Aus der Wörtersammlung: denken

///

mr. blankfeins schweigen

pic

bamako : 6.45 — In der 37. Minu­te einer Film­do­ku­men­ta­ti­on, die von den Struk­tu­ren der Gold­man Sachs Bank erzählt, ereig­ne­te sich etwas sehr Merk­wür­di­ges. Lloyd Blank­fi­ne, Vor­stands­vor­sit­zen­der genau die­ser Bank, wur­de in einem Fern­seh­in­ter­view befragt. Ein äußerst scharf­zün­gi­ger Red­ner von hel­ler Stim­me, erkun­dig­te sich Mr. Blank­fi­ne zunächst bei dem Mode­ra­tor der Sen­dung, wie oft er ihn, Blank­fi­ne, im Fern­se­hen gese­hen habe? Nie! Wis­sen Sie was. Das war ver­mut­lich ein Feh­ler. Wir müs­sen uns jetzt bemü­hen, den Leu­ten zu erklä­ren, was wir tun. Sofort spitz­te sich die Lage zu. Der Mode­ra­tor der Sen­dung, der Mr. Blank­fi­ne unmit­tel­bar gegen­über­saß, parier­te mit­tels einer wei­te­ren Fra­ge, die der Ban­ker so nicht erwar­tet haben mag. Er for­mu­lier­te prä­zi­se: Ist es vor­ge­kom­men, dass ihre Invest­ment-Bera­ter einem Kun­den Anla­gen ver­kauft haben, gegen die Gold­man zur sel­ben Zeit spe­ku­lier­te? Nun geschah Fol­gen­des: Mr. Blankfine’s Augen wei­te­ten sich, er senk­te sei­nen Blick, setz­te zu einer Ant­wort an, ein Geräusch war zu hören, der Teil eines nicht erkenn­ba­ren Wor­tes, sein Mund stand leicht offen, er schwieg, er schwieg sehr gründ­lich, sie­ben Sekun­den lang, für eine übli­cher­wei­se äußerst schnell spre­chen­de und den­ken­de Per­son, die sich unter öffent­li­cher Beob­ach­tung weiß, ein bedeu­ten­der Zeit­raum. Ich habe die­se Sen­tenz des Gesprä­ches mehr­fach vor und zurück­ge­spielt, da mir Lloyd Blank­fi­ne in jenem Moment eine außer­or­dent­lich authen­ti­sche Per­sön­lich­keit gewe­sen zu sein schien. Ein Mensch, der nach ein­zel­nen Wör­tern such­te, nach einem ange­mes­se­nen Gedan­ken in sei­nem Kopf, weil sich bis­lang dort Sät­ze for­mu­lier­ten, die so auf­rich­tig waren, dass Mr. Blank­fi­ne sie nicht aus­spre­chen durf­te, um nicht für immer Scha­den zu neh­men, er selbst nicht und sei­ne Bank nicht. Ich beob­ach­te­te sein Gesicht. Drei­fach war Lid­schlag zu erken­nen, sei­ne Aug­äp­fel erweck­ten den Ein­druck, als wür­den sie wach­sen unter dem Druck eines Bli­ckes, der nicht ent­schei­den konn­te, ob er sich nach innen oder nach außen rich­ten soll­te, wäh­rend unge­heu­re, vor­be­wuss­te Rechen­leis­tung ent­fes­selt war, um viel­leicht doch einen Aus­weg zu fin­den. — stop
ping

///

funkstille

2

marim­ba

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : FUNKSTILLE
date : oct 17 12 8.15 p.m.

Ja, war­um ant­wor­ten Sie denn nicht, ver­dammt, wenn wir ihnen schrei­ben? Rom. Das ist doch kein Grund, sich nicht zu mel­den. Kaum aus­zu­den­ken, wenn wir das so machen wür­den wie Sie. Fran­kie haben wir jeden­falls wie­der­ge­fun­den. Fünf Tage war er nicht zu fin­den gewe­sen, kein Signal, kein Fran­kie im Cen­tral Park, wie vom Erd­bo­den ver­schluckt. Man stel­le sich das ein­mal vor, wir wür­den Frankie’s Spur ver­lo­ren haben, wenn es ein­mal wirk­lich ernst gewor­den ist. Wir dach­ten, die Brenn­stoff­zel­len sei­nes Sen­ders könn­ten aus­ge­fal­len sein. Es war an einem Sams­tag, da war Fran­kie plötz­lich fort, Höhe 76. Stra­ße. Gera­de noch kau­er­te er neben einer Eiche. Wir waren müde, glau­be ich, es war Abend, wir saßen in Sicht­wei­te auf einer Bank, viel­leicht sind wir kurz ein­ge­schla­fen. Natür­lich haben wir sofort die Suche nach Fran­kie auf­ge­nom­men. Haben jede Unter­füh­rung geprüft und jedes der Abfluss­roh­re, die Fran­kie zum Ver­häng­nis gewor­den sein könn­ten. Grau­en­vol­le Tage, wir irr­ten ziel­los her­um. Jedes Eich­hörn­chen, dem wir uns näher­ten, konn­te Fran­kie gewe­sen sein. Das war ein Alb­traum, eine  unge­heu­re Sache, wie ähn­lich sie sich doch sind. Matt wur­de mehr­fach in die Hand gebis­sen, wir tra­gen jetzt Leder­hand­schu­he. Und dann kam Fran­kie zurück. Es war wie­der Abend gewor­den und Fran­kie tauch­te genau dort, wo wir ihn ver­lo­ren hat­ten, wie­der auf. Lang­sam kam er auf uns zu, sein Schwanz zit­ter­te, sein fes­ter Kör­per beb­te, er mach­te den Ein­druck, als woll­te er uns begrü­ßen. So nah kam er her­an, dass wir ihn berüh­ren konn­ten. Ich habe mir gedacht, dass Fran­kie ver­dammt genau den Ein­druck mach­te, als hät­te er nach uns gesucht wie wir nach ihm, und dass er froh gewe­sen war, uns end­lich gefun­den zu haben. Das ist schon eine selt­sa­me Geschich­te. Gera­de sitzt Fran­kie auf einer Bank neben uns. Er knackt Erd­nüs­se, die wir im schenk­ten. Eine Art Bestechung viel­leicht. Der Sen­der piepst. Alles scheint wie­der in Ord­nung zu sein. Ihr Mal­colm – stop / code­wort : lilienthal

emp­fan­gen am
18.10.2012
1512 zeichen

mal­colm to louis »

ping

///

von den vasentieren

pic

tan­go : 3.15 — Tage­lang habe ich über­legt, ob es sinn­voll ist, über die Exis­tenz der Vasen­tie­re wei­ter nach­zu­den­ken. In die­sem Dis­kurs mit mir selbst, haben mei­ne Vor­stel­lun­gen über das Wesen und die Gestalt der Vasen­tie­re, indes­sen wei­ter an Prä­zi­si­on zuge­nom­men, ohne dass ich das zunächst bemerk­te. Ein­mal war­te­te ich an einer Ampel unter einer Kas­ta­nie. Es war frü­her Abend und ich nutz­te die­se Situa­ti­on des Inne­hal­tens, um mir vor­zu­stel­len, wie es sein könn­te, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigent­lich nicht not­wen­dig gewe­sen war, Vasen­tie­re dür­fen atmen, Vasen­tie­re müs­sen atmen, und ver­such­te mich so wenig wie mög­lich zu bewe­gen, eine inne­re fes­te Struk­tur aus­zu­bil­den, sagen wir, eben eine Art Behäl­ter zu sein. Das ist gut gelun­gen, auch nach­dem ich von einer Kas­ta­nie auf den Kopf getrof­fen wor­den war, beweg­te ich mich nicht. In die­sem Moment wur­de statt­des­sen deut­lich, dass Vasen­tie­re nie­mals flüch­ten, weil sie nicht flüch­ten wol­len und weil sie nicht flüch­ten kön­nen, ihnen feh­len Füße und Bei­ne. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer orga­ni­schen Kon­struk­ti­on her begabt, For­men nach­zu­ah­men, die geeig­net sind, tie­fe­re Gewäs­ser in sich aus­zu­bil­den, das ist nicht ver­han­del­bar. Auch nicht, dass sie das Was­ser zur Ver­sor­gung der Pflan­zen, wel­chen sie Her­ber­ge bie­ten, aus der Luft ent­neh­men, sei sie noch so tro­cken. Mög­lich ist, dass Vasen­tie­re, die in der Lage sind, mit­tels ihrer Gedan­ken Bewe­gung zu for­mu­lie­ren, eher unglück­li­che Wesen sein wer­den, dar­an soll­te man unbe­dingt den­ken, ehe man sich an die Ver­wirk­li­chung der Vasen­tie­re machen wird. — stop

///

contergan

9

lima : 10.27 — Die Arme mei­ner Cou­si­ne sind kurz, an ihren Hän­den feh­len die Dau­men. Als ich noch ein Kind gewe­sen war, beob­ach­te­te ich gern ihre Füße, die sich beweg­ten, als wären sie nicht Füße, son­dern Hän­de. Man kann mit den Füßen malen, das wuss­te ich schon immer, und man kann mit den Füßen in Büchern blät­tern und einen Löf­fel zum Mun­de füh­ren, man kann auf Füßen gehen und man kann sich mit den Füßen die Haa­re käm­men. Je nach­dem, von wel­chem Stand­punkt aus man das betrach­tet, ist das selt­sam oder eben nicht. Mei­ne Cou­si­ne mach­te die Erfah­rung, dass man sie ver­steck­te, wenn Besu­cher zu ihrer Fami­lie nach Hau­se kamen. Ich selbst dage­gen wur­de geru­fen, damit ich betrach­tet wer­den konn­te. Mein Gott, ist er doch wie­der kräf­tig gewach­sen, der klei­ne Kerl! Er heißt Andre­as, nichts wei­ter. Mei­ne Cou­si­ne heißt Lil­li, und sie heißt noch das Wort Con­ter­gan dazu, weil das vie­le Men­schen sofort den­ken, wenn sie die Male­rin Lil­li Eben sehen. Da kann man nichts machen. Wenn etwas anders ist an einem Men­schen, wenn etwas zu viel ist oder fehlt, dann bekommt das Feh­len­de oder das Zusätz­li­che einen Namen, der ein Leben beglei­tet, wie das mei­ner Cou­si­ne, die eine star­ke Per­sön­lich­keit gewor­den ist. Aber die Hän­de und der Rücken tun außer­or­dent­lich weh mit dem Alter, und auch die Zäh­ne tun weh, weil sie so viel mit den Zäh­nen machen muss­te in ihrem Leben. Eine ein­zi­ge klei­ne Tablet­te, nicht wahr, die ihre Mut­ter, mei­ne Tan­te, zu sich genom­men hat­te zu einer Zeit, da sie noch nicht wuss­te, dass sie schwan­ger gewe­sen war. Tau­sen­de Tote. Zehn­tau­sen­de Men­schen mit einem oder meh­re­ren Han­di­caps. Am ver­gan­ge­nen Frei­tag wur­de von dem Geschäfts­füh­rer der Fir­ma Grü­nen­thal der Ver­such einer Ent­schul­di­gung unter­nom­men, ohne wei­ter­füh­ren­de Ver­ant­wor­tung über­neh­men zu wol­len. Er sag­te: Wir bit­ten um Ent­schul­di­gung, dass wir fast 50 Jah­re lang nicht den Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefun­den haben. Wir bit­ten Sie, unse­re lan­ge Sprach­lo­sig­keit als Zei­chen der stum­men Erschüt­te­rung zu sehen, die Ihr Schick­sal bei uns bewirkt hat. — stop

///

PRÄPARIERSAAL : xiangs momentaufnahme

pic

nord­pol : 8.27 — Xiang, 24, notiert in einer E‑Mail über Musik und Ana­to­mie – zwei Begrif­fe, die auf den ers­ten Blick unver­ein­bar schei­nen. Aber je län­ger ich dar­über nach­den­ke, des­to deut­li­cher erken­ne ich eine mög­li­che Ver­bin­dung. Sicher ist es das The­ma des Todes, dass die Musik dort domi­nie­ren wür­de, sodass mir spon­tan Beset­zun­gen wie Orgel (all­mäch­ti­ger Cha­rak­ter), Xylo­fon (Käl­te, Leb­lo­sig­keit) oder Chor (Toten­kla­ge) ein­fal­len. Ich kann mir ent­we­der sehr alte Musik­sti­le, wie Gre­go­ria­nik und Früh­ba­rock, oder Musik des 20./21. Jahr­hun­derts vor­stel­len, z. B. John Cage oder Geor­ge Crumb, deren Inten­ti­on immer­hin gera­de in einer gewis­sen Absur­di­tät, Grenz­über­schrei­tung, bzw. in gewoll­ter Ent­fer­nung von der Ästhe­tik der Wirk­lich­keit zu fin­den ist. Gera­de die­ses Moment prägt die Atmo­sphä­re des Prä­pa­rier­saa­les: eine zwar arti­fi­zi­el­le, jedoch nicht pri­mär ästhe­ti­sche Arbeit an mensch­li­chen Kör­pern, die durch den Tod und den Vor­gang des Halt­bar-Machens von einem Indi­vi­du­um zu einem Prä­pa­rat ver­wan­delt wur­den, sodass Zeit­lo­sig­keit an die Stel­le dyna­mi­schen Lebens getre­ten ist. Es ist nicht leicht an Musik in die­sem Zusam­men­hang zu den­ken, da sich Musik gera­de durch ihren ewi­gen Fluss, ihre im Inne­ren gebor­ge­ne Leben­dig­keit aus­zeich­net, ihre See­le, die nie­mals ster­ben kann, selbst dann nicht, wenn noch so vie­le Ver­su­che unter­nom­men wer­den, sie in Moment­auf­nah­men zu kon­ser­vie­ren. — stop

ping

///

abend : morgen

pic

char­lie : 5.08 — Ein Ohr gegen den Him­mel, das ande­re Ohr gegen die Erde gerich­tet, lie­ge ich in einer Wie­se und höre Grä­sern und sehr klei­nen Tie­ren zu, wie sie sich auf die Nacht vor­be­rei­ten. Es ist frü­her Abend. Ich war­te, dass es dun­kel wird, ein War­ten vol­ler Freu­de, nichts ist zu tun, als der gro­ßen Welt am Him­mel und der klei­nen Welt unter mir zuzu­hö­ren. Es ist selt­sam, je glück­li­cher ich bin, des­to beweg­li­cher kann ich den­ken. So beweg­lich bin ich gewor­den, dass ich von Zeit zu Zeit über­haupt auf­hö­re, an irgend­et­was zu den­ken. Und doch bin ich nie­mals abwe­send, son­dern hier und war­te und höre den Grä­sern zu und atme und hal­te etwas Papier fest in der Hand. 1 X schla­fe ich kurz ein. Plötz­lich ist Mor­gen. Vögel pfei­fen. Licht fällt in klei­nen Pake­ten vom Him­mel. Alle Wör­ter, sobald ich sie anhal­te, wer­den zu einem Geräusch. — stop

///

doppellunge

14

 

 

del­ta

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : DOPPELLUNGE

Heu­te, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, als ich im Park spa­zier­te, hab ich an Euch gedacht. Das war näm­lich so gewe­sen, dass ich wie­der ein­mal übte, im Wan­dern die Luft anzu­hal­ten. Ich ver­such­te 100 Meter weit zu kom­men, lang­sam, sehr lang­sam, dann etwas schnel­ler gehend. Es ist mög­lich, heu­te end­lich ist es mög­lich gewor­den. Plötz­lich frag­te ich mich, wel­che Wir­kun­gen die Übung des Luft­an­hal­tens bei Euch frü­her ein­mal gezei­tigt haben könn­te. Ich über­leg­te, ob ihr Euch über das Luft­an­hal­ten ver­stän­digt haben wür­det. Es ist immer­hin denk­bar, dass das Anhal­ten der Luft in Eue­rem Fal­le, bei der einen wie der ande­ren eine gewis­se Kurz­at­mig­keit her­vor­ge­ru­fen haben müss­te. Viel­leicht wer­det Ihr Euch erin­nern? Wenn ja, dann gebt mir recht bald Bescheid. Ich arbei­te zur­zeit sehr hart in die­sen Din­gen. Vor eini­gen Tagen habe ich mir eine Pas­sa­ge der Klei­nen Erin­ne­run­gen José Saramago’s laut vor­ge­le­sen, und zwar in der Art und Wei­se lang­sa­men Aus­at­mens. Das ist fol­gen­der­ma­ßen vor­zu­stel­len: Ich fass­te das ers­te Wort der ers­ten Zei­le des klei­nen Tex­tes ins Auge, schöpf­te Luft so tief ich konn­te und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manch­mal fra­ge ich mich, ob bestimm­te Erin­ne­run­gen wirk­lich mei­ne eige­nen sind oder viel­leicht eher frem­de, in denen ich unbe­wusst mit­ge­spielt habe. Ich las so lan­ge ich konn­te, ich las, ohne zu atmen, ich las, bis ich alle Luft ver­lo­ren hat­te. Im ers­ten Ver­such kam ich 11 Zei­len weit. Das war natür­lich nicht befrie­di­gend. Also setz­te ich noch ein­mal von vorn an, ich hat­te eine ent­spann­te Posi­ti­on des Sit­zens ein­ge­nom­men und füll­te mei­ne Brust mit Luft und begann zu spre­chen. Die­ses Mal las ich mit lei­ser Stim­me, wie geflüs­tert. Ich kam exakt 1 Zei­le, also 55 Zei­chen wei­ter. Kurz dar­auf war zu beob­ach­ten gewe­sen, wie ich mich rück­lings auf mein Sofa leg­te und den­sel­ben Text noch ein­mal hauch­te. Das lie­gen­de atem­lo­se Lesen ermög­lich­te nun eine wei­te­re Zei­le a 55 Zei­chen. Ich mach­te also klei­ne Fort­schrit­te in die­ser Kunst des Lesens, ich ver­moch­te bald die Zei­le 14 des klei­nen Tex­tes zu errei­chen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mit­den­ken konn­te. Nach einer Stun­de des Übens hör­te ich für die­se Nacht auf, um in der kom­men­den Nacht­zeit fort­zu­fah­ren. — Herz­lichst grüßt Euch Euer Lou­is. Ahoi! – stop

gesen­det am
10.07.2012
22.01 MESZ
2252 zeichen

lou­is to dai­sy and violet »

ping

///

bienenkönigin

9

tama­rin : 6.41 — Eine Urkun­de exis­tiert seit eini­gen Wochen, die bezeugt, dass der Kör­per mei­nes ver­stor­be­nen Vaters tat­säch­lich ver­brannt wur­de. Dort ist in groß­zü­gi­gen Buch­sta­ben alt­deut­scher Schrift ver­merkt, wann die Ver­bren­nung erfolg­te, Jahr, Tag, Stun­de. Die Dau­er des Ver­bren­nungs­vor­gan­ges wur­de auf eine Minu­te genau ange­zeigt. Ich dach­te zunächst, Irgend­je­mand muss sich an einer Uhr ori­en­tiert haben, weil viel­leicht eine Vor­schrift exis­tiert, die prä­zi­se Zeit­an­ga­ben erfor­dert. Nach der Ver­bren­nung, auch das ist nach­weis­bar so gesche­hen, wur­de ein Gefäß, in dem Ato­me mei­nes Vaters ent­hal­ten waren, auf den Post­weg gebracht. Das ist eine durch­aus mög­li­che Metho­de letz­ter Rei­sen, da allein Sen­dun­gen, die leben­de Tie­re oder sterb­li­che Über­res­te von Men­schen ent­hal­ten, vom Trans­port auf dem Post­weg aus­ge­schlos­sen sind. Aus­ge­nom­men von die­ser Vor­schrift: Urnen und wir­bel­lo­se Tie­re, wie Bie­nen­kö­ni­gin­nen und Fut­ter­in­sek­ten. Selt­sa­me Geschich­te. Ich muss dar­über nach­den­ken, obwohl ich im Moment noch nicht weiß, wor­über genau und war­um. — stop

///

eine geschichte die mein vater einmal las

9

nord­pol : 6.46 — An einem Sonn­tag neu­lich habe ich in Tex­ten gele­sen, die ich wäh­rend der ver­gan­ge­nen Jah­re an genau die­ser Stel­le sen­de­te. Man­che die­ser Tex­te waren mir ver­traut, ande­re wirk­ten, als wären sie von einem Frem­den geschrie­ben. Gemein war ihnen, dass mein Vater sie noch mit eige­nen Augen gele­sen haben könn­te. Wie der alte Mann zu sei­nem Com­pu­ter wan­dert. Wie er auf einer Trep­pe steht, Rede an sein lin­kes Bein: Beweg Dich! Ein­mal rief mein Vater mich an. Ein Text hat­te ihm gefal­len. Es ist eigen­ar­tig, der Text, der mei­nem Vater gefal­len hat­te, erzählt heu­te noch immer die­sel­be Geschich­te und doch ist alles ganz anders gewor­den. Ich hat­te Fol­gen­des notiert: Man stel­le sich ein­mal vor, Papier­tier­chen exis­tier­ten in unse­rer Welt. Nicht etwa Tier­chen, die aus Papier gemacht sind oder ver­gleich­ba­rer Ware, son­dern tat­säch­li­che Lebe­we­sen, die so aus­ge­dacht sind, dass sie sich zu For­men ver­sam­meln, die einer Papier­sei­te ähn­lich sind. Weil die­se Lebe­we­sen, wie ich sie mir gera­de male, sehr klein sein soll­ten, sagen wir in der Flä­che so groß wie die Spit­ze einer Nadel, wür­de ein Maschi­nen­bo­gen von nicht weni­ger als zwei Mil­lio­nen Indi­vi­du­en nach­ge­bil­det sein. Jedes Papier­tier­chen, sicht­bar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikro­skops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier wei­te­ren Tier­chen, die es schon immer kennt, mit­tels feins­ter Ten­ta­keln zu ver­bin­den oder zu befreun­den, und zwar nur mit die­sen, so dass man von ein­deu­ti­ger Ord­nung spre­chen könn­te, nicht von einer belie­bi­gen Anord­nung. Ja, jedes der klei­nen Wesen für sich spricht von einem urei­ge­nen Ort, den es nie­mals ver­gisst. Sobald alles schön zu einer Sei­te geord­net ist, wer­den mit Licht, mit einem Licht­stift genau­er, Zei­chen gesetzt auf das leben­de Papier, indem man leich­ter Hand wie mit einem Fül­ler schreibt. Wird ein schnee­wei­ßes Tier­chen berührt vom notie­ren­den Licht, nimmt es sogleich die schwar­ze Far­be an und ver­bleibt von die­sem Schwarz, bis es von wei­te­rem Licht berührt wer­den könn­te, einem Licht natür­lich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lam­pe das Zei­chen der Nacht sofort über die Land­schaft der fili­gra­nen Kör­per schrei­ben wür­de. Ich hat­te, wäh­rend ich die­sem Gedan­ken noch auf einer gewöhn­li­chen Com­pu­ter­schreib­ma­schi­ne folg­te, die Idee, dass sie viel­leicht alle sehr schreck­haft sind, also zunächst unvoll­kom­men oder wild, dass sie, zum Bei­spiel, wenn ein Feu­er­wehr­au­to in ihrer Nähe vor­über kom­men soll­te, sofort aus­ein­an­der flie­gen in Panik, sich ver­ste­cken, um jedes für sich oder in grö­ße­ren Grup­pen an den Wän­den mei­ner Zim­mer zu sit­zen. Viel­leicht lun­gern sie auch auf Kaf­fee­tas­sen her­um oder in den Haar­blät­tern eines Ele­fan­ten­fuß­bau­mes, ja, das ist sehr gut denk­bar. Ich wer­de dann war­ten, ruhig und gelas­sen war­ten, bis sie sich wie­der beru­higt haben wer­den und zurück­kom­men, sagen wir nach einer Stun­de oder zwei. Dann wei­ter schrei­ben oder lesen oder den­ken. Und jetzt habe ich einen Kno­ten im Kopf. — stop

///

eiszimmer

9

sier­ra : 6.52 — Vor eini­gen Tagen habe ich einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich kann mit Fug und Recht behaup­ten, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, woll­te ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­eis­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen, man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. — stop
ping



ping

ping