Aus der Wörtersammlung: zeit

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morgens

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tan­go : 8.58 UTC — Wenn ich Men­schen, jun­ge oder älte­re Men­schen fra­ge, ob sie den Moment erin­nern, da sie sich zum ers­ten Mal in ihrem Leben selbst die Schu­he gebun­den haben, sind sie erstaunt, nicht nur des­halb, weil ich mich nach einem weit zurück­lie­gen­den Ereig­nis erkun­dig­te, son­dern auch, weil sie nicht sel­ten sofort in der Lage waren, eine Geschich­te vom Schuh­bin­den zu erzäh­len. Men­schen, wel­che sie lehr­ten, ihre Schu­he zu bin­den, auch die Far­be der Schu­he oder Orte, eine Trep­pe, die Küche oder ein Gar­ten kehr­ten ins Bewusst­sein zurück. Wer sich die Schu­he selbst zu bin­den ver­mag, kann das Haus ver­las­sen, kann eine kom­ple­xe Figur mit Hän­den gestal­ten, über­all auf der Welt scheint die Metho­de der Schlei­fe zu exis­tie­ren, ja, Schlei­fen sind kom­ple­xe Struk­tu­ren, die einer­seits sich selbst erhal­ten mit­tels Umar­mung, ande­rer­seits sich auf einen Zug­wunsch hin sofort aus ihrer Bin­dung lösen. Ich selbst habe mich in Land­au unter einem Apfel­baum auf einem Bänk­chen von Holz sit­zend in der Schuh­bin­dung geübt, mei­ne Damals­schu­he waren blau und rot, die Gän­se­blüm­chen weiss, der Löwen­zahn gelb, die Luft roch nach Stall und mei­ne Tan­te duf­te­te nach Moos und 4711. Sie erzähl­te mir mit den Hän­den wie ich mei­ne Schu­he zu bin­den ver­mag. Auch, dass zur Kriegs­zeit der Him­mel im Wes­ten leuch­te­te, rot am Abend und in der Nacht, das war die Stadt Mün­chen in der Fer­ne, die bran­det. — An die­sem Mor­gen nun, es ist der 24. Febru­ar 2022, beob­ach­te ich eine Foto­gra­fie, die auf­ge­nom­men wur­de, als ich noch schlief: Auto­mo­bi­le, die die Stadt Kyjiw ver­las­sen. Und in die­sen Auto­mo­bi­len Men­schen, deren See­len bren­nen. — stop

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prypjat

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nord­pol : 6.57 UTC — Film­auf­nah­me der Stadt Pryp­jat an einem son­ni­gen April­tag des Jah­res 1986. Duns­ti­ge Haut liegt über far­bi­gen Bil­dern des Films, spie­len­de Kin­der vor Häu­ser­blocks, ein Karus­sell, ein Rie­sen­rad, fla­nie­ren­de Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, All­tag, Frie­den. Man­che der Men­schen tra­gen Taschen, ande­re hal­ten ihre Söh­ne und Töch­ter an der Hand, ein Drei­rad, Bäu­me von hel­lem Grün, und der Him­mel, wol­ken­los. Aber da ist noch etwas ande­res, etwas Unheim­li­ches, da sind Punk­te, Krei­se, hel­le Erschei­nun­gen zu erken­nen, in Bruch­tei­len rasen­der Zeit tau­chen sie auf und sind sofort wie­der ver­schwun­den. So rasch und so uner­war­tet tre­ten sie aus der Bewe­gung des Fil­mes her­vor, dass ein mensch­li­cher Betrach­ter nicht sicher sein kann, ob die Erschei­nung, die er gera­de noch wahr­zu­neh­men glaub­te, tat­säch­lich zu sehen oder nicht ein Irr­tum sei­nes Gehirns gewe­sen war, hel­le Schir­me, pel­zig, weich. Die­ses blit­zen­de Licht zeigt Ver­let­zun­gen des bild­tra­gen­den Mate­ri­als an, Ver­hee­run­gen, die durch strah­len­de Teil­chen des bren­nen­den Gra­phit­re­ak­tors zu Tscher­no­byl ver­ur­sacht wur­den, Teil­chen­spur­licht, des­halb so unheim­lich, so tra­gisch, weil die­ses Licht in den Augen des Film­be­trach­ters von einer spä­te­ren Wirk­lich­keit aus wahr­ge­nom­men wer­den kann, nicht aber von jenen Men­schen, die sich in der Wirk­lich­keit der Auf­nah­me vor der Kame­ra beweg­ten durch einen lebens­ge­fähr­li­chen Tag, den sie viel­leicht für einen glück­li­chen Tag ihres Lebens gehal­ten haben, weil nie­mand sie vor der unsicht­ba­ren Bedro­hung, die sich in der Atmo­sphä­re befand, warn­te. — stop /Kof­fer­text

ping

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tintenzeit

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echo : 14.32 UTC — Am Tele­fon mel­de­te sich ein Mann, der mir eine trau­ri­ge Geschich­te erzähl­te. Er sag­te: Mei­ne Frau ist selt­sam gewor­den, sie wur­de gera­de eben 84 Jah­re alt, viel­leicht ist sie des­halb selt­sam gewor­den. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mit­ter­nacht und sie hat auf­ge­hört zu kochen, des­halb koche ich jetzt für uns bei­de, obwohl ich nie gekocht habe. Mei­ne Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manch­mal sagt sie, dass ich sehr gut kochen wür­de. Der Mann am Tele­fon lach­te. Und ich erin­ner­te mich, dass ich vor Jah­ren ein­mal einen Aus­flug zu einer Tan­te mach­te, die damals seit bereits über zehn Jah­ren in einem Heim leb­te, weil sie sehr alt war und außer­dem nicht mehr den­ken konn­te. Es war Früh­ling und der Flie­der blüh­te, die Luft duf­te­te, mei­ne Tan­te saß mit wei­te­ren alten Frau­en an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drück­te mei­ne Stirn gegen die Stirn mei­ner Tan­te und nann­te mei­nen Namen. Ich sag­te, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen wür­de. Ich sprach sehr lei­se, um die Frau­en, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. — In die­sem Augen­blick hob ich mei­nen Füll­fe­der­hal­ter vom Papier, auf das ich mei­nen Text mit mei­ner rech­ten Hand notiert hat­te. Es war sehr fei­nes Papier, eines durch das man hin­durch­se­hen kann, wenn man das Papier gegen etwas Licht hält, rascheln­des Papier, Luft­pa­pier. Ich hob mei­nen Blick, um gera­de noch wahr­neh­men zu kön­nen, dass sich das Wort Tele­fon auf­zu­lö­sen begann. Zei­chen für Zei­chen ver­schwand das Wort von links nach rechts, kurz dar­auf lös­te sich auch das nach­fol­gen­de Wort vom Papier, dann ein gan­zer Satz in etwa der Geschwin­dig­keit, mit der ich kurz zuvor noch geschrie­ben hat­te. Das war doch selt­sam gewe­sen. Und ich dach­te noch: Du musst Dich beei­len, lie­ber Lou­is, schnell, schreib wei­ter. — stop

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im zimmer. mitternacht

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echo : 0.15 — Auf der Suche nach Danill Charms Text­samm­lung Fäl­le balan­cier­te ich zur Win­ter­zeit vor einem Bücher­re­gal auf einem Stuhl. Es war Sams­tag. Ich erhoff­te mir in dem gesuch­ten Buch einen Ort zu fin­den, des­sen Exis­tenz ich fort­an bewei­sen könn­te. Ich ste­he mit­ten im Zim­mer. Wor­an den­ke ich? — Ein bemer­kens­wer­ter Satz. — Wie ich bald von dem Stuhl gestie­gen war und wie­der auf dem Boden stand, hielt ich den Kri­mi­nal­fall Der ver­schwun­de­ne Kopf des Dama­s­ce­no Mon­tei­ro in Hän­den. Das Buch war im Jah­re 2000 gekauft und neun Jah­re spä­ter mit einer Wid­mung ver­se­hen wor­den. Der Lie­ben P. und dem lie­ben J. zur Erin­ne­rung an ihre Lis­sa­bon­rei­se, anläss­lich eines Blitz­be­su­ches. Von ihrer G. Ich ent­deck­te, dass G. und J. gestor­ben waren, wäh­rend P. damals noch leb­te. Nun ist auch sie gestor­ben und auch Daniil Charms ist noch immer tot und sein Über­set­zer Peter Urban seit 8 Jah­ren. Ein trau­ri­ger Moment. In mei­nem Kühl­schrank herr­schen nach wie vor 7° C. Wie­der­um Mit­ter­nacht Lang­sam spa­zie­re ich wie vor Jah­ren durch das nächt­li­che Zim­mer. Und wäh­rend ich so gehe, erin­ner­te ich mich leb­haft an G., an unse­ren letz­ten gemein­sa­men Spa­zier­gang über den Mün­che­ner Süd­li­chen Fried­hof, wie ich mich wun­der­te, dass sie genau die­sen Weg genom­men hat­te, um mich zur U‑Bahn zu brin­gen, da sie ahn­te oder wuss­te, dass sie bald ster­ben wür­de. Es war ein war­mer Som­mer­abend gewe­sen. Sie ging von Schmer­zen gebeugt. In der wind­lo­sen Luft tanz­ten Flie­gen­tür­me. Ich kann mich noch immer nicht erin­nern, wor­über wir gespro­chen hat­ten. Aber an ihre Stim­me, an ihren Blick, ihren letz­ten Blick, der ein Abschied gewe­sen war. — stop
ping

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tokio

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marim­ba : 22.28 UTC — Es ist spät gewor­den, bei­na­he Nacht. Auf einem Bahn­steig unter dem Flug­ha­fen war­ten Rei­sen­de, sit­zen auf dem Boden, auf Kof­fern, auf Bän­ken, ste­hen, leh­nen anein­an­der oder dre­hen sich auf engem Raum um die eige­ne Ach­se, schlaf­wan­deln­de Tän­zer, die gera­de noch in Madrid oder Tokio gewe­sen sind. Sie alle tra­gen ein Papier­se­gel vor dem Mund, man­che von hell­blau­er Far­be, man­che Weiss, ande­re in Tönun­gen, die für Mund­se­gel­far­be neu erfun­den sind, grün, gelb, rot. Ein Mann spa­ziert dort auf und ab. Er nimmt den Weg ent­lang der Bahn­steig­kan­te, balan­ciert vor dem Abgrund, als wür­de er ris­kan­tes Gehen lan­ge Zeit geübt haben. Und wie er an mir vor­bei­kommt, hör ich ihn spre­chen: Die­ses Coro­na — Virus! Rei­ne Erfin­dung, das ist ver­rückt, das Virus müss­te man doch sehen! Ihr seid alle nicht bei Trost! — So for­mu­lie­rend spa­ziert er den lan­gen Bahn­steig auf und ab. Sei­ne Stim­me spricht sanft, viel­leicht ein wenig zor­nig, weil er bemerkt, dass man ihm nicht zuhört, dass ihm nie­mand ant­wor­ten möch­te, viel­leicht sagen: Ja, mein Herr, das Coro­na — Virus ist tat­säch­lich eine rei­ne Erfin­dung. Wir hören jetzt sofort auf mit der Erfin­dung. Alles wird gut! — Und dann kommt der Zug. Auch der Mann steigt in den Zug. Ich sit­ze, ich war­te, ich wür­de ihn gern foto­gra­fie­ren, eine Per­sön­lich­keit der Zeit­ge­schich­te, einen Herrn, der flüch­tet und doch bleibt. Ein­mal, kurz, mein­te ich sei­ne Stim­me zu hören. — stop

 

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krim : lichtbild no 3

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romeo : 8.52 UTC — Asso­cia­ted Press ver­öf­fent­lichte vor weni­gen Jah­ren eine bemer­kens­wer­te Foto­gra­fie. Men­schen sind zu sehen, die an der Kas­se eines Ladens dar­auf war­ten, bedient zu wer­den, oder Waren, die sie in Plas­tik­beu­teln mit sich füh­ren, bezah­len zu dür­fen. Es han­delt sich bei die­sem Laden offen­sicht­lich um ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, das von künst­li­chem Licht hell aus­ge­leuch­tet wird. Im Hin­ter­grund, rech­ter Hand, sind Rega­le zu erken­nen, in wel­chen sich Sekt– und Wein­fla­schen anein­an­der­rei­hen, gleich dar­un­ter eine Tief­kühl­truhe in der sich Spei­se­eis befin­den könn­te, und lin­ker Hand, an der Wand hin­ter der Kas­se, wei­tere Rega­le, Zeit­schrif­ten, Spi­ri­tuo­sen, Scho­ko­lade, Bon­bon­tü­ten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könn­te sich, wenn man bereit ist, das ein oder ande­re erkenn­bare kyril­li­sche Schrift­zei­chen zu über­se­hen, in einem Vor­ort der Stadt Paris befin­den oder irgend­wo in einem klei­nen Städt­chen im Nor­den Schwe­dens, nahe der Stadt Rom oder im Zen­trum Lis­sa­bons. Es ist Abend ver­mut­lich oder Nacht, eine küh­le Nacht, weil die Frau, die vor der Kas­se war­tet, einen Ano­rak trägt von hell­blauer Far­be und fei­ne dunk­le Hosen, ihre Schu­he sind nicht zu erken­nen, aber die Schu­he der Män­ner, es sind vier Per­so­nen ver­mut­lich mitt­le­ren Alters. Sie tra­gen schwar­ze, geschmei­dig wir­kende Mili­tär­stie­fel, aus­ser­dem Uni­for­men von dun­kel­grü­ner Far­be, run­de Schutz­helme, über wel­chen sich eben­so dun­kel­grüne Tarn­stoffe span­nen, wei­ter­hin Wes­ten mit aller­lei Kampf­werk­zeu­gen, der ein oder ande­re der Män­ner je eine Sturm­wind­brille, Knie­schüt­zer, Hand­schuhe. Die Gesich­ter der Män­ner sind der­art ver­mummt, dass nur ihre Augen wahr­zu­neh­men sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wan­gen, nicht ihre Mün­der. Sie tra­gen kei­ne Hoheits­zei­chen, aber sie wir­ken kampf­be­reit. Einer der Män­ner schaut miss­trau­isch zur Kame­ra hin, die ihn ins Visier genom­men hat, ein Blick kurz vor Gewalt­tä­tig­keit. Jeder Blick hin­ter eine Mas­ke her­vor ist ein selt­sa­mer Blick. Einer ande­rer der Män­ner hält sei­nen Geld­beu­tel geöff­net. Die Män­ner wir­ken alle so, als hät­ten sie sich gera­de von einem Kriegs­ge­sche­hen ent­fernt oder nur eine Pau­se ein­ge­legt, ehe es wei­ter gehen kann jen­seits die­ses Bil­des, das Erstau­nen oder küh­le Furcht aus­zu­lö­sen ver­mag. Ich stel­le mir vor, ihre Sturm­ge­wehre lehn­ten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich her­aus­tre­ten an die fri­sche Luft, wenn wir den Blick zum Him­mel heben, wür­den wir die Ster­ne über Sim­fe­ro­pol erken­nen, oder über Yal­ta, Luhansk, Mariu­pol. — stop / kof­fer­test : updated — ich habe die­se auf­nah­me mit eige­nen augen gesehen.
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ai : ÄGYPTEN

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MENSCH IN GEFAHR : “Die Men­schen­rechts­an­wäl­tin Hoda Abdel­mo­niem wird seit mehr als drei Jah­ren auf­grund ihrer Men­schen­rechts­ar­beit will­kür­lich fest­ge­hal­ten. Nach­dem sie 35 Mona­te in Unter­su­chungs­haft ver­bracht hat­te, wur­de sie von der Obers­ten Staats­an­walt­schaft vor das Not­stands­ge­richt (ESSC) zitiert. Ihr wird vor­ge­wor­fen, einer “ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung” bei­getre­ten zu sein, sie finan­ziert und unter­stützt zu haben. Außer­dem legt man ihr zur Last, über eine Face­book-Sei­te mit dem Namen “Egyp­ti­an Coor­di­na­ti­on for Rights and Free­doms” Fal­sch­nach­rich­ten über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch Sicher­heits­kräf­te ver­brei­tet zu haben, um Gewalt gegen staat­li­che Ein­rich­tun­gen zu schü­ren. Die­se Vor­wür­fe bezie­hen sich auf ihre Arbeit für die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Egyp­ti­an Coor­di­na­ti­on for Rights and Free­doms (ECRF). / Die ESSCs, die als Son­der­ge­rich­te im Fal­le eines Aus­nah­me­zu­stands tätig wer­den, sind für ihre unfai­ren Ver­fah­ren bekannt und ihre Urtei­le sind nicht anfecht­bar. Hoda Abdel­mo­niems Recht auf eine ange­mes­se­ne Ver­tei­di­gung wird ver­letzt, da sie sich mit ihrem Rechts­bei­stand aus­schließ­lich vor Gericht tref­fen darf. Die Fort­füh­rung des Pro­zes­ses, der am 11. Sep­tem­ber 2021 begann, wur­de auf den 15. Dezem­ber 2021 ver­tagt. / Bei einer Gerichts­an­hö­rung am 11. Okto­ber 2021 sag­te Hoda Abdel­mo­niem den Richter:innen, dass ihr im Gefäng­nis eine Herz­ka­the­ter­un­ter­su­chung ver­schrie­ben wur­de und dass eine:r der Mediziner:innen ihre Frei­las­sung aus medi­zi­ni­schen Grün­den bean­tragt habe. Laut des : der Gefängnis-mediziner:in sei­en jedoch der­zeit Ver­le­gun­gen in Kran­ken­häu­ser außer­halb des Gefäng­nis­ses auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie aus­ge­setzt. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat jedoch Kennt­nis von der Ver­le­gung ande­rer Gefan­ge­ner in exter­ne Kran­ken­häu­ser seit dem Aus­bruch des Coro­na­vi­rus, ein­schließ­lich der kurz­zei­ti­gen Ver­le­gung von Hoda Abdel­mo­niem am 30. Novem­ber 2020 zur Behand­lung eines ver­mu­te­ten Nie­ren­ver­sa­gens. Zusätz­lich zu ihrer Herz­er­kran­kung lei­det Hoda Abdel­mo­niem an einer Nie­ren­er­kran­kung, einer arte­ri­el­len Throm­bo­se und hohem Blut­druck. Seit ihrer Inhaf­tie­rung am 1. Novem­ber 2018 ver­wei­gert ihr die Ver­wal­tung des Frau­en­ge­fäng­nis­ses Al-Qana­ter jeg­li­chen Besuch und Kon­takt mit ihrer Fami­lie. Ihre Ange­hö­ri­gen haben außer­dem nach wie vor kei­nen Zugang zu ihrer Kran­ken­ak­te, was die Sor­ge der Fami­lie um ihren Gesund­heits­zu­stand noch ver­stärkt. Die Richter:innen, die ihren Pro­zess lei­ten, haben Anträ­ge auf Zugang zu ange­mes­se­ner medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung und Fami­li­en­be­su­che bis­lang abge­lehnt.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 4. Febru­ar 2022 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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taubenstrasse 8 / 508

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alpha : 14.15 UTC — Mein Nach­bar wohnt im 508. Stock in der Tau­ben­stras­se 6. Indes­sen ich selbst ein Apart­ment der Tau­ben­stras­se 8 im 508 Stock bewoh­ne. Es ist Dezem­ber, Weih­nach­ten. Der Strom ist aus­ge­fal­len. Wenn ich nun ans Fens­ter tre­te sehe ich Joshua, wie er sei­ner­seits mich betrach­tet, der wie­der­um ihn betrach­tet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir ent­fernt. Die Fens­ter las­sen sich in die­ser Höhe nicht öff­nen. Und ich sehe, eine Wol­ke zieht vor­über, dass auch Joshua allein ist, wes­we­gen ich auf einen Zet­tel in gro­ßen Buch­sta­ben schrei­be: Joshua, komm zu mir her­über, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt sei­nen Dau­men. Er ver­schwin­det im hin­te­ren Teil sei­nes Zim­mers, der im Schat­ten liegt, kommt dann bald wie­der zurück mit einer Fla­sche Hol­lun­der­bee­ren­saft in Hän­den. Er trägt bereits einen Man­tel und einen Ruck­sack und eine Müt­ze und Hand­schu­he. Er schreibt auf einen Zet­tel: Ich kom­me! War­te auf mich! — Das Licht in Joshu­as Woh­nung geht aus. Und so sit­ze ich und war­te. Ich ken­ne Joshua schon lan­ge Zeit. Ein­mal haben wir uns auf der Stras­se getrof­fen. Und jetzt ist Weih­nach­ten. Schnee fällt. Und es ist ganz wun­der­bar still. — stop

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auf dem hochseil

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romeo : 2.25 UTC — Vor eini­ger Zeit als noch Schnee lag, ent­deck­te ich in einem Kar­ton vor einem Haus auf der Stra­ße zwei Pin­gui­ne. Sie waren unge­fähr 8 Zen­ti­me­ter groß und weich. Ich nahm sie mit nach Hau­se und stell­te sie auf ein Fens­ter­brett. Wie das so ist waren sie einer­seits anwe­send, ande­rer­seits hat­te ich sie soweit aus den Augen ver­lo­ren, dass ich nicht län­ger an sie dach­te oder sie bemerk­te, wenn ich ans Fens­ter trat. Nun aber habe ich vor weni­gen Minu­ten ein Häuf­chen sehr klei­ner Flie­gen, es waren 24 Flie­gen, leb­los zwi­schen bei­den Pin­gui­nen auf dem Fens­ter­brett ent­deckt. Und wie ich mich nähe­re sehe gera­de noch wie eine Spin­ne sich hin­ter dem rech­ten der Pin­gui­ne ver­steck­te. Ich hol­te mir einen Stuhl und war­te­te. Bald zeig­te sich die Spin­ne, indem sie über einen unsicht­ba­ren Faden zwi­schen zwei Pin­guin­köp­fen spa­zier­te. In der Mit­te unge­fähr hielt die Spin­ne inne. Ich stell­te mir vor, wie sie mich viel­leicht betrach­te­te. Es war frü­her Nach­mit­tag. Und so sas­sen wir gemein­sam eine Zeit und war­te­ten, dass sich eine wei­te­re Flie­ge, Flie­ge No 25, nähern möge. — stop

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letzter winter

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echo : 8.02 UTC — Joseph pro­phe­zeit, dass ich sehr bald mein Leben ver­lie­ren wer­de. Du tust mir leid, sagt Joseph, Du hät­test Dich nicht imp­fen sol­len. Alle wer­den ster­ben. Alle, die sich geimpft haben, wer­den in die­sem Win­ter tot gewor­den sein. Viel­leicht hast Du noch eine Chan­ce, wenn Du die Imp­fung ver­wei­gerst. Soll­test Du die 3. Imp­fung nicht ver­wei­gern, wirst Du tot sein, da kann Dir nie­mand hel­fen, Ihr wer­det ster­ben wie die Flie­gen, sagt Joseph. Er spricht am Tele­fon, aber jetzt will er nicht wei­ter spre­chen, ich habe eini­ge Fra­gen, aber er will par­tout nicht wei­ter­spre­chen. Joseph legt auf. Ich glau­be, er will mit einem Toten nicht spre­chen. Es ist etwas ande­res, wenn man nicht genau weiss, wann ein Bekann­ter ster­ben wird, viel­leicht in zehn Jah­ren. Aber wenn man weiss, dass ein Bekann­ter tot sein wird, ehe noch der nächs­te Früh­ling gekom­men sein wird, da ist das doch so, als wür­de man gera­de schon mit einer Per­son spre­chen, die im Grun­de schon tot ist. — stop

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