echo : 20.58 UTC – Notierte auf der Schreibmaschine im Zug und sah gar nicht hin, nicht auf den Bildschirm, nicht auf meine Hände. Ich schrieb eine halbe Stunde voran, ich schrieb schneller und immer schneller, ich dachte, da war einmal ein Mann gewesen, mit einem Kinderwagen ohne Kind auf einem Bahnsteig am Flughafen. Weil ich mich wunderte über seinen Kinderwagen ohne Kind, beobachtete ich den Mann. Das war eine seltsame Sache, ich schrieb: Wenn man sich über eine Person wundert, kann man nicht loslassen, man kann nicht sagen, ich beobachtete diese Person bereits gestern, heute beobachte ich diese Person nicht noch einmal, man wird bemerken, man folgt der Person mit den Augen, ob man nun will oder nicht. Ich hatte den Eindruck, es handelte sich bei dem Mann um eine melancholische Person, um einen Vater vielleicht, der am Flughafen auf ein Kind wartete, das nicht ankommen wird, weil das Kind längst getötet wurde von einem Stück Metall, welches in Aleppo durch die Luft schleuderte von einem Vorsatz getrieben, nämlich dem Vorsatz Menschen umzubringen. Dann plötzlich betrachtete ich meinen Bildschirm und bemerkte, dass der Buchstabe g meiner Tastatur nicht funktionierte, dass den Wörtern der Buchstabe g fehlte, sobald er eigentlich in Wörter hineingeschrieben werden musste. Also schüttelte ich meine Schreibmaschine so lange, bis sich die G‑Taste meiner Tastatur aus ihrer Blockade löste, ich las meinen Text von vorn und fügte fehlende Buchstaben in die Wörter ein, sodass der Text selbst bald vollständig geworden war. — stop
Aus der Wörtersammlung: bild
raymond carver goes to hasbrouck heights / 3
sierra : 5.12 UTC — Es ist Samstag und ich habe gerade eine Meldung gelesen, die mir ein Programm meines Particles-Servers sendete, es habe nämlich ein Mensch, der nahe oder in Washington D.C. leben soll, einen Text besucht, der von Raymond Carver erzählt. Ich las meinen Text nach längerer Zeit wieder einmal mit älter gewordenen Augen. Und ich dachte mir, dass ich im Grunde nicht sicher sein könne, ob ein menschliches Wesen meinen Text in der Weite des World Wide Web entdeckte, oder ob eine Maschine mein Particles besuchte, die einer Spur von Schlüsselwörtern folgte. Der Text, der am 12. Dezember 2014 notiert wurde, geht so: Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von sehr kleinen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
von wörtern von ohren
sierra : 18.28 — Es donnert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saust, summet, brummet, rumpelt, quäkt, ächzt, singt, rappelt, prasselt, knallt, rasselt, knistert, klappert, knurret, poltert, winselt, wimmert, rauscht, murmelt, kracht, gluckset, röcheln, klingelt, bläset, schnarcht, klatscht, lispeln, keuchen, es kocht, schreien, weinen, schluchzen, krächzen, stottern, lallen, girren, hauchen, klirren, blöken, wiehern, schnarren, scharren, sprudeln. Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr. — G.C.Lichtenberg / stop
vom stempelwald
alpha : 22.10 — Andrej erzählte, er habe beobachtet, wie er, sobald er in Gedanken versunken arbeite, die Welt der Zeichen auf Papieren mit der Welt der digitalen Zeichen auf Bildschirmen in unmittelbare Verbindung setze. Sobald er lange Zeit auf einem Bildschirm mit den Werkzeugen der Bildschirme an einem Text gearbeitet habe, würde er, wenn er sich Zeichen auf Papieren zuwende, den Versuch unternehmen, auch dort Wörter, zum Beispiel mittels dehnender oder ziehender Bewegung zweier Finger zu vergrößern, oder aber Wörter durch Berührung zu unterstreichen oder aber auszuschneiden, was zunächst ungeduldige, sogar heftige Wiederholung seiner Gesten zur Folge habe, bis er endlich begreife, dass er sich an gestempelten Wörtern versuche. — stop
ein name fern und nah
echo : 18.55 — Im Schnellzug saß eine junge Frau. Als der Zug längere Zeit halten musste, kamen wir ins Gespräch. Die junge Frau sagte, dass sie bewundere, wie schnell ich auf meiner Schreibmaschine mit den Fingern tippen könne. Sie erwähnte, dass sie in Sri Lanka geboren worden sei, aber schon lange in Europa lebe. Tatsächlich hörte ich kaum einen Akzent in ihrer Stimme. Ich fragte sie nach ihrem Namen. Welchen ihrer Namen ich wissen wolle, erkundigte sie sich, ihren europäischen, den Namen ihres Mannes, der sich mit einem Bruchteil ihres Geburtsnamens verbunden habe, oder eben den Namen ihrer Kindheit? Mit einer scheuen Handbewegung rief sie meine kleine flache Schreibmaschine zu sich herüber, nahm sie in ihre linke Hand und begann mit ihrer rechten Hand Zeichen um Zeichen zu tippen. Sie sagte: Ich schreibe ihnen, wie ich in Sri Lanka als unverheiratete Frau gerufen wurde. Vorsichtig berührte sie mit einer Fingerspitze die Tastatur auf dem Bildschirm, es dauerte lange Zeit, ehe sie fertig geworden war. Immer wieder schien sie ihren Namen zu prüfen, ob auch alles stimmte. Kurz darauf las sie mir ihren Namen vor, ein schönes Geräusch in meinen Ohren. Dann gab sie mir meine Schreibmaschine zurück und ich buchstabierte meinerseits Folgendes vorsichtig nach: Malvala Sri Brahmana Rinnayaka Tannkoan Mydiuanselage Langt Mahehika Tannkoan Sanatonga. Es war an einem Donnerstag gewesen, gegen 18 Uhr. — stop
von kevin und liesl im zug
tango : 22.52 UTC — Ich hörte, er heiße Kevin. Er sagte, er sei ohne Dach über dem Kopf. Auch im Sommer oder im Herbst sei das Leben nicht leicht, im Sommer habe er viel Durst, im Herbst fürchte er sich vor dem Winter. Er würde gern seine Geschichte erzählen, warum er so arm geworden sei, dass er keine Wohnung habe und nichts zu essen. Wenn Kevin spricht, ist seine Stimme wunderschön anzuhören. Es ist eine Stimme, die gut singen könnte, ein Tenor vielleicht. Nur das mit Kevins Geschichte ist so eine Sache, ich höre Kevins Lebensgeschichte seit Anfang des Jahres im Morgenschnellzug zum Flughafen immer wieder. Ich sollte sagen, Kevin erzählt täglich eine andere Geschichte, er ist im Grunde ein guter Erzähler, und auch ein guter Erfinder. Im Winter erzählt er Wintergeschichten, im Sommer Sommergeschichten. Gestern wurde Kevin von einer jungen, mageren Frau begleitet. Sie war sehr schmutzig. Kevin erzählte ihr, dass ich ihm manchmal etwas Geld geben würde oder eine Brezel, auch dass ich aufschreiben würde, was er berichte. Sie setzten sich neben mich. Die junge Frau sagte: Wenn man träumt, ist man im Inneren wach und warm. Am Flughafen stiegen beide mit mir aus. Wir sprachen eine halbe Stunde. Der Bahnhof war wieder einmal undicht. Regen kam von der Decke. Das Licht war teilweise ausgefallen, an den Wänden saßen ein paar dicke Kröten. Sie schnappten mit armlangen Zungen nach Tauben, die über den Bahnsteig segelten. Ich hörte, das Knochengespenst an Kevins Seite soll Lieselotte heißen, sehr seltsam dieser Name für eine recht junge Person. Ich erfuhr, dass sie Literaturwissenschaften in London studierte, sie mag gern lesen, aber sie komme nicht dazu, weil sie das Bild ihres Vaters in sich trage, der immerzu betrunken war, ein schmerzendes Bild, das hell vor ihr leuchte. Ich weiß jetzt, Bilder eines betrunkenen Vaters zu verdunkeln, erfordert ungeheure Kraft und Ausdauer. Lieselotte kann deshalb seit einem Jahrzehnt nicht schlafen. Sie mag Kevin, der so schöne Geschichten erzählt, dass sie beide von seinen Geschichten ein wenig weiterleben können. Es ist jetzt Abend. — stop
zwergseerose no 2
nordpol : 0.02 UTC — Als ich heute Morgen erwachte, knisterte mein linkes Ohr. Das war vermutlich darum gewesen, weil ich auf meinem linken Ohr mehrere Stunden lang träumend ruhte. Für einen Moment dachte ich, meine Ohrmuschel wäre von Papier gemacht. Während ich so lag und lauschte, erinnerte mich an eine Geschichte, die ich in einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West in New York vor längerer Zeit erlebte. Ich erzählte bereits von dem alten Mann, der hinter einem Tresen auf Kunden wartete. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, doch eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüßte, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf dem Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in demselben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. – stop
korken
delta : 0.15 UTC — Das waren Zeiten, als wir noch Kinder waren, die unter freiem Himmel mit Flugdrachen spielten. Wie wir durch die Wälder krochen, um Knochen zu sammeln. Ein Bild zeigt mich in kurzen Hosen, wie ich einen Erdapfel über offenes Feuer halte, ich sammelte Briefmarken, Schmetterlinge, Steine und Kronkorken, ließ Seilbahnen über Bindfäden fahren von Haus zu Haus. Heute sammele ich gerne Geschichten von Kiemenmenschen, hölzerne Elefanten oder Marienkäfer, die nachts schlafend an warmen Lampenschirmen sitzen. — stop
ein aquarium
tango : 22.02 UTC — Bob erzählt von einem Aquarium, keinem gewöhnlichen Aquarium, vielmehr einem Aquarium, das ihm einerseits gehören, andererseits sehr weit entfernt sein soll, nämlich beinahe auf der anderen Seite der Welt, in Thailand in einem Vorort der Stadt Bangkok in einem Café neben einer Tankstelle mit Garten, in welchem Orchideen auf Bäumen wachsen. Auch Vögel sollen dort im Garten zahlreich leben, und Kinder spielen, weil sich in der Nähe eine Schule befindet. Er selbst, erzählt Bob, sei in diese Schule gegangen, habe Englisch gelernt und Mathematik, gerade in Mathematik soll er gut gewesen sein. Jetzt lebt er also in Europa und besucht eine Universität, um die Sprache der Computermaschinen zu studieren. Das Café, das meiner Mutter gehört, und auch ein wenig mir selbst, läuft gut, sagt Bob, wir können von unseren Einkünften gut leben. Ich brauche ja nicht viel Geld hier, kleines Zimmer. Er holt sein Telefon aus der Hosentasche, tippt ein wenig auf dem Bildschirm herum, dann reicht er mir das kleine, flache Gerät über den Tisch. Schau, sagt er, das ist mein Café, das ist meine Mutter in Echtzeit, es ist gerade früher Morgen, sie bereitet sich auf erste Gäste vor, die kommen bald. Tatsächlich erkenne ich auf dem Bildschirm eine ältere Frau, die auf einem Brett von Holz irgendwelche Pflanzen zerteilt. Bob nimmt mir das Telefon kurz aus der Hand, tippt noch einmal auf den Bildschirm. Nun sind Fische anstatt seiner Mutter zu sehen. Das ist mein Aquarium, sagt Bob, leider nur in schwarz-weißer Farbe. Sie sind ziemlich bunt. Zwei von ihnen habe ich selbst gefangen im vergangenen Winter. Es ist ein Salzwasseraquarium. Gleich wird meine Mutter die Fische füttern. Solange können wir warten. — stop
licht
alpha : 22.01 UTC — Im Freiluftkino abends jagen Fledermäuse durchs Bild, werden für Sekundenbruchteile vom Filmlicht erfasst, federlose Vögel, hellbraun, rosa, aber blitzende Zähnchen, die ich mir hinzudichte, es geht alles so schnell, dass ich allein Erinnerung wahrnehme, die gestaltet werden kann. Auf der Leinwand uralte riesige Eichen, von welchen Louisiana Moose wehen, wie gefroren. Ein Mädchen sitzt auf einem Ast in großer Höhe, sie trägt ein weißes, knöchellanges Kleid. Auf dem Fluss hinter der Leinwand zieht ein Dampfer vorüber, buntes Glühbirnenlicht, Menschen, die Salsa tanzen. — stop