nordpol : 2.28 — Zentralafrikanische Landschaft. Savanne. Affenbrotbäume. Das Ufer eines Flusses oder Sees. Wolken, schneeweiß, getürmt. Entlang der Uferlinie fliegen Flamingos, ein Schwarm, 200 oder 300 Tiere. Sie sind vermutlich gerade erst gestartet. Wenn ich mich mit einer Lupe der Landschaft, die auf eine Briefmarke gepresst wurde, nähere, vermag ich die Füße einzelner Vögel gut zu erkennen, eine hochauflösende Druckarbeit, möglicherweise könnte man unter einem Mikroskop Federn entdecken, das Licht, das sich in den Augen der Fliegenden bricht, Moskitos, die über dem Wasser schweben, Libellen und wiederum die Füße der Libellen. Ein seltenes Exemplar einer Panoramamarke von 2.8 cm Höhe und 1 Meter und 50 cm Breite. Man könnte diese Briefmarke für Briefe verwenden, die über entsprechende Breite verfügen, sagen wir, für sehr lange Langbriefe, oder aber man verwendet dieses wundervolle Postwertzeichen auf Kurzbriefen üblicher Breite, dann muss man die Briefmarke falten. Genauso ist das vorgesehen, natürliche Falten sind der Briefmarke beigebracht, eigentlich liegt die Briefmarke, sofern man sie erwerben möchte, in gefaltetem Zustand vor, ein Bändchen von Haaresbreite hält sie in der Gestalt einer Ziehharmonika zusammen. Auch jetzt sind Flamingos gut zu erkennen. Es handelt ich um eine wirklich sehr schöne Marke. — stop
Aus der Wörtersammlung: wiederum
samstags
foxtrott : 5.12 — Früher Nachmittag, Sommer. Ich beobachte auf einem Fährschiff, das nach Staten Island fährt, einen älteren Mann bei konzentrierter Arbeit. Er sitzt auf einer Bank des Promenadendecks tief über ein Buch gebeugt. Einige Kinder tollen in seiner Nähe herum, er nimmt, so sehr ist er bemüht, mit einem Bleistift den Zeilen eines Buches zu folgen, keine Notiz von ihnen. Ich denke zunächst, der alte Mann würde seine Augen mit Hilfe eines Bleistifts entlang der Zeichenlinie führen, aber als ich mich nähere, entdecke ich Wort für Wort eine leichte Verzögerung der Bewegung, die aus der Entfernung betrachtet doch wie eine fließende Bewegung wirkt. Am Ende jeder Zeile notiert der Mann eine Ziffer, vermutlich deshalb, weil er die Wörter des Buches zählt. Das ist seltsam und zugleich berührend, wie er so selbstvergessen auf dem großen Schiff verweilt, und ich hoffe, er möge auf Staten Island angekommen, mit dem nächsten Schiff zurückfahren nach Manhattan, und wiederum auf seinem Transfer Wörter zählen. Als das Schiff an das St. George Terminal anlegt, schließt der alte Mann das Buch, verstaut seinen Bleistift in einer Tasche seines Jacketts, erhebt sich mühevoll, um das Schiff langsam gehend über die Brücke, die sich zur Fähre hin senkte, zu verlassen. Im Saal des Terminals bleibt er für einen Augenblick vor einem Aquarium stehen, betrachtet die Fische oder sein Spiegelbild, um sich wenige Minuten später von der Menschenmenge, die auf das wartende Schiff strömt, mitnehmen zu lassen. Nebel ist aufgekommen, die Möwen, die das Schiff auf seinem Weg nach Manhattan begleiten, still. Ich stehe draußen auf der Promenade und beobachte das Wasser, wie es weit unten entlang des Schiffskörpers schäumt. Von Zeit zu Zeit schau ich durch Fenster zu dem alten Mann hin, zu seinem Buch, seinem Bleistift, seinen Händen. — stop
sechs finger
sierra : 0.28 — Kurz nach Mitternacht wiederum stürzte ein Falter auf meinen Schreibtisch. Ich hatte die Fenster geöffnet, kühle und doch würzige, feuchte Luft von draußen, und eben der Falter, der plötzlich vor mir auf dem Rücken lag und sich nicht mehr rührte, als wäre er während seines Nachtfluges tief und fest eingeschlafen. Da war nun eine seltsame Frage. Wie wecke ich einen schlafenden Falter, ohne ihn in Angst und Schrecken zu versetzen? Ich könnte mit meinem Atem etwas Wind erzeugen, oder aber ich könnte nach einem feinen Pinsel suchen. Ich könnte andererseits so tun, als wäre der Falter nicht wirklich. Ich muss das nicht sofort entscheiden. Nein, ich muss das nicht sofort entscheiden. Ich notiere: Vor wenigen Stunden meldeten Nachrichtenagenturen, Rebellen hätten einen Korridor zu eingeschlossenen Menschen im Zentrum der Stadt Aleppo freigekämpft. Wer sind diese Rebellen, was denken sie, was haben sie vor? Vor wenigen Tagen noch beobachtete ich, wie die kleine M. ihre Finger zählte, es war seltsamerweise immerzu sechs Finger. Auch ich habe sechs Finger, wenn M. sie zählt. — stop
im zug
nordpol : 0.02 — Oder aber ich hebe meinen Blick vom Bildschirm meiner Schreibmaschine. Ich beobachte wiederum in einem Nachtzug reisend einen Film, der vom Überleben in der Stadt Aleppo erzählt. Plötzlich glaube ich zu erkennen, wie ein Mann im Zug mit einer Pistole um sich schießt. Menschen flüchten und fallen um. Ich werde in die Schulter getroffen, und ich denke noch, ich sollte wütend werden, es wäre gut, wenn man ein Löwe zu werden wünscht, wütend zu sein. Einmal stehe ich auf, im Zug herrscht noch Frieden. Ein älterer Mann wirft in diesem Moment mit Wucht einen Blick auf mich: Bist Du gefährlich? Es ist kein angenehmer Blick, es ist ein kalter Blick, den man nicht befragen kann, weil man weiß, dass man keine korrekte Antwort erhalten würde. Auch so herum ist das also möglich. Seltsame Gedanken. — stop
leon grog abends
echo : 2.55 — Am Flughafen, in einem Wartesaal unter dem Terminal 1, hockte ein älterer Mann am späten Abend auf einer Bank. Neben ihm stand eine Flasche Milch auf dem Boden, sowie eine kleine, arg ramponierte Ledertasche, die man früher vielleicht einmal über die Schulter hängen konnte, aber der Riemen der Tasche war vom langen Tragen zerschlissen, baumelte zu Teilen von den Seiten der Tasche, die leicht geöffnet war, so dass ein Blick möglich wurde auf einen Stapel von Luftpostbriefen, die sich in die Tasche fügten, als wären sie genau für diese Tasche gefertigt oder aber die Tasche für genau diese Sammlung scheinbar weitgereister Briefe. Sie waren vielfach geöffnet worden, vielleicht gelesen, das war deutlich zu erkennen. Einen der Briefe hielt der Mann gerade in dem Moment, da ich ihn auf der Bank bemerkte, an sein Ohr, er schien zu lauschen. Seine Augen hatte er geschlossen, er wirkte konzentriert, ja andächtig. Als ich von dem alten Mann in dieser Haltung eine Fotografie mit meinem Telefonapparat machen wollte, sah er mich plötzlich an und hob in einer reflexartigen Bewegung den Brief in die Höhe, so dass sein Gesicht nun beinahe ganz verdeckt war. Da ging ich weiter, um nicht zu stören, aber der Mann rief mir zu: Warten sie, setzen sie sich! Er überreichte mir den Brief, mit dem er kurz zuvor noch sein Gesicht maskiert hatte, und forderte mich auf, das Kuvert an mein Ohr zu halten. Der Brief knisterte, als ich ihn in meine Hände nahm. Auf der Anschriftenseite des Briefes war mit feinen Zeichen folgender Schriftzug aufgetragen: Leon Grog, Av. Rovisco, 26, Lisboa. Der Mann lachte und deutete auf sich selbst: Das bin ich, sagte er, Leon. Er wies mit einer großzügigen Geste auf eine Briefmarke hin, die akkurat am rechten oberen Rand des Briefes befestigt wurde, ein Stück Himmel war zu erkennen von hellem Blau, und ein blitzendes Flugzeug, eine Caravelle, die gerade eben zu starten schien. Als ich selbst die Briefmarke an mein Ohr legte, hörte ich ein helles Rauschen, ich hörte die Motoren des Flugzeuges und schloss die Augen wie der Herr zuvor seine Augen geschlossen hatte. Als ich sie wieder öffnete, bemerke ich einen weiteren Brief, der gleichfalls an Herrn Leon Grog adressiert worden war, wiederum nach Lissabon, während der erste Brief aus den Vereinigten Staaten gesendet worden war, kam dieser hier von Kolumbien her, eine Briefmarke zeigte etwas Regenwald und einen Nashornvogel von prächtigem Gefieder. — stop
ein ohr
delta : 22.01 — Ich erinnere mich gern an Max. Er war gerade 6 Jahre alt geworden, als ich ihm zuletzt persönlich begegnete. Wir saßen damals an einem Küchentisch, es war Abend, Max schon müde. Er schüttelte etwas gelangweilt eine Paprikaschote und wunderte sich, weil in der gelben Frucht Bewegung zu sein schien. Ich nahm ihm die Paprika aus der Hand, und tatsächlich war in ihrem Inneren etwas lose geworden oder existierte dort, das sich üblicherweise nicht in einer Paprika befinden sollte. Also legte ich die Paprika zur Untersuchung auf einen Teller und öffnete sie vorsichtig. Es war ein kleines Loch, das ich in die Paprika schnitt. Seite an Seite sitzend warteten wir gespannt vor der Frucht darauf, ob vielleicht Irgendetwas oder Irgendjemand aus der Öffnung steigen würde. Indessen erzählte ich von der Erfindung der Tiefseeelefanten, von ihren kilometerlangen Rüsseln, die sie zur Meeresoberfläche recken, sofern sie den Atlantik durchqueren. Bald wurde Max ungeduldig, er nahm die Paprika in seine Hände, um durch das sparsame Loch zu spähen, ohne freilich etwas sehen zu können, es war dunkel da drin, weshalb ich das Loch vergrößerte, und außerdem noch zwei kleinere Löcher für das Licht seitwärts in den Körper trieb. Wiederum spähte Max in die Paprika, jetzt konnte er etwas erkennen. Er stellte nüchtern fest, dass sich in der Paprika ein Ohr befinden würde, ein Paprikaohr, ganz eindeutig. Zwei Jahre sind seither vergangen. Als ich kürzlich mit Max telefonierte, erklärte er, dass er in der Schule Tiefseemenschen mit Bleistift zeichnete. Immer wieder habe er die Körper der Tiefseemenschen, die über den Meeresboden spazierten, ausradiert, um sie noch kleiner zu machen, damit ihre Hälse auch lang genug werden konnten auf dem viel zu kleinen Blatt Papier, das ihm zur Verfügung gestellt worden war. — stop
zerzaust
victor : 0.55 — L. erzählt, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafes, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, sehr selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein bisschen wild ausgesehen haben, irgendwie zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — stop
in üsküdar
whiskey : 0.55 — Y. erzählte vor einigen Tagen eine Geschichte, die sie als Mädchen im Alter von sieben oder acht Jahren in Istanbul erlebte, genauer in einem Hinterhof des Stadtteils Üsküdar. Sie sollte damals eine Tüte Pistazien und noch einige andere Dinge von einem Kioskladen holen, es war Sommer, und sie hüpfte raus auf die Straße und um die Ecke und rein in den kleinen Laden, und las einem Mann eine Liste der bestellten Dinge vor. Der Mann sah ihre Liste durch, lächelte ihr zu und stellte ein oder zwei Fragen, so in etwa: Wie viele Pistazien sollen es denn sein? Y. überlegte sorgfältig, aber letztlich konnte sie sich nicht erinnern, wie viele Gramm Pistazien ihr die Mutter zum Kauf aufgetragen hatte. Deshalb hüpfte sie auf die Straße zurück, aber anstatt zur Eingangstür ihres Wohnhauses zurückzukehren, trat sie in einem Hinterhof vor einen Balkon im 2. Stock. Die Tür zum Wohnzimmer der Familie, hinter der sie ihre Mutter wusste, war geöffnet. Sie rief so laut sie konnte: Mama! Dann wartete sie eine kurze Zeit. Als die Mutter nicht auf dem Balkon erschien, rief sie noch einmal: Mama, Mama, ich habe eine Frage, ich bin’s! Wiederum rief sie vergeblich, sie wartete und rief und wartete. Gerade als sie umkehren wollte, um den weiteren Weg, den sie gekommen war, zur Mutter in die Wohnung zurückzunehmen, bemerkte sie ein fremdes Mädchen neben sich, das vielleicht zwei Jahre jünger war als sie selbst. Das Mädchen hatte eine ihrer Hände genommen, sah sie bedeutungsvoll an, hob dann den Kopf zum Balkon empor und rief mit leiser, sanfter Stimme: Mama! Mama! Y. erinnerte sich noch nach vielen Jahren an die feine Stimme des Mädchens, die beinahe nicht zu hören gewesen war. Kaum eine viertel Minute verging, da erschien ihre Mutter auf dem Balkon und schaute zu den beiden Mädchen herab. Das war ein Moment ihres Lebens gewesen, den Y., die inzwischen selbst zwei Söhne gebar, nie vergessen konnte, ein Geheimnis: Warum hatte die Mutter auf die leise Stimme eines fremden Mädchens reagiert, aber die Stimme der eigenen Tochter nicht gehört? — stop
pjöngjang
himalaya : 1.58 — Über einer Geschichte Italo Calvinos, die vom Bauch eines Geckos erzählt, schlafe ich ein. Sofort aus der Wohnung spaziert. Ich sage: Sei vorsichtig, Du schläfst! Wie ein alter Mann, der sich an dem Geländer einer Treppe festhalten muss, steige ich zur Straße hin ab, drei oder vier Stunden, 52 Stockwerke, um meinen Briefkasten zu öffnen. Ich finde dort eine Postkarte vor, die in der Stadt Pjöngjang aufgegeben worden sein könnte. Seltsame Schriftzeichen sind auf der Rückseite der Postkarte zu lesen, die ich nicht entziffern kann. Aber mein Name und meine Anschrift sind korrekt in lateinischer Schrift dargestellt, Buchstaben, sehr groß, wie gemalt. Auf dem Weg zurück nach oben, sage ich noch: Sei Vorsichtig, Du schläfst! Viele Stunden wiederum bin ich unterwegs hinauf unters Dach. Menschen, die ich nicht kenne, kommen mir entgegen. Sie sind ohne Farbe, auch ich selbst bin farblos geworden, meine Hände, meine Schuhe, meine Hose. Einmal begegne ich einem Mädchen mit mandelförmigen Augen. Ich zeige ihr meine Postkarte und sie lacht und wir setzten uns auf eine Treppenstufe und sie liest mir die Postkarte vor, weswegen ich nun weiß, wie die Wörter, die ich nicht lesen kann, klingen. — stop
fliege nachts
tango : 2.15 — Ich saß in der warmen Nacht am Tisch, legte einmal die linke, dann die rechte Hand in eine Schüssel, die ich mit kaltem Wasser füllte. Auf dem Tisch spazierte eine Fliege. Weil ich in diesem Moment nichts zu tun hatte, als diese Fliege zu beobachten, entdeckte ich, dass sie ihre Flügel verloren oder vergessen zu haben schien, die Fliege flog nicht herum, auch wenn ich mich mit einem Finger näherte, flog sie nicht davon, sondern flüchtete zu Fuß. Es war eine sehr kleine Fliege, sie war so klein, dass ich sie mit bloßem Auge kaum noch wahrnehmen konnte. Nach einer halben Stunde stand ich auf, suchte nach meiner Lesebrille und kehrte an den Tisch zurück. Die Fliege lungerte nun unmittelbar neben meiner Schreibmaschine, ich konnte sie von meiner Position aus sehr gut sehen, sie kam sogar noch näher heran, als ich mich mit meinen Augen hinter den Gläsern der Brille über dem Tisch verbeugte. In diesem Augenblick erlebte ich den ersten Blickkontakt meines Lebens mit einer Fliege, ich war mir sicher, diese Fliege musterte mich ebenso wie ich sie musterte, es war ihre Haltung, die mich überzeugte, wie sie unmittelbar vor mir auf dem Tisch hockte, den Kopf angehoben und sich nicht bewegte. Nach einigen Minuten drehte sie sich herum und überquerte den Tisch wiederum zu Fuß hin zu einem Teller und bestieg eine Mandarine. Es war kurz nach zwei Uhr. — stop