ulysses : 7.
32 — Madison Avenue am frühen Morgen von Süd nach Nord. Tausende Tagpassanten nähern sich und verschwinden. Heftige Winde. Blüten, Blätter, Töne wirbeln in Spiralen durch die frische Luft. Frauen halten ihre Röcke, Männer ihre Hüte fest. Berauschende Glücksgefühle. Werde ich größer oder werde ich kleiner? Irgendetwas scheppert leise im Kopf von Schritt zu Schritt. Fliegenleichtgewichte, transparente Hummergestalten, spazieren seitwärts über den Bildschirm meiner Handschreibmaschine dahin, gebeutelte, zausige Herzen. Wo waren sie in der vergangenen Nacht gewesen? Indem ich eines der Geschöpfe auf der Schulter mit mir trage, der Gedanke, dass sich beinahe alle Menschen dieser großen Stadt nicht persönlich kennen. — stop
Aus der Wörtersammlung: ware
vögel
charlie : 2.08 — Plötzlich war er da, wie aus dem Nichts, der Junge heut Nacht woher zurückgekommen. Kniete auf einem Stuhl vor dem Bett, auf dem seine Mutter ruhte. Ein Arzt hatte zu ihm gesprochen, erklärt, weshalb die Mutter so lange Zeiten schlafen müsse, diesen merkwürdigen Schlaf, Monate, Monate, Monate. Und dass die Mutter nicht antworten, aber hören könne, wenn man zu ihr sprechen würde. Also erzählte der Junge seiner Mutter von der Schule, vom Schnee, vom Ballspiel, von dampfenden Lokomotiven seiner Modelleisenbahn. Manchmal flüsterte er, beugte sich hin zum schlafenden Ohr, erzählte von geheimen Dingen. Und von den Vögeln berichtete der kleine Mann, von Vögeln, die sehr nah gleich hinter dem Fenster an der Brüstung des Balkons ihre Schnäbel wetzten. Vögel waren das, besondere Vögel, sie halfen, weiterzuerzählen, wenn ihm nichts einfallen wollte. Einmal hörte ich, wie er einen Vogel erfand, ein Wesen, das allein durch Wörter für Sekunden existierte, einen Vogel der Poesie. Seine glockenhelle, aufgeregte Stimme, sein erhitztes Gesicht, seine müden Augen, seine Hände, die die Luft beschrieben. — stop
winde
sierra : 0.02 — Vergangene Nacht ein feiner Traum. Pendelte unter riesiger Stadt in einem U‑Bahnzug. Kostbar geschmückte saßen zwischen zerlumpten Menschen. Ameisen prozessierten, kreisrunde Papiere in ihren Zangen, ein zerteiltes Buch durchs Abteil. Kinder spielten mit Pingpongbällen, federlose Täubchen fackelten über offenen Kohlefeuern. Und da waren Libellen von vornehmer Größe, bitter duftende, blauhäutige Tiere, sie schwebten mit der reisenden Luft. Nie wurde Dunkel im Zug, Jahre fuhren wir so dahin, ohne je einmal anzuhalten. Eine Lautsprecherstimme, scheppernd, pfeifend. Immer wieder derselbe Satz: It was a wrong number that started it. – stop. — Mein Handnotizcomputer, so leise, so leise, dass ich mich zu ihm neige, um seinen Wind wahrnehmen zu können. — stop
hydra
sierra : 6.30 — Haben Sie schon einmal mit dem Gedanken gespielt, in einem Kolonialwarenladen für zwei Stangen Zimt den fünffachen des geforderten Preises in aufrichtiger Erwartung zu bezahlen, man möge das zugesetzte Geld an Plantagenarbeiter und ihre Familien nach Sri Lanka transferieren? – Sie schmeichelten dem charmantesten Kopf einer Hydra! — stop
standardminute
delta : 6.05 — Wie ich abends im Warenhaus eine moderne Standardminute erlebte, das will ich rasch noch berichten, eh mir die Augen zufallen, müde vom Wundern. Eine ganze Minute also. In dieser Minute, an ihrem Anfang genauer, befindet sich eine Kassiererin mittleren Alters, unruhig sind Augen und Mund, und ihre flatternden Hände, Werkzeuge, die Waren über Lichttaster ziehen. Eine alte Dame ist da noch, eine Dame mit Hut, die sich sehr langsam bewegt, ein wahres Reptil, würdevoll, bedächtig. Ein wenig zerstreut scheint sie zu sein, hebt immer wieder den Blick, beobachtet scheu die Bewegung des Bandes, die Reise ihrer persönlichen Ware: eine Schachtel Pralinen, ein Fläschchen Jägermeister, Salzstangen, drei Dosen Katzenfutter, ein duzend Schokoladenostereier in Grün, in Gelb, in Rot, und ein weiteres Fläschchen noch hinterher. Das alles muss jetzt in die Tasche, sofort, und doch ist es schon zu spät. Zwei Aprikosensafttüten schieben sich, einem Eisbrecher ähnlich, in den wartenden Bezirk der alten Frau hinein, falten Eier, Salzstangen und andere Warenteile steil zur Seite. Man kann jetzt hören, wie das klingt, wenn eine Dame höflich um Geduld bittet, um Nachsicht, eine freundliche, eine herzerwärmende Stimme, und das Geräusch einer Flasche, die zu Boden fällt. Wie sich die alte Dame nun aufrichtet, wie ihre hellen Augen meine Hände beobachten, die versuchen, weiteres Unglück abzuwenden. Ungläubig schaut sie mich an, dann das Förderband entlang, das weitere Waren voran transportiert. Ja, bald stehen wir und staunen zu zweit, und auch die Verkäuferin ist zur mitfühlenden Beobachterin geworden. Sie lurt zum Warenstrom hin, der über die Kante der Rollbandtheke in die Tiefe stürzt. Ihre Hände, diese seltsamen Hände, sie arbeiten weiter und weiter, schieben und schieben, als führten sie ein eigenes Leben oder gehörten schon der Maschine mit ihrem Rotlichtaugengehirn. stop. Minute zu Ende. stop. Guten Morgen. — stop
kopfaffen
himalaya : 0.58 — Wann das mit den Affen genau angefangen haben könnte, dass sie mich begleiten, sobald ich die Tür zur Wildnis öffne und jagen gehe ins Warenhaus um die Ecke, vermag ich nicht zu sagen. Ein Anfang jedenfalls könnte sein, zu wissen, welchen Ursprungs sie sind. Ich sage Ihnen das Folgende im Vertrauen leise, sie hüpfen aus der Reproduktion einer Malerei heraus, die ich vor zwei Jahren im Sommer auf Höhe meiner Augen an den Rahmen der Wohnungstüre nagelte, kawumm. Irgendwann war es zur Gewohnheit geworden, das kleine Bild zu betrachten, in dem ich die Schleuse zur Außenwelt passiere. Ich schlendere dann eine Straße unter schneienden Akazien entlang und beobachte Wesen, wie sie in den Kronen der Bäume toben. Wenn ich mich selbst vergessen habe und warum ich eigentlich auf die Straße getreten bin, sind sie gut gelungen. Jetzt nur noch Affenmensch sein, atmen und in die Blätter schauen. - Donnerstag. Das Erfinden ist ganz sicher ein Vorgang geschmeidiger Achtsamkeit. — stop
amerikafahrt
marimba : 0.02 — Sekundenbriefmarke aus dem Jahr 1959, zu einer Zeit notiert, da ich selbst, auch als Idee, noch nicht geboren war: Das Taxi war groß wie eine Lokomotive. Und es war grellgelb angestrichen wie ein deutscher Briefkasten. Auf seinem Dach funkte es blaurote Lichtsignale, sie ähnelten dem blitzenden wachsamen Auge der Polizei, und für eine Weile hatte ich das Gefühl, ein Ehrengast zu sein, der eskortiert und ohne Berührung mit Land und Leuten an ein Ziel gebracht werden soll. Die Polster des Wagens waren hart, und der nackte Stahlboden war schmutzig; man bot dem Fahrgast den Transport, man bot ihm nicht mehr. Andauernd erreichten den Wagenlenker durch die Luft gesandte Botschaften; Unsichtbare sprachen zu ihm, beschworen ihn, quälten ihn, hetzten ihn. Zuweilen antworte der Mann den Stimmen der befehlenden Luftgeister. Wolfgang Koeppen A m e r i k a f a h r t
fotografieren
echo : 0.52 — Dieses kleine Stück hier, zur Vollmondnacht, handelt von einer Frau, die mir vor wenigen Stunden nach langer Zeit der Abwesenheit wieder begegnet ist, weil ich den silbergrauen Mond am wolkenlosen Abendhimmel bemerkt hatte, und aus diesem heiteren Luftraum heraus, war sie dann plötzlich zu mir hereingefallen, selbst ihre Stimme, eine außerordentlich leise Stimme, ist nun so gegenwärtig als wäre kaum Zeit vergangen seit unserer Unterhaltung im Präpariersaal der Münchener Anatomie. Ich hätte sie damals beinahe übersehen, eine kleine Gestalt, die präparierend auf einem Schemel kniete und merkwürdige Bewegungen mit den Augen machte. Sie betrachtete den Körper vor sich auf dem Tisch mit einem ruhigen, mit einem festen Blick für je einige Sekunden, dann schloss sie die Augen für etwa dieselbe Zeit, die sie geöffnet gewesen waren, und so wiederholte sich das Stunde um Stunde. Einmal setzte ich mich neben sie an den Tisch und erzählte, dass ich ihre Augen, ihren Blick beobachtet haben würde und den Eindruck gewonnen, sie mache Bewegungen mit ihren Augen, die der Linsenbewegung eines Fotoapparates ähnlich seien. Richtig, antwortete die Frau, ich schließe meine Augen und schaue mir im Dunkeln an, was ich gespeichert habe. — Eine seltsame Stimme. Sehr hell. Und scheu. Ein Zittern. Wie durch einen Kamm geblasen. — stop
schweizer jazz : paul nizon
india : 0.03 — Gestern bin ich Paul Nizon wiederbegegnet. Durfte beobachten, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trägt jetzt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar ist grau geworden, und doch ist er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. In diesem Moment, grad ist Dienstag geworden, erinnere ich mich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnet war in der Straße, in der ich wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Und da war noch etwas gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. — Ja, ein Frühlingsabend. — Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. – Nacht. stop. Schnee. stop. Flügel. — stop
zigarillo
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : ZIGARILLO
Mein lieber Jonathan, Depesche westwärts. Habe an diesem endenden Tag viele Stunden lang Herzen betrachtet und über Zeppelinfluchthandtaschen nachgedacht. Bald noch ein wunderbarer Film, Blue in the face, ein Film, der mir so vertraut geworden ist, dass ich ihn in meinem Kopf abspielen könnte wie einen Traum. Ich müsste dann Folgendes träumen in der zweiten Minute der Zeit, einen Tabakwarenladen träumen, das Jahr 1995 nahe Prospect Park in Brooklyn, Lou Reed, wie er hinter der Theke des Ladens steht. Er raucht ein Zigarillo, nimmt einen tiefen Zug, beginnt zu sprechen, ruhig, entspannt. Er sagt: Ich denke einer der Gründe, weswegen ich in New York lebe ist, weil, ich kenn mich aus in New York. In Paris kenn ich mich nicht aus. Ich kenne mich nicht aus in Denver. Ich kenn mich nicht aus auf Maui, und ich kenn mich nicht aus in Toronto. Und so weiter und so fort. Ich tu’s also fast aus Bequemlichkeit. Na ja, ich kenne kaum jemanden, der in New York wohnt und nicht gleichzeitig sagt: Ich geh weg! Also ich denke auch schon lang übers Weggehen nach, ungefähr seit 35 Jahren. – Ja. — Ich bin jetzt fast so weit. – Schlafen sie wohl, mein lieber Kekkola, wo auch immer Sie sind! Ihr Louis
gesendet am
21.01.2010
23.32 MEZ
1518 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »