten viel­leicht, Hän­de, die ange­hal­ten wur­den oder auf­ge­hal­ten, in dem man die Zeit im Kör­per der jun­gen Frau stopp­te oder lösch­te. Ja, kühl muss sie sein, kühl gewor­den, ohne jedes Lebens­feu­er, wie sie so auf der Stra­ße liegt. Kein Blut weit und breit. Nur ihr Mund, der blüht, weil die Far­be nicht ihre Far­be ist im Stern­licht auf einem Gesicht ohne Namen. Man darf das Gesicht jetzt foto­gra­fie­ren von allen Sei­ten. Also foto­gra­fiert man das Gesicht von allen Sei­ten. Man darf jetzt schrei­ben, die jun­ge Frau sei aus dem Süden gekom­men, vom Kau­ka­sus her. Also schreibt man, die jun­ge Frau sei aus dem Süden gekom­men, vom Kau­ka­sus her. Eine wei­te Rei­se, ihre Rei­se nach Mos­kau. Dort liegt sie jetzt. Eine Bom­be. Sie soll eine leben­de Bom­be gewe­sen sein. Wel­che Schu­le besuch­te sie? Was hat­te sie erlebt? Schwar­zes Haar.
ping

///

gedankengeschichte

pic

romeo : 16.25 — Mit einer jun­gen Ärz­tin im Gespräch über Men­schen, die sich aus modi­schen Grün­den von klei­ne­ren Tei­len ihrer Wan­gen tren­nen, um sie durch edels­te Höl­zer zu erset­zen, je nach Teint, stell­te ich mir vor, hel­le­re oder etwas dunk­le­re Mate­ria­li­en, die man polie­ren kann, die glü­hen wie die Sub­stan­zen fei­ner Pfei­fen­köp­fe. Ich erzähl­te die­se Gedan­ken­ge­schich­te bei einer Tas­se Scho­ko­la­de, rück­te mit mei­ner Phan­ta­sie lang­sam vor­wärts, weil ich erwar­te­te, sie wür­de viel­leicht auf­sprin­gen und sich ent­fer­nen wol­len. Statt­des­sen stell­te sie die Fra­ge, ob man die Mate­ria­li­en des Wal­des, über die ich nach­ge­dacht hat­te, als Schmuck­wa­re betrach­ten soll­te, die im Fleisch des Kör­pers schwim­men wür­de, oder eher um Bojen­kör­per, wel­che mit einem der Gesichts­kno­chen ver­bun­den sein müss­ten. Sie mach­te eine klei­ne Pau­se und noch ehe ich ant­wor­ten konn­te, stell­te sie nüch­tern fest: Die Rän­der der Natür­lich­keit sind ein Pro­blem. stop. Kurz nach vier Uhr und fast schon dun­kel. Seit einer Stun­de Regen. Er kommt in einer Wei­se vom Him­mel gefal­len, dass ich ihn wie­der hören kann. — stop

ping

///

istanbul

pic

nord­pol : 2.55 — Beob­ach­te­te nach­mit­tags auf mei­nem Fern­seh­bild­schirm einen Blitz, der einen Abend zuvor von einer Han­dy­ka­me­ra auf­ge­nom­men wor­den war. Die­ser Blitz ereig­ne­te sich in Istan­bul zu einem Zeit­punkt, als ich gera­de über­leg­te, ob ich in einem Buch lesen soll­te oder bes­ser noch etwas notie­ren über die Kirsch­holzwan­gen einer japa­ni­schen Frau, die ich gera­de erfin­de. Aber mein Kopf war in der feucht­war­men Luft doch sehr lang­sam gewor­den, also stell­te ich mich für zwei Minu­ten unter kal­tes Was­ser und als ich zurück­kam und mein Fern­seh­ge­rät ein­schal­te­te, konn­te ich sehen, was der Blitz, den ich erst einen Tag spä­ter mit eige­nen Augen sehen wür­de, ange­rich­tet hat­te. Men­schen lagen bewe­gungs­los auf einer Stra­ße her­um und ande­re Men­schen, die sich beweg­ten, ver­such­ten jene Men­schen, die lagen und sich nicht mehr beweg­ten, zu über­re­den, es ihnen gleich zu tun, also zu atmen und wei­ter­zu­le­ben, als sei der Blitz nie gesche­hen. Da war das Geräusch von Ambu­lan­zen, ein jau­len­der Ton, von dem ich häu­fig träu­me, und da war die Stim­me einer ame­ri­ka­ni­schen Frau, die die Explo­si­on zwei­er Bom­ben mel­de­te, einer klei­ne­ren, locken­den Bom­be und einer grö­ße­ren, mor­den­den Bom­be. Als ich ges­tern Nach­mit­tag dann auf mei­nem Fern­seh­bild­schirm jenen Blitz beob­ach­te­te, der so vie­le Men­schen töte­te, dass zwei Hän­de nicht aus­rei­chen, sie mit den Fin­gern zu zäh­len, habe ich über­legt, ob ich nicht bald ein­mal wagen soll­te, einen Atten­tä­ter zu erfin­den, also mich in einen Atten­tä­ter zu ver­wan­deln auf dem Papier, mich hin­ein­zu­ver­set­zen in eine Figur, die Bom­ben legt, um Men­schen zu töten. Ist es mög­lich, fra­ge ich, mich in einen Atten­tä­ter solan­ge hin­ein­zu­den­ken, wie ich mich in eine japa­ni­sche Frau hin­ein­den­ke, eine japa­ni­sche Frau mit einem kirsch­höl­zer­nen Gesicht, ohne Scha­den zu nehmen?

ping

///

mund ohne zunge

pic

marim­ba : 5.15 — Schon immer bin ich ein Träu­mer gewe­sen, saß auf Bäu­men, kam zu spät zur Schu­le oder zum Mit­tag­essen, Fuß­ball­spie­le ende­ten ohne mich, Züge fuh­ren in die fal­sche Rich­tung mit mir davon. Ein­mal küss­te ich ein Mäd­chen solan­ge ich konn­te, das heißt, sie küss­te mich solan­ge sie woll­te, weil die Zeit, von der ich erzäh­le, eine Zeit gewe­sen war, in der die Mäd­chen sich die Jun­gen zum Küs­sen hol­ten, weil die Jun­gen noch mit Eisen­bah­nen oder ande­ren Jun­gen spiel­ten. Wäh­rend sie ihren sehr küh­len Mund auf mei­nen sehr klei­nen Mund press­te, sah sie auf die Uhr und manch­mal lach­ten wir, ohne die Lip­pen von­ein­an­der zu lösen, weil die Win­de aus unse­ren Nasen sich über unse­ren Wan­gen kreuz­ten. Bald sag­te sie, eine Minu­te, und dann sag­te sie, zwei Minu­ten, und so eil­ten wir von Rekord zu Rekord, zit­tern­de Wesen ohne Zun­gen. Schon damals trug ich eine inne­re Uhr mit mir her­um. Ich hat­te eine genaue Vor­stel­lung, wo die­se Uhr zu fin­den sein muss­te. Nicht im Kopf, nicht in der Nähe mei­ner Ohren, dort wäre ihr Zähl­werk zu hören gewe­sen. Und ich wuss­te, dass man sich auf inne­re Uhren, auf Kör­per­uh­ren, nicht ver­las­sen konn­te, nicht wenn man gera­de noch von einem Mund geküsst wor­den war.

ping

///

oe

2

marim­ba : 1.15 — Saß früh­abends am See unter blü­hen­den Aka­zi­en­bäu­men. Viel­leicht des­halb, weil die Aka­zi­en blühn, nie­sen in die­sen Tagen und Näch­ten die Schwä­ne und auch die Rot­wan­gen­schild­krö­ten nie­sen und alle Enten. Hör sie noch aus gro­ßer Ent­fer­nung, fei­ne, hel­le Luft­ge­räu­sche, wäh­rend ich am Schreib­tisch sit­ze und Kenzabu­ro Oe’s Roman Der Stolz der Toten beob­ach­te, das geschlos­sen vor mir liegt. Gleich werd ich das Buch öff­nen und sei­ne Zei­chen zählen.
ping

///

holzmund

pic

20.05 — In einem Tram­bahn­wa­gon saßen Men­schen im Glüh­bir­nen­licht, Per­so­nen, die ihre Gesich­ter abneh­men und aus­tau­schen konn­ten, so wie es ihnen gera­de Freu­de mach­te. Eine jun­ge Per­son über­reich­te mir ein Stück war­mer Haut, mit dem sie mich kurz zuvor noch ange­lä­chelt hat­te. Da waren jetzt Wan­gen von leicht rosa­far­be­nem, und eine Stirn von dunk­lem Holz, und da waren Augen, die wei­ter­hin lach­ten, und ein sehr schö­ner Mund, und auch die­ser Mund war ein höl­zer­ner Mund. — stop

ping