echo : 22.12 — Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
Aus der Wörtersammlung: welt
coney island
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : CONEY ISLAND
Nie vermag ich auszumalen, wo ihr Zwei gerade seid. Ja, so ist das, nein, nein, ich habe keine Ahnung, keine Vorstellung, liebe Daisy, liebe Violet, könnte die Welt umrunden, zu Fuß oder auf den Rücken der Kamele, zu keiner Zeit würde ich Euch begegnen, nicht eine Sekunde, kein Blick aus dem Fenster eines abfahrenden Zuges, Eure lächelnden Gesichter, Euer Winken, zwei Küsse durch die Luft, nein, nein, niemals, nicht wirklich, keine Ahnung habe ich, keine Vorstellung, und doch seid ihr nah, so nah, dass ich Euch schwebende Orte schenkte in Gedanken, einen schwebenden Tisch, eine schwebende Schreibmaschine, ein schwebendes Sofa, und diesen weiten Blick aufs wilde Meer, auf blühende Gärten, ein Lächeln. Gestern arbeitete ich im Park unterm Regenschirm. Ich hatte meine Schreibmaschine auf eine Hand gestellt, dort wartete sie lange Zeit. Dann schrieb ich ein Wort, aber kein weiteres Wort. Nur Geduld, dachte ich, nur Geduld. Habt Ihr, liebe Violet, liebe Daisy, bemerkt, dass ich Euch Bohumil Hrabals Geschichte der Katze Autitschko öffnete. Ich legte das kleine Buch neben mich auf die Bank, blätterte und wartete, meinte, Euch rufen zu hören: Wir lesen, Louis, schneller, als Du denkst! — Ein großer Augenblick meines kleinen Lebens.
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8.06.2010
22.08 MESZ
1775 zeichen
schlafbild
bamako : 22.15 — Inwiefern würde sich die Welt der Bilder verwandeln, wenn wir über die Möglichkeit verfügten, unsere Schlafträume zu fotografieren? Ich meine so zum Beispiel, während eines nächtlichen Spazierganges über einer Hochebene flammender Ahornbäume die Anweisung zu geben: stop.aufnahme.jetzt. Schon am nächsten Morgen dann auf dem Küchentisch neben Kaffeetasse, Melonenscheibe, Morgenzeitung, jener Stoß im Traum gebannter Momente, glühende Baldachine, sagen wir, über schneeweißen Wolken, Elefanten der Tiefsee, federleicht im Spiel vor Neufundland, Louisiana’s schillernde Küste. Wie man sich neuerdings zur Ruhe legt, lange vor der üblichen Zeit, im Sammelfieber blitzende Augen. Wo und womit wäre nun in der Verwirklichung der Idee des Traumbildapparates anzufangen? — stop
eine kleine physik
charlie : 0.02 — Zunächst Bilder, dann Klänge. Die Erinnerung des Gehörs scheint langsamer zu spielen, als die Erinnerung der Augen. Wie sich allgemeine physikalische Gesetze der Außenwelt in meinem Gehirn beruhigend wiederfinden. — Stellen Sie sich vor, ich habe den gestrigen Nachmittag unter einem Regenschirm zugebracht. So im Gehen im Wasser, die Suche nach kleinsten Partikeln einer großen Stadt. Bin ich Angler, bin ich Jäger, bin ich ein Dompteur? Ob Eichhörnchen mittels Zungenstimmen zueinander sprechen? — stop
iris
tango : 0.05 — 1500 Meilen Wolkentüll über atlantischem Ozean. Fünf weitere Stunden, bald hellblau der Himmel, das Wasser, man könnte die Welt dort oben auf den Kopf stellen und würde es mit den Augen nicht bemerken. Höhe 11887 Meter. Wellen, leichteste Wellen, — 55° Celsius, Eis wispert in der Paukenhöhle. Reptilien von Dunst recken geschärfte Rücken aus der Tiefe. Dann wieder sanfte Gebilde, Wolkenlamellen vom Meer an den Himmel geatmet. Von dort aus fällt man zu Boden, öffnet Iris der Behörde, fährt im luftfedernden Taxischiff über alte Brücke, Nacht, sandmüde Augen spazieren unter dem Regenschirm. Der erste Blick ins irre Licht. — stop
standby
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : STANDBY
Mein lieber Jonathan, Mittwoch ist geworden, früher Morgen, höchste Zeit, eine Nachricht zu übermitteln, die Sie vielleicht traurig stimmen wird. Sie haben gehört, eine Insel nahe Grönland spricht seit Tagen mittels Feuer und Asche zur Welt. Vermutlich werden Sie sich fragen, warum ich Ihnen davon erzähle. Nun, der Himmel über Europa ist zu einem unsicheren Ort geworden, Staubsteine fliegen durch die Luft in großer Höhe, es ist denkbar, dass sich meine Reise zu Ihnen nach Amerika verzögern wird. Ich habe deshalb eine Bitte an Sie, lieber Mr. Kekkola, den dringenden Wunsch habe ich, dass Sie selbst, sollte ich im Mai, am 2. des Monats, nicht auf Coney Island erscheinen, für mich dort sitzen und den Horizont fotografieren werden, unsere Elefanten, Sie verstehen, Spuren unserer Elefanten! Ich wäre Ihnen so sehr herzlich dankbar, mein lieber Freund. Machen Sie sich um Gotteswillen unverzüglich auf den Weg! Bis bald, ich hoffe, bis bald! STANDBY. – Ihr Louis. Ahoi ps. Besitzen Sie eine Kamera?
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21.04.2010
6.22 MESZ
1002 zeichen
feuerblume
marimba : 6.28 — Kurz nach Mitternacht. Hunderte gestrandeter Menschen liegen, Flughafenterminal 2, auf Feldbetten, schlafen unter grauen Decken, still, als seien sie ohne Träume, bewegungslos, verpuppt. Saß auf einer Bank in nächster Nähe, wartete, notierte: Die Augen der Papiertierchen befinden sich im Zentrum ihrer Körperscheibe, eines erhaben aufwärts, das andere erhaben abwärts gerichtet. Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand, so ist ihre Welt beschaffen. stop – Nie werden diese Augen sehen, was ich in vergangenen Stunden mit menschlichen Augen auf dem Bildschirm meines Computers beobachtete. Fotografien einer Feuerblume aus dem Eis, ihr tiefschwarzer Atem, das Blut der Erde, ursprünglichste Kraft. — Bleibt noch, mit den Winden zu sprechen.
animals
kilimandscharo : 0.58 — Die wirklich kleinen Dinge dieser Welt sind dem menschlichen Auge nicht sichtbar. Sie befinden sich in Räumen des Ahnens, des Wünschens, des Erfindens. Niemand könnte je sagen, ob man von dort aus betrachtet wird. Wenn ich nun ein Papiertierchen ganz für sich allein belichte, dann erkenne ich zunächst, seine Gestalt ist rund. — stop
schirme
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : SCHIRME
Rasend, lieber Jonathan, vergeht die Zeit! Ein Jahr ist es nun her, seit ich das erste Mal von Ihnen hörte. Viele Stunden, ganze Tage, Wochen habe ich an Sie gedacht, und doch keine durch belichtete Vorstellung gewonnen. Ihre Augen, hell oder dunkel? Wie werden Sie mir begegnen, mit welcher Stimme sprechen? An diesem schönen Morgen darf ich berichten, dass ich mich gut erholen konnte. Fühle mich wohl in meiner Haut. Sieben Uhr. Sie werden sicher noch schlafen, da drüben in Amerika, und sofort, wenn Sie in Kürze erwachen, einen ersten tiefen Zug kühler Waldluft zu sich nehmen. Ihre Verwunderung, wie immer, dass Sie nicht länger unter Wasser leben, dass Sie frei sich zu bewegen in der Lage sind. Wie oft schon habe ich den Versuch unternommen, mich einzufühlen in ihre Lage, unvollkommen, sagen wir, aber nicht vergeblich, wie ich hoffe, weil Sie bemerkt haben werden, dass ich mich um Sie kümmere, dass ich Fragen stelle, dass ich Sie nicht gedankenlos der Welt überantwortet habe. Noch zweiundzwanzig Tage, mein lieber Kekkola, hören Sie zu! Ich habe Wetterkarten studiert, fürchte, wir werden unter Regenschirmen sitzen. Ihren Eltern im Übrigen geht es gut! Ahoi! Ihr Louis
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10.04.2010
6.01 MESZ
1612 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »
animals
~ : louis
to : Mr. stanislaw lem
subject : ANIMALS
Hochverehrter Herr Lem, Sie werden, nehme ich an, noch nie von mir gehört haben. Ich heiße Louis. Seit vielen Jahren bin ich ein stiller Bewunderer Ihrer Kunst. In der Nähe meines Schreibtisches hängt deshalb eine Fotografie, die Sie in schwarzer und weißer Farbe zeigt, an einer Wand. Immer wieder, wenn ich Sie dort betrachte, denke ich, dass ihre Augen, ihr Blick, von der Weite der Welt erzählen, die sich in ihrem Kopf entfaltet, dass man überhaupt die Großzügigkeit eines Geistes in seinen Augen zu erkennen vermag. Eines Ihrer Bücher nun habe ich wieder gelesen in den vergangenen Tagen, weil ich mich erinnert hatte, dass Sie dort von winzigen gefährlichen Wesen berichteten, Mikroben, die Waffenpanzerungen jeder Art in Sekundenschnelle zu durchdringen in der Lage sind. Eine beunruhigende Vorstellung natürlich. Ich hoffe, das bald wieder zur Seite legen zu können, gerade auch deshalb, weil ich mich in diesen Wochen persönlich mit kleinsten Wesen beschäftige. Sollten Sie in der Lage sein, meine Arbeit von höherer Stelle aus zu beobachten, dann werden Sie bald erkennen, es geht um lebende Papiere, um ihren Geist, um ihr Verhalten und alle diese Dinge, die eine forschende Person begeistern von früh bis spät. In diesem Sinne sende ich Ihnen allerbeste Grüße. – Louis
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10.03.2010
22.56 MEZ
1278 zeichen