olimambo : 3.02 — Vor einer Stunde ungefähr, aus heiterem Himmel, erinnerte ich mich an eine Briefmarke, die sich zu einer Zeit in meinem Besitz befunden hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. Diese Marke, obwohl sehr viele Jahre weit von mir entfernt, war so gegenwärtig von einer Sekunde zur anderen, als hätte ich sie wenige Minuten zuvor einem Sammelalbum entnommen und auf einen Luftpostbrief geklebt. Zu Ehren des Schimpansen Ham, der in den Weltraum gereist war, um dort einige Übungen in der Schwerelosigkeit zu absolvieren, war sie in einer begrenzten Auflage gedruckt geworden. Das Besondere an Ham war ohne Frage seine Menschenähnlichkeit gewesen, auch dass Ham, im Gegensatz zu Leica, einer russischen Hundedame, seinen Ausflug in den Kosmos überlebte. Der kleine Briefmarkenaffe trug einen Helm, genau genommen einen weißen Astronautenhelm, der unglücklicherweise von einem Stempel getroffen worden war. In diesem Moment, da ich notiere, erinnere mich an einen Riss, der mein Briefmarkenalbum bedrohte, weil er mit jeder Besichtigung der Sammlung, knisternd wuchs. Einmal habe ich einem Mädchen, in das ich verliebt gewesen war, mein Album mit Riss gezeigt, eine seltsame Erfahrung, weshalb ich das Sammeln der Briefmarken aufgeben habe und mich den Schallplatten zu widmen begann. Dieses Mädchen, das mich von den Briefmarken entfernte, hieß Patrizia und trug sehr kleine blaue Knöpfe in beiden Ohren, die herrlich funkelten, sobald sie sich bewegte. Ja, sie funkelten damals bis in meine Träume hinein und sie funkeln noch heute oder wieder, während ich hier still in einer kühlen Nacht herumsitze und mich wundere, dass ich an Dinge denke, die ich vor einer Stunde noch nicht wusste. — stop
Aus der Wörtersammlung: blau
langustenfliege
india : 6.20 — Frühmorgens im Palmengarten spaziert. Ich ging einhundert Schritte nordwärts, dann zweihundert Schritte südwärts, lag bald in einer Wiese herum und dachte, hier schlafe ich zwei Tage, hier genau an dieser Stelle schlafe ich zwei Tage unterm Zirpgrillenschirm. Wenn man so in einer Wiese liegt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, man kann nicht schlafen, weil man Natur beobachten und sich wundern muss, wie das alles möglich geworden ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreiften Blume ein Liebespaar beobachtet, ein merkwürdiges Gebilde, ein oder zwei Millimeter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr besondere Variante war das gewesen, zwei Haifische [Kopf], zwei Langusten [Schwanz] und zwei Fliegen [Flügel und Beine], delikat ineinander gesetzt, voluminöse Augenpaare auf bewegliche Stäbchen montiert, die sich im Spiel zärtlich betasteten, als ob sich vier sehende Mundwerke küssten. Das alles war sehr schön, auch in der Farbe gestaltet, je ein leuchtend gelber Kopf, zwei feuerrote Brüste und Hinterteile von einem Umbrablau, wie ich es so prächtig noch nie zuvor gesehen habe. Genau dort hatte heftiges Pumpen eingesetzt, während das Flügelwerk schillerte im feinsten Prismenlicht. Seltsam, auch bei diesen sehr kleinen, wilden Wesen war nichts zu hören, nicht das mindeste Geräusch, da war Bewegung, nur Bewegung. Und ich dachte noch, sehr elegant, wie das dort an einem frühen Freitagmorgen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Riesen stören zu lassen. Es ist jetzt 5 Uhr und dreißig Minuten. Es sind Spinnen, die morgens das Nachtwasser von den Wiesen saufen. — stop
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop
libellen
sierra : 3.22 — Heut Nacht sitz ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle eben, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
geraldine : limonade
~ : geraldine
to : louis
subject : LIMONADE
Lieber Mr. Louis, stellen Sie sich vor, heute habe ich einen Vogel gefüttert. Ich lag, wie jeden Tag seit wir New York verlassen haben, auf einer Liege an Deck und habe geschlafen. Als ich meine Augen öffnete, saß eine Möwe vor mir auf der Reling. Ich habe mich vorsichtig aufgesetzt und etwas Brot in die Luft geworfen und die Möwe hat das Brot gefangen und ist sofort weitergeflogen. Seit gestern haben wir viel Wind. Papa kommt immer wieder vorbei und schaut nach mir, aber es geht ihm nicht gut, ihm ist übel und auch Mama liegt im Bett, weil sie beide seekrank sind. Ich glaube, sie wissen jetzt, wie ich mich fühle, immerzu fühle. Sie sehen beide gar nicht gut aus. Mir aber scheinen die hohen Wellen nichts auszumachen, ich sitze oder liege und schaue auf das Meer und hoffe, dass die Sonne nicht untergehen wird, bis wir in Europa sein werden. Die Möwen sind still hier draußen. Vielleicht wird ihr Schreien vom Wind fortgetragen. Ein wirklich kräftiger und kühler Wind, und der junge Kellner, der Stewart, wie man hier sagt, muss sich gegen ihn stemmen, wenn er über das Deck zu mir kommt. Er kennt meinen Namen. Er sagt, Mrs. Geraldine, ich soll mich um Sie kümmern, wollen Sie eine Limonade. Ja, und immer will ich sofort eine Limonade. Sie ist blau, Mr. Louis, noch nie zuvor habe ich blaue Limonade getrunken, sehr süße blaue Limonade, die nach Lakritze schmeckt. Ich sehe gerne seinen Händen zu, wie er die Flasche für mich öffnet, weil ich doch kaum Kraft habe die Flasche selbst zu öffnen. Er hat mir gestern gesagt, Mr. Louis, dass ich schön sei, fast durchsichtig, und dass er sich sehr gerne mit mir unterhalten würde. Sein Blick ist traurig, ich kann nicht sagen, warum er so traurig ist, wenn er mich anschaut. Manchmal schlägt er die Augen nieder, wenn ich ihn ansehe. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht seine Gedanken vor mir verbergen möchte. Ich weiß jetzt, dass ich nicht schreien werde, wenn er mich bald einmal küssen wird. Ich bin so müde, Mr. Louis, ich bin 20 Jahre alt, aber ich bin unendlich müde. Höre auf zu schreiben für heute: Ich grüße Sie herzlich. Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 24.6.2008
22.15 MESZ
blutgefäss
romeo : 0.05 — Einmal, an einem heißen Sommerabend, habe ich eine Stadt durchwandert. Sie lag bereits unterm Nachtzeppelin, weshalb ich nicht sofort bemerkte, dass an der Innenseite meines linken Oberschenkels ein voluminöses Blutgefäß aus der Fassung gesprungen war. Der seltsame Eindruck, während ich spazierte, ein kleines Tier würde mich kosend berühren. Kurz darauf notierten Fahrgäste eines U‑Bahnwagons, ich würde, derart weit geöffnet, vielleicht bald ernsthaften Schaden erleiden. Und tatsächlich, da war ein Schlauch von dunkelblauem Gummi, der nahe meiner Leistengegend unruhig durch die Luft zappelte. Ich konnte seine Bewegung gut erkennen, weil ich, weiß der Himmel warum, insgesamt nicht bekleidet gewesen war. Eine ältere Dame, eine Ärztin, nahm dann Platz in meiner Nähe. Mit bloßen Händen erweiterte sie meinen Schenkel bis hin zum Knie, sodass weitere Schläuche aus dem Oberschenkel fielen, die sie sortierte, während sie gelassen eine Melodie vor sich hin summte. Da waren Strukturen, kein Blut, in gelber, in roter, in grüner, in blauer Farbe. Indem sie an einem der geschmeidigen Röhrchen zog, an einem filigranen Gefäß, nein, an einem hauchdünnen Seilzug, sandfarben, schloss sich das Linke meiner Augen gegen meinen Willen, und die Ärztin lachte und sagte, schau her, wie schön bunt Du doch bist. Wenn ich hier ein wenig ziehen werde, machst Du auch noch das rechte Auge zu. Dann wach. — Heute ist Sonntag, bald wieder Nacht. Geträumt habe ich bereits am Samstag. — stop
pullmann
echo : 0.02 – Im Traum im Pullmanwagen durch eine seltsame Landschaft gereist. Ich stand an einem Fenster. Warmer Wind fuhr mir übers Gesicht, und die Luft duftete nach Zimt und blaue Frösche schwirrten wie Vögel herum. Sie waren blind, weshalb ich hören konnte, wenn sie in den Erdboden rasten oder gegen den Zug, Geräusche, für die auch in dieser frühen Mainacht noch kein angemessenes Wort in meinem Kopf existiert. Einmal fuhr der Zug an einem Fluss entlang. An den Ufern dieses Flusses standen tausende Angelruten in den Boden versenkt. Maschinen zupften die Seile der Ruten, pling : pling : pling. Sie schleuderten Fisch um Fisch an Land, auch Menschen, ganze Menschen oder Arme oder Beine von Menschen. Diese Menschen zappelten, wie die Fische zappelten, und auch die Arme und Beine zappelten im Sand und schnappten vergeblich nach Luft. — stop
edmond jabès
tango : 0.05 — Als würde Regen fallen, so mächtig die Küsse der Fliegen ins Wasser. Irr auch die Falter, die Weißen und die Roten und die Blauen. Und auch die Libellen am Himmel, alle irr von der Liebe. — Wenn der Stein durchsichtig wird oder – genauer – wenn die Durchsichtigkeit Stein wird, lassen sich alle Träume der Erde lesen. Edmond Jabès
polarlicht
echo : 0.02 — In einem Reisebericht notiert Ludwig Hohl : 8 Uhr 30. Meer. — Meer leer. stop. Beobachtungszeit = Belichtungszeit. stop. In der vergangenen Nacht hatte ich wieder einmal den Traum vom Mann geträumt, der vor einem Aquarium sitzt und einen Schwarm dunkelblauer Fische betrachtet. Als ich hinzutrat, hörte ich, dass der Mann mit leiser Stimme Zahlen flüsterte. Ich fragte ihn, was er denn berechnen würde, und der Mann antwortete, dass er die Fische zähle, dass er sich nicht sicher sei, ob es sich bei dem Schwarm blauer Fische, um einen Schwarm aus 1556 oder aus 1557 Einzelpersonen handele. stop. Ist das wilde Spiel der Polarlichter am Himmel aus einer Tiefe von 70 Metern unter der Meeresoberfläche vor Neufundland noch zu erkennen? — stop
wordpress
echo : 7.15 – Habe ich schon erzählt, dass das Licht des Tages im Zimmer, in dem ich schlafe, als sanftes, schattiges Leuchten erscheint, orangefarben zur Decke hin und in der Höhe meines Bettes in einem tiefen Blau? — Südliches Licht. — Das Licht italienischer Mittagsstunden. — Halbwegs träumend immer wieder durch die Wohnung. Einmal finde ich mich in der Küche wieder, wie ich um 10 Uhr zu nachtschlafender Zeit Kaffee zubereitete. Auch heute ist wieder 10 Uhr geworden und vielleicht schlafe ich in diesem Moment tief und fest oder hoffe, bald tief und fest zu schlafen, während dieser Text von meinem WordPress-Programm freigelassen wird. — stop