alpha : 20.02 — Die Port Authority Busstation Höhe 42. Straße soll die größte Busstation der Vereinigten Staaten sein, 7200 Automobile verlassen oder erreichen an einem durchschnittlichen Tag das Gebäude in der Nähe des Hudson Rivers. Ich sollte einmal von hier aus nach Mexiko fahren oder rauf nach Alaska oder Neufundland, ein Ort der Koffer, der Rucksäcke. Ich habe Menschen beobachtet, die aus einem anderen Jahrhundert kommend hier eingetroffen zu sein scheinen, Frauen mit Röcken bis zum Boden, Männer in Knickerbockerhosen, Golfschuhen, hellen Sommerjacken inmitten des Winters in einem sich langsam drehenden Wirbel von Körpern. Im Erdgeschoss des Gebäudes befindet sich in einem Gehäuse von Glas und Stahl eine Maschine, die mit Billardkugeln spielt, eine Skulptur des Künstlers George Rhoads. Man kann sie weithin hören, klingelnde, ratternde Geräusche, und das Glück der Kinder beobachten, die mit ihren Augen den Kugeln folgen, welche von der Schwerkraft in Bahnen gegen den Boden gezogen werden. Ein Wesen, das bei Tag und bei Nacht arbeitet, indem ein Aufzug, von einem kleinen Elektromotor angetrieben, jene steinharten Bälle in die Höhe hebt, um sie bald wieder loszulassen in ein Labyrinth möglicher Bahnen. Es ist ein wenig so, als würde die Maschine sprechen oder singen oder spielen, selbstvergessen, heiter, leicht. Ich muss mich nicht wundern, einmal waren alle Kugeln, weiß der Himmel, warum, aus ihren Bahnen gesprungen, und ich hatte den Eindruck, die verstummte Maschine sei aus dem Leben gegangen. Gerade eben, es ist Montagabend geworden, fällt mir ein, dass ein Freund unlängst erzählte, dass er sehr traurig sei, weil seine Großmutter im ungefähren Alter von 105 Jahren in Afrika gestorben sei. Sie habe noch eine Wüstensprache gesprochen, die ohne Zeichen gewesen war für Papiere, Holz, Stein, Erde. — stop
Aus der Wörtersammlung: zeichen
manhattan : subwayaugen
tango : 0.02 — Ich fahre in der Subway, ein Buch in Händen, in oder über der Stadt unter Menschen sitzend dahin und bändige meinen Blick. Ich kann nun tatsächlich lesen, also abwesend sein. Oder ich kann vorgeben, als ob ich lesen würde. In diesem Fall betrachte ich Buchstaben oder die Seite eines Buches und ihre Zeichen oder das Buch insgesamt. Andere, die in meiner Nähe reisen, betrachten ihre Hände oder ihr Telefon oder eine Zeitung. Wieder andere lesen in der Zeitung, sind demzufolge tatsächlich nicht anwesend oder nur zum Teil anwesend, während ein Auge den Zeilen folgt, trachtet das andere Auge nach innen gerichtet in den kommenden Abend oder auf den vergangenen Morgen zurück. Gestern, auf der Fahrt mit der Linie D von der 96. Straße West nach Coney Island, habe ich ein schönes Buch beobachtet. E.B.Whites Essay Here is New York. stop. Regen. stop. Es ist warm geworden. Manche New Yorker tragen Sommerkleidung für einen Tag, andere Handschuhe. In der Dämmerung in den Pfützen der Straßen wieder blinkende, dampfende Hunde, künstliche Lichtnaturen. Gespenster. — stop
echo
india : 16.32 — Beobachtete, dass die Wahrnehmung eines Gedankens stets nur von einem weiteren, einem zweiten Gedanken aus möglich zu sein scheint. — Wieder die Fragen: Existieren Satzzeichen in der Gedankensphäre? Ist es möglich, einen ursprünglichen Gedanken zu erfinden? — stop
102 minuten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : 102 MINUTEN
Vormittag. Der Himmel sonnig, die Spitzen der Berge weiß seit Tagen. Wenige Wochen vor meiner Reise nach New York, liebe Daisy, liebe Violet, will ich Euch berichten von einer kleinen Probe, die ich unternommen habe, um vorzuprüfen, ob ich in der Lage sein werde, in der großen Stadt mit meinen Untersuchungen der Wirklichkeit rasch voranzukommen. Ich habe nämlich gerade einen Koffer mit allen möglichen Gegenständen gefüllt, die ich vorhabe mitzunehmen, ein Jackett, Pullover, Wildlederfäustlinge, einen Schal, Wanderschuhe, zwei Norwegermützen, sowie einen Schneeschirm, der in der Lage sein sollte über meinem Kopf durch die Luft zu schweben. Des Weiteren eine Schreibmaschine, eine elektrische Maus, zwei Fotoapparate, ein Tonbandgerät, das gerade so groß ist, dass ich es mit einer Hand umfassen kann. Außerdem einen Reisebehälter, wie unlängst berichtet, für Trompetenkäfer polaren Ursprungs, Spazierpläne, Subwaykarten, Bücher für Ruhezeiten abends und nachts. Da wären Robert Falcon Scotts Aufzeichnungen einer letzten Reise, Wilhelm Genazinos Roman Wenn wir Tiere wären, das Buch der 102 Minuten, das mich seit Tagen fesselt, weil es auch von Holly erzählt. Kurzum, diese Gegenstände nun waren in einem großen und einem weiteren, kleineren Koffer aufgehoben. Ich habe beide Reiseobjekte neben mich gestellt und angehoben für zwei Minuten. Ich sage Euch, es geht. Was machen die Simmons? Ist alles o. k.? Ahoi – Euer Louis
gesendet am
10.12.2011
18.30 MEZ
1433 zeichen
obersalzberg : kentauren
sierra : 12.10 — Man sollte meinen, ein Buch sei ausschließlich zum Lesen geeignet, eine Substanz hellen Papiers, Zeichen in gefalteter Linie, die mit den Augen studierend entlangzuarbeiten ist, Farben, Gerüche, Klänge, Drama. Seit einigen Stunden nun weiß ich, Bücher helfen gleichwohl in mechanischer Weise anatomisch wieder beweglich zu werden. Toni Morrisons Roman Jazz, zum Beispiel, 402 Gramm Gewicht für Minuten in meiner Hand am Ende eines Unterarmes, den ich zu strecken wünsche, widerspenstig ist er noch, bewegt sich nicht von eigener Kraft in jede der von mir gewünschten Richtungen. Wie er jetzt von der Schwerkraft der Dichtung nach unten gezogen wird, behutsam, in der Art und Weise langsam fallender Äpfel, sagen wir, eine Bewegung, mit den Augen nicht wahrnehmbar. – Kurz vor 12 Uhr. Mittag. Jenseits des Tales, das ich vom Hospital aus überschauen kann, spaziert gleißendes Sonnenlicht über den Obersalzberg hin, unheimliche Gegend. Ich meinte für Sekunden ein Rudel Kentauren gesehen zu haben, die den Saum eines Buchenwaldes entlang galoppierten. stop. Großartige erste Sätze im Kopf. stop. Toni Morrison. stop. STH, I know that woman. She used to live with an flock of birds on Lenox Avenue. Know her husband, too. He fell for an eighteen-year-old girl with one of those deepdown, spooky loves that made him so sad and happy he shot her just to keep the feeling going. When the woman, her name is violet, went to the funeral to the the girl and to cut her dead face they threw her to the floor and out of the church. She ran, then, through all that snow, and when she got back to her apartment she took the birds from their cages and set them out the windows to freeze or fly, including the parrot that said, „I love you.“
eine fliege
india : 6.28 — Eine Fliege war unlängst aus großer Höhe abgestürzt und vor mir auf den Tisch gefallen. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, aber nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf Fünfen ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen, vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. Nein, fangen wir noch einmal von vorne an. Unlängst. Eine Fliege. — stop
PRÄPARIERSAAL : cerebum
nordpol : 8.02 — TONAUFNAHME / Mai 2005 — Yomo : Als wir das Gehirn entnahmen, haben wir uns zunächst keine Gedanken darüber gemacht, was für ein faszinierendes Teil des menschlichen Körpers wir gerade in der Hand hielten. Wir hatten das nämlich so verstanden, dass die Studierenden das Gehirn selbst entnehmen dürfen und wir haben das dann auch gemacht. Aber bald haben wir festgestellt, dass die Assistenten, nicht die Studierenden, das an den anderen Tischen machten. Wir hatten bei der Entnahme einen Fehler gemacht und das Gehirn an der falschen Stelle durchtrennt. Wir waren sofort damit beschäftigt, zu überlegen, was wir jetzt machen sollen, um keinen Ärger zu bekommen. Wir haben deshalb in dieser Situation nicht so sehr an das Gehirn gedacht. Zum Glück kam dann aber eine nette Assistentin und hat das Gehirn vollständig entnommen, ohne uns weiter Vorwürfe zu machen. Sie fand unsere Art der Entnahme fast noch besser als die vorgegebene Methode, da man viele Strukturen sehen konnte, die wir anders nicht gesehen hätten. Wir waren auf jeden Fall ziemlich froh, dass wir keinen Ärger bekommen haben. Ich habe erst etwas später ein besonderes Gefühl gespürt, als ich das Gehirn in den Händen hatte. Vielleicht lag das auch daran, dass wir uns am Anfang auch noch gar nicht so genau mit dem Gehirn auskannten. Ein paar Dinge über das Gehirn wusste ich zwar schon aus der Schule, aber wie genau es aufgebaut ist, aus wie vielen Strukturen das Gehirn besteht und was man alles an einem Gehirn sehen kann, das habe ich erst in der Anatomie gelernt. So wurde das Gehirn im Lauf Zeit zu einem immer interessanteren und faszinierenderen Körperteil für mich. An dem Tag, als wir die Sulci mit bunten Fäden auslegen sollten, hatte ich das Gehirn dann länger in der Hand. Das ist jener Tag, an den ich mich besonders intensiv erinnern kann, da ich ein besonderes Gefühl hatte, als ich das Gehirn in der Hand gehalten habe. Ich war ein wenig glücklich und stolz auch, denn wer hat schon die Möglichkeit ein Gehirn in der Hand zu halten. Für mich war kaum vorstellbar, dass diese Struktur in meiner Hand einmal so viele und wichtige Aufgaben erfüllt hatte.
fasankino
tango : 0.02 — Gestern, Dienstag, ist Ilse Aichinger 90 Jahre alt geworden. Ich erinnerte mich an einen Text, den ich vor einiger Zeit bereits aufgeschrieben habe. Der Text scheint noch immer nah zu sein, weshalb ich ihn an dieser Stelle wiederholen möchte. Ich betrachtete damals, als ich den Text notierte, eine Filmdokumentation. Es war ein früher Morgen und ich fuhr in einem Zug. Immer wieder spulte ich, Zeichen für Zeichen vermerkend, was ich hörte, den Film zurück, um kein Wort des gesprochenen Textes zu verlieren oder zu verdrehen. Und so kam es, dass auch Ilse Aichinger, von einem unruhigen Geleise geschüttelt, immer wieder auf dem handtellergroßen Bildschirm unter spazierenden Menschen vor mir auftauchte, indem sie von ihrer Kinoleidenschaft erzählte: Wenn ich mich recht erinnere, hörte ich in meiner frühen Kindheit eine ältere Frau zu einer anderen sagen: – Es soll jetzt Tonfilme geben. – Das war ein rätselhafter Satz. Und es war einer von den ganz wenigen rätselhaften Sätzen der Erwachsenen, die mich nicht losließen. Einige Jahre später, ich ging schon zur Schule, sagte die jüngste Schwester meiner Mutter, wenn wir an den Sonntagen zu meiner Großmutter gingen, bei der sie lebte, fast regelmäßig am späten Nachmittag: > Ich glaube, ich gehe jetzt ins Kino. < Sie war Pianistin, unterrichtete für kurze Zeit an der Musikakademie in Wien und übte lang und leidenschaftlich, aber sie unterbrach alles, um in ihr Kino zu gehen. Ihr Kino war das Fasankino. Es war fast immer das Fasankino, in das sie ging. Sie kam fröstelnd nach Hause und erklärte meistens, es hätte gezogen und man könne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasankino nicht, und sie holte sich dort nicht den Tod. Den holte sie sich, und der holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn sich im Fasankino geholt, denn sie liebte es. Aber man hat keine Wahl, was ich nicht nur bezüglich des Todes, sondern auch bezüglich der Auswahl der Filme zuweilen bedauere, wenn meine liebsten Filme plötzlich aus den Kinoprogrammen verschwinden. Obwohl ich es gerne wäre, bin ich leider keine Cineastin, sondern gehe sechs oder siebenmal in denselben Film, wenn in diesem Film Schnee fällt oder wenn die Landschaften von England oder Neuengland auftauchen oder die von Frankreich, denen ich fast ebenso zugeneigt bin. Ilse Aichinger: Mitschrift
alpenregen
~ : oe som
to : louis
subject : ALPENREGEN
date : okt 31 11 10.52 p.m.
Besten Dank, lieber Louis, für das feine Tonmaterial, das Du uns gesendet hast. Wir haben Deine Alpenregengeräusche am vergangenen Donnerstag zu Noe in die Tiefe übermittelt. Große Freude! Gleichwohl sehnt Noe sich nach wie vor eine Uhr herbei, die wir ihm leider nicht gewähren können. Es ist nun folgendes geschehen. Noe presste, vielleicht zunächst ohne einen Vorsatz, seine rechte Hand gegen die Innenseite seines Taucheranzuges und konnte in dieser Weise Pulse erspüren. Von diesem Moment an zählte Noe die Schläge seines Herzens, er zählte bis er die Zahl 70 erreichte, eine Minute Zeit, seit zwei Tagen immerzu derselbe Prozess der Zählung mit lauter Stimme, eine Demonstration seiner Willensstärke, die uns nach und nach unheimlich wird, Noe, eine Uhr, auch schlafend, dämmernd, träumend, eine Uhr, verdammt, ich war mehrfach versucht gewesen, Noes Mikrophon auszuschalten, Ruhe an Bord, eine Gewalttat, die Bewegung eines kleinen Fingers nur, Stille, und doch nicht Stille, weil ich die Fortsetzung des Zählens in der Tiefe annehmen müsste, einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig. Kurz nach 10 Uhr, eiskalte Nacht, aufkommender Wind von Nordwest, wir haben schweren Seegang zu erwarten. Dein OE SOM – Ahoi!
gesendet am
31.10.2011
1166 zeichen
papierlicht
marimba : 14.08 — Die Beobachtung, dass ein Gedanke, sobald ich ihn wahrnehmen kann, immer bereits vollständig anwesend ist. Nie vermag ich einen Gedanken zu betrachten, wie er langsam, nach und nach, Wort für Wort, Zeichen für Zeichen, erscheint. Es denkt sich, blitzt, sagen wir, nahe Lichtgeschwindigkeit vorwärts, die Wahrnehmung eines Gedankens, sein Echo, vollzieht sich dagegen zögernd, behutsam, hörend, also mittels geheimer Ohren im Kopf. – Ob es möglich ist, die Zeit langsamer vergehen zu lassen, indem ich mich zu ihr verhalte, wie ein Dompteur zu einem Löwen? Zeichen für Zeichen eine Geschichte notieren, bis diese Geschichte zu Ende geschrieben sein wird im Jahr 2517 oder im Jahr 2518 vielleicht. Nebelsonne. Papierlicht. — stop