Aus der Wörtersammlung: arme

///

saint george ferry terminal : tiefseeelefanten

2

echo : 0.02 — Ges­tern, Diens­tag, 24. Janu­ar, hat­te ich Gele­gen­heit mich genau so zu ver­hal­ten, als wür­de ich schla­fen, obwohl ich doch hell­wach gewe­sen war. War in der zen­tra­len Hal­le des Saint Geor­ge Fer­ry Ter­mi­nals, erin­ner­te mich an einen Traum, den ich vor zwei Jah­ren erleb­te. Ich war­te­te in die­sem Traum an einem spä­ten Abend an genau der­sel­ben Stel­le auf das nächs­te Schiff nach Man­hat­tan zurück. Ich war­te­te lan­ge, ich war­te­te die hal­be Nacht, begeis­tert vom Anblick einer Her­de fili­gra­ner Tief­see­ele­fan­ten, die über den hel­len san­di­gen Boden eines Aqua­ri­ums wan­der­ten. Sie hat­ten ihre meter­lan­gen Rüs­sel zur Was­ser­ober­flä­che hin aus­ge­streckt, such­ten in der küh­len Luft her­um und berühr­ten ein­an­der in einer äußerst zärt­li­chen Art und Wei­se. Ein fas­zi­nie­ren­des Geräusch war zu hören gewe­sen, sobald ich eines mei­ner Ohren an das haut­war­me Glas des Gehe­ges leg­te. Und auch ges­tern war­te­te ich wie­der lan­ge Zeit und beob­ach­te­te den san­di­gen Boden des Aqua­ri­ums, von dem ich geträumt hat­te. Bis­wei­len, nicht ganz wach und nicht im Schlaf, war das Signal­horn eines Fähr­schiffs zu hören. Glück­li­che Stun­den. — stop

///

roosevelt island : lawrence

2

ulys­ses : 1.58 — Wol­ken­lo­ser Him­mel. ‑8° Cel­si­us. Ich tra­ge heu­te zum ers­ten Mal Law­rence spa­zie­ren unter Man­tel, Pull­over, Hemd unmit­tel­bar auf mei­ner Haut, ein Schlan­gen­we­sen mit einem klei­nen Kopf, der in der Nähe mei­nes Hal­ses zu lie­gen gekom­men ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal her­vor, man muss sich das ein­mal vor­stel­len, Lawrence’s sand­far­be­nen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrock­ne­ten Speck­strei­fen füt­te­re, wäh­rend ich durch die knis­tern­de Win­ter­luft stel­ze. Ich kann Law­rence hören, er ist ein lei­ser, ein gemäch­li­cher Fres­ser. Und die Wär­me füh­len, wun­der­voll, die sein fein­häu­ti­ger Kör­per erzeugt, der mich fest umwi­ckelt, mei­ne Brust, mei­nen Bauch, mei­ne Arme, mei­ne Bei­ne. Speck für sechs Stun­den Wan­der­zeit habe ich in mei­ne Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vor­mit­tags, um kurz vor vier Uhr nach­mit­tags soll­te ich zurück­ge­kom­men sein, dann sehen wir wei­ter. Sonn­tag ist gewor­den. Und so gehen wir an die­sem Sonn­tag also spa­zie­ren, Law­rence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Ave­nue nord­wärts und ein wenig durch den Cen­tral Park. Tau­sen­de hel­ler Wölk­chen stei­gen dort aus den Mün­dern tau­sen­der New Yor­ker Men­schen. Höhe 67. Stra­ße dre­hen wir wie­der um, lau­fen zurück, fol­gen der 59. Stra­ße west­wärts, bis wir den East River errei­chen, Roo­se­velt Island Tram­sta­ti­on. In der Seil­bahn über­ge­setzt, ein­mal hin und sofort wie­der zurück, Ping­pong. In einem Baum, 61. Stra­ße, lun­ger­ten Hun­der­te schla­fen­der Tau­ben, als wären sie Blü­ten. — stop

ping

///

matrjoschka

2

echo : 6.52 — Weit bin ich in der Beweg­lich­keit mei­nes Ellen­bo­gen­ge­len­kes gekom­men. Ich ver­mag ein Glas Was­ser zum Mund zu füh­ren, in einem Buch zu blät­tern oder auf einer mei­ner elek­tri­schen Schreib­ma­schi­nen zu schrei­ben. Auch ein fes­ter Hän­de­druck ist wie­der mög­lich gewor­den, wenn­gleich noch schmerz­haft. Ges­tern nun näher­te ich mich mit mei­nem rech­ten Dau­men mei­ner rech­ten Schul­ter so weit an, dass ich mein­te, sie bereits spü­ren zu kön­nen, mei­ne Schul­ter also an der Haut mei­nes Dau­mens und umge­kehrt. Eine äußerst lang­sa­me, sagen wir, behut­sa­me Annä­he­rung. Ein Nach­ge­ben Mil­li­me­ter für Mil­li­me­ter jenes klei­ne­ren Matrjosch­ka­ar­mes, der mei­nen eigent­li­chen Arm seit Mona­ten zu bewoh­nen scheint, eigen­sin­ni­ges Wesen, Wesen wie für sich, das noch fest­hal­ten will an einer Ges­te des Schut­zes, wei­ter­exis­tie­ren in einem Win­kel von 90°. Mein schnur­ren­der, mein sich räus­pern­der Arm. Es knis­tert unter der Haut auch dann, wenn ich mich nicht bewe­ge, als ob der eine Arm mit dem ande­ren Arm lei­se ver­han­del­te. – Diens­tag, noch Nacht. War­mer Regen vom Nebel­him­mel. Und Jazz, und Jazz von New Jer­sey her. Art Tat­um. März 1946. TIGER RAG. Guten Mor­gen. — stop

ping

///

geborstene wangen

2

marim­ba : 9.28 — Sie­ben­hun­dert Men­schen sol­len vor weni­gen Wochen wäh­rend einer Demons­tra­ti­on auf dem Tah­r­ir-Platz ver­letzt wor­den sein. Das Trau­ma der Ver­sehr­ten, Ver­bren­nung, ver­ätz­te Bron­chi­en, stei­fe Hän­de und Arme, Sprach­stö­rung, blin­de Augen, zer­trüm­mer­te Kie­fer, gebors­te­ne Wan­gen, ver­lo­re­ne Erin­ne­rung. Was bedeu­tet, der Blick ist in dunk­le Sei­ten­stra­ßen der Stadt gerich­tet, in Zim­mer ver­steck­ter, not­dürf­tig aus­ge­rüs­te­ter Ambu­lan­zen, das Wort der Ver­let­zung in die­sen Zusam­men­hän­gen? — stop

ping

///

obersalzberg : kentauren

pic

sier­ra : 12.10 — Man soll­te mei­nen, ein Buch sei aus­schließ­lich zum Lesen geeig­net, eine Sub­stanz hel­len Papiers, Zei­chen in gefal­te­ter Linie, die mit den Augen stu­die­rend ent­lang­zu­ar­bei­ten ist, Far­ben, Gerü­che, Klän­ge, Dra­ma. Seit eini­gen Stun­den nun weiß ich, Bücher hel­fen gleich­wohl in mecha­ni­scher Wei­se ana­to­misch wie­der beweg­lich zu wer­den. Toni Mor­ri­sons Roman Jazz, zum Bei­spiel, 402 Gramm Gewicht für Minu­ten in mei­ner Hand am Ende eines Unter­ar­mes, den ich zu stre­cken wün­sche, wider­spens­tig ist er noch, bewegt sich nicht von eige­ner Kraft in jede der von mir gewünsch­ten Rich­tun­gen. Wie er jetzt von der Schwer­kraft der Dich­tung nach unten gezo­gen wird, behut­sam, in der Art und Wei­se lang­sam fal­len­der Äpfel, sagen wir, eine Bewe­gung, mit den Augen nicht wahr­nehm­bar. – Kurz vor 12 Uhr. Mit­tag. Jen­seits des Tales, das ich vom Hos­pi­tal aus über­schau­en kann, spa­ziert glei­ßen­des Son­nen­licht über den Ober­salz­berg hin, unheim­li­che Gegend. Ich mein­te für Sekun­den ein Rudel Ken­tau­ren gese­hen zu haben, die den Saum eines Buchen­wal­des ent­lang galop­pier­ten. stop. Groß­ar­ti­ge ers­te Sät­ze im Kopf. stop. Toni Mor­ri­son. stop. STH, I know that woman. She used to live with an flock of birds on Len­ox Ave­nue. Know her hus­band, too. He fell for an eigh­te­en-year-old girl with one of tho­se deep­down, spoo­ky loves that made him so sad and hap­py he shot her just to keep the fee­ling going. When the woman, her name is vio­let, went to the fun­e­ral to the the girl and to cut her dead face they threw her to the flo­or and out of the church. She ran, then, through all that snow, and when she got back to her apart­ment she took the birds from their cages and set them out the win­dows to free­ze or fly, inclu­ding the par­rot that said, „I love you.“

///

muschelsegel

2

tan­go : 8.25 — Eine Maschi­ne, die selt­sam brau­sen­de Strö­me zu erzeu­gen ver­mag, wird gleich zum Ein­satz kom­men. Nicht viel grö­ßer als ein Hand­te­le­fon sit­zen zwei Fort­sät­ze von Plas­tik an ihrem Gehäu­se wie leben­de Muscheln fest. In der Nähe die­ser Muschel­rä­der ent­kom­men dem Kör­per des Gerä­tes zwei Dräh­te, die sich an ihren Enden tei­len. Metal­le­ne Segel sind dort befes­tigt, die ich an mei­nem Arm der­art anle­gen kann, dass sie sich fest­zu­hal­ten schei­nen. In dem Moment nun, da ich an den Muschel­räd­chen dre­he, beginnt der Appa­rat zu brum­men. Ein leich­tes Bren­nen auf der Haut und in die Tie­fe, und schon beginnt sich mein Arm zu heben und zu sen­ken, ohne dass ich ihm Anwei­sung zu die­ser Bewe­gung erteilt haben wür­de. Wenn ich nun die Hand mei­nes elek­tri­sier­ten Armes auf die Leh­ne eines Stuh­les sin­ken las­se, scheint das Holz unter ihr zu wan­dern, obwohl ich mit mei­nen Augen wahr­neh­men kann, dass der Stuhl sich nicht im Gerings­ten bewegt. Bald wan­dert auch der Boden, die Wän­de des Zim­mers schlie­ßen sich an, das Fens­ter zu den Ber­gen hin, die Ber­ge selbst. Sechs Uhr und zehn Minu­ten. Ein Ober­arm­mus­kel flat­tert. — stop

ping

///

metamorphose

2

india : 7.32 — An einem Tisch im wil­den Gar­ten. Die Son­ne schien kräf­tig über nahen Ber­gen, wärm­te mich und eine Amei­se, die über das Holz des Tisches spa­zier­te, als wür­de sie einen Aus­weg suchen, auf und ab, hin und her. Ich habe sofort bemerkt, dass es sich bei die­ser Amei­se um eine sehr beson­de­re Amei­se han­del­te, es war näm­lich die ers­te Novem­ber­amei­se mei­nes bewuss­ten Lebens, wes­we­gen ich ihr einen Trop­fen Mar­me­la­de vor­ge­legt habe, was das fieb­ri­ge Insekt zu erfreu­en schien, weil es den Trop­fen zunächst umkreis­te, um sich kurz dar­auf mit Zan­gen­werk­zeug an die Arbeit zu machen. Ich stell­te mir vor, in dem ich die Amei­se beob­ach­te­te, dass sie, satt gewor­den, zum Rand des Tisches lau­fen könn­te und sich in die Tie­fe stür­zen. Ihr groß­ar­ti­ger Flug weit über das Gar­ten­land auf Leder­häu­ten, die sich zwi­schen ihren zar­ten Bein­chen ent­fal­te­ten. Statt­des­sen fiel eine Flie­ge vom Him­mel, über­schlug sich zwei­fach und blieb auf dem Rücken unmit­tel­bar vor mei­nen Augen lie­gen. Aber das ist jetzt schon eine ganz ande­re Geschich­te. — stop
ping

///

salzburg : stefan zweig, kapuzinerberg no 5

2

lima : 8.16 — Von der Lin­zer Gas­se hin­auf zum Paschin­ger­schlös­sel, in dem Ste­fan Zweig mit sei­ner ers­ten Frau, der Schrift­stel­le­rin Frie­de­ri­ke Maria Bur­ger, 15 Jah­re lang wohn­te und arbei­te­te. Ein stei­ler Weg, 264 Trep­pen­stu­fen, James Joy­ce und Tho­mas Mann wer­den die­se Stre­cke gegan­gen sein vor einer Sekun­de noch vor den lang­sam west­wärts flie­ßen­den Ber­gen. Das Haus No 5, groß­zü­gi­ge Ter­ras­se, hin­ter Laub­bäu­men ver­steckt, scheint sich von selbst im leich­ten Wind zu bewe­gen. Unten im Tal, schnee­grün an die­sem Abend, die Salz­ach. Auf den Dächern der Stadt lun­gern moder­ne Men­schen, sie lesen, trin­ken Wein, schla­fen in ihren Him­mels­gär­ten in der war­men Novem­ber­son­ne. Ein spä­ter Feu­er­kä­fer pas­siert den schma­len, stei­ni­gen Weg, längst bin ich im Wald ange­kom­men. Das Klos­ter der Kapu­zi­ner­mön­che liegt hin­ter mir. Buchen, Eschen, Lin­den bren­nen. Eine gebückt gehen­de alte Frau, ich sehe, sie geht kreuz und quer über die Pfa­de des Ber­ges. So betagt muss sie ihrer Erschei­nung nach sein, dass sie Ste­fan Zweig noch per­sön­lich gekannt haben könn­te. Wie sie zuletzt unter den Bäu­men ver­schwin­det, uraltes Kind, dach­te ich an eine Foto­gra­fie, die in der digi­ta­len Sphä­re exis­tiert. Sie zeigt Ste­fan Zweig und sei­ne zwei­te Frau Lot­te Alt­mann in ihrem Haus in der bra­si­lia­ni­schen Stadt Petró­po­lis leb­los lie­gend auf einem Bett. Die­ser Blick nun eines Jour­na­lis­ten und sei­ner Licht­fang­ma­schi­ne, der seit dem 23. Febru­ar 1942 nicht wie­der zurück­ge­holt wer­den kann. — stop

///

zehnstreifenleichtfuß

2

hima­la­ya : 7.32 — Ein Licht­bild auf einem Tisch. Die Auf­nah­me zeigt das Inne­re mei­nes Armes. Es ist zunächst nicht ein­fach, in den dar­ge­stell­ten Kno­chen­struk­tu­ren, mei­ne eige­nen Struk­tu­ren zu erken­nen. Ich weiß, das bin ich, aber ich sehe mich nicht. Das, was ich sehe, habe ich immer schon mit mir geführt, und trotz­dem betrach­te ich unbe­kann­tes Gebiet. Die­se klei­ne Schrau­be hier, sie leuch­tet, ich kann ihr Gewin­de erken­nen, ist jetzt mei­ne Schrau­be. Im abge­dun­kel­ten Rönt­gen­raum arbei­tet eine Frau, die mei­nen Arm auf den Tisch bet­tet, sodass er prä­zi­se auf der Foto­plat­te zu lie­gen kommt. Ich sol­le ganz still sit­zen, sagt sie, wes­we­gen ich die Luft anhal­te und mei­ne Augen weit öff­ne, weil ich nach­schau­en will, ob ich nicht doch vom radio­lo­gi­schen Licht einen Schim­mer wahr­neh­men kann. Eine Sekun­de Atem­stil­le. Und noch eine Sekun­de Atem­stil­le. Ein Sum­men hin­ter Blei­glas­fens­tern. — Ich hat­te die Exis­tenz der Zehn­strei­fen-Leicht­fuß-Käfer ver­ges­sen. — stop
ping

///

cast

2

marim­ba : 10.58 — Die Pan­ze­rung des rech­ten Armes mit­tels Cast­ver­ban­des. Der Ein­druck zunächst, gebän­digt wor­den zu sein, gefan­gen im 90° Win­kel. Kurz dar­auf, nach zwei oder drei post­ope­ra­ti­ven Tagen, das Gefühl, gleich­wohl geschützt zu sein, das ver­wun­de­te Gebiet unter Haut, die laven­del­far­ben schil­lert, gebor­gen in einer Wie­ge von Glas­fa­ser­ge­we­be. Indem ich mich über Flu­re und Trep­pen bewe­ge, sto­ße ich immer wie­der an Wän­de, weil ich mei­nen künst­lich erwei­ter­ten Umfang noch nicht in mein Gehirn dau­er­haft ein­ge­tra­gen habe. Je ein Geräusch, schein­bar von innen her, als wür­de ich an Muschel­ge­häu­se klop­fen. – stop



ping

ping