Aus der Wörtersammlung: eigentlich

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matrjoschka

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echo : 6.52 — Weit bin ich in der Beweg­lich­keit mei­nes Ellen­bo­gen­ge­len­kes gekom­men. Ich ver­mag ein Glas Was­ser zum Mund zu füh­ren, in einem Buch zu blät­tern oder auf einer mei­ner elek­tri­schen Schreib­ma­schi­nen zu schrei­ben. Auch ein fes­ter Hän­de­druck ist wie­der mög­lich gewor­den, wenn­gleich noch schmerz­haft. Ges­tern nun näher­te ich mich mit mei­nem rech­ten Dau­men mei­ner rech­ten Schul­ter so weit an, dass ich mein­te, sie bereits spü­ren zu kön­nen, mei­ne Schul­ter also an der Haut mei­nes Dau­mens und umge­kehrt. Eine äußerst lang­sa­me, sagen wir, behut­sa­me Annä­he­rung. Ein Nach­ge­ben Mil­li­me­ter für Mil­li­me­ter jenes klei­ne­ren Matrjosch­ka­ar­mes, der mei­nen eigent­li­chen Arm seit Mona­ten zu bewoh­nen scheint, eigen­sin­ni­ges Wesen, Wesen wie für sich, das noch fest­hal­ten will an einer Ges­te des Schut­zes, wei­ter­exis­tie­ren in einem Win­kel von 90°. Mein schnur­ren­der, mein sich räus­pern­der Arm. Es knis­tert unter der Haut auch dann, wenn ich mich nicht bewe­ge, als ob der eine Arm mit dem ande­ren Arm lei­se ver­han­del­te. – Diens­tag, noch Nacht. War­mer Regen vom Nebel­him­mel. Und Jazz, und Jazz von New Jer­sey her. Art Tat­um. März 1946. TIGER RAG. Guten Mor­gen. — stop

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sonar

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sier­ra : 11.28 — Im Den­ken von Zeit zu Zeit laut und deut­lich aus­ge­spro­che­ne Wör­ter: Das ist unglaub­lich, nein, fan­gen wir noch ein­mal von vorn an, was habe ich zunächst gedacht? — Hör­ba­re Sät­ze. Atol­le. — Ich über­leg­te, wie viel Zeit von einem Gedan­ken zum nächs­ten Gedan­ken ver­geht, und was in die­ser Zeit, die ich ohne einen Gedan­ken zu ver­brin­gen mei­ne, eigent­lich geschieht. Ein selt­sa­mes Gefühl, die Vor­stel­lung der Gedan­ken­stil­le. Eine Besich­ti­gung der Luft. War­ten. Lau­schen. — stop

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körpergeräusch

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echo : 18.25 — Hat­te gera­de noch von einem schnar­ren­den Geräusch erzählt, das mei­nem Arm ent­kommt, sobald ich ihn hori­zon­tal bewe­ge, um zur Geschmei­dig­keit zu über­re­den. Ein Ras­peln, das ich spü­re und höre zur sel­ben Zeit. Ich leg­te den Tele­fon­hö­rer zur Sei­te. Genau in die­sem Moment war das Geräusch, von dem ich einem weit ent­fern­ten Men­schen berich­tet hat­te, wie­der im Raum gewe­sen, als ob es sich behaup­ten woll­te, bewei­sen, bestä­ti­gen, dass es tat­säch­lich exis­tiert. Ich über­leg­te, ob das Schnar­ren in mei­nem Arm vor­über­ge­hen­der Natur oder doch eher dau­er­haft sein könn­te, sagen wir, für immer, zeit mei­nes Lebens ein Ras­peln, ein Knar­zen, sehr lei­se, eigent­lich nur hör­bar in der Stil­le bei Bewe­gung. Sturm vor den Fens­tern. Regen knis­tert an den Schei­ben. Ich ent­de­cke in die­sen Minu­ten, dass ich Geräu­sche, die in mei­nem Kör­per unter der Haut sich ereig­nen, auch dann zu hören ver­mag, wenn ich sie nicht hören kann, weil sie zu lei­se sind in einer Regen­wind­um­ge­bung. Es knirscht die Erin­ne­rung an ein Geräusch, oder ich höre, – das ist denk­bar -, das Geräusch durch mei­nen Kör­per wan­dern. — stop

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polartrompete

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gink­go : 6.55 — Eine Käfer­ge­stalt, die glei­cher­ma­ßen die Eigen­schaf­ten eines Trom­pe­ten­kä­fers wie die Eigen­schaf­ten eines Polar­kä­fers in sich ver­ei­ni­gen wür­de, ein Käfer dem­zu­fol­ge, der Trom­pe­ten­ge­räu­sche von sich zu geben in der Lage wäre einer­seits, ander­seits sich vom Licht der Son­ne ernähr­te, von feins­ten Stäu­ben der Luft und vom gefro­re­nen Was­ser zu sei­nen Füßen. Die­se Per­sön­lich­keit wäre das ers­te Wesen sei­ner Gat­tung, die ant­ark­ti­sche Land­schaft bewohn­te, ein Käfer feins­ter Musik. Er wür­de ver­mut­lich Geräu­sche der Eis­stür­me nach­emp­fin­den, wür­de sich mit Horn­fü­ßen in den Boden stem­men, wür­de das erin­ner­te Sau­sen pola­rer Nord­win­de mit dem erin­ner­ten Sau­sen pola­rer Süd­win­de ver­quir­len, West und Ostor­ka­ne dar­über pfei­fen, ohne je zu wis­sen, war­um er in die­ser Wei­se han­del­te. Und wenn man nun reis­te? Nun, der Kof­fer eines Trom­pe­ten­kä­fers pola­ren Ursprungs soll­te einer Zigar­ren­kis­te ähn­lich sein. Ich mei­ne die Grö­ße des Kof­fers, in deren gefüt­ter­ter Mit­te eine Ver­tie­fung zu fin­den wäre, den prä­zi­sen Kör­per­li­ni­en des Käfers fol­gend, sodass sich der Käfer dort ein­schmie­gen wür­de, schla­fen, ohne im Kof­fer selbst hin und her zu fal­len. Nicht rot der Samt des Fut­te­rals, son­dern weiß, näm­lich von Schnee gemacht, weil es sich bei dem Rei­se­kof­fer eines Trom­pe­ten­kä­fers pola­ren Ursprungs nicht eigent­lich um eine Zigar­ren­schach­tel han­del­te, viel mehr um einen Rei­se­kühl­schrank in der Gestalt eines höl­zer­nen Behäl­ters für Rauch­wa­ren in läng­li­cher Form. — Ort: Dome A. Posi­ti­on: 80°22’ S 77° 21’E. Tem­pe­ra­tur: — 82,5 °C. – stop

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PRÄPARIERSAAL : skalpell

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tan­go : 8.58 — Lydia, 23, notiert über ihre Erfah­rung eines Prä­pa­rier­saal-zep­pe­lins Fol­gen­des: > Ist Dir das auch auf­ge­fal­len, dass sich wäh­rend des Sezie­rens kaum jemand ver­letz­te? Ich habe mich dar­über immer wie­der gewun­dert. Vor allem dann, wenn ich auf dem Tisch Skal­pel­le und Gewe­be­tei­le lie­gen sah. Ich erin­ne­re mich, dass ich zusam­men­ge­zuckt bin, wenn jemand schrie oder laut lach­te. Ich habe dann gedacht: Jetzt ist es pas­siert. Die­se Skal­pel­le sind sehr scharf. Aber viel­leicht hat die Art und Wei­se, wie wir das Werk­zeug in Hän­den hiel­ten, das Schlimms­te ver­hin­dert. Wir haben aus dem Hand­ge­lenk her­aus gear­bei­tet und nicht mit der Kraft des gan­zen Arms. Fas­zi­nie­rend fand ich, den Brust­korb zu prä­pa­rie­ren; die Lun­ge zu sehen, wie groß sie eigent­lich ist und in wel­chem Bezug sie genau zum Her­zen liegt. Vor allem war es aber span­nend, die Kon­sis­tenz eini­ger Orga­ne oder Organ­tei­le zu erfah­ren. Die Herz­klap­pen sind unglaub­li­che Kon­struk­tio­nen und auch das schwam­m­ähn­li­che Gewe­be der Lun­ge ist anfangs sehr unge­wöhn­lich. Schwie­rig­kei­ten hat­te ich mit kei­ner Regi­on direkt, aber ich war sehr froh gewe­sen, dass die Prä­pa­ra­ti­ons­ar­bei­ten am Kopf meist von ande­ren Stu­den­ten erle­digt wur­den. Ich habe gera­de das Gesicht eines Men­schen als etwas sehr Per­sön­li­ches ange­se­hen. Das Gesicht ist das, was die Indi­vi­dua­li­tät eines Men­schen aus­macht, ein Gesicht zu zer­stö­ren, war für mich eine schwie­ri­ge Situa­ti­on. Alles Gute! – stop
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ein Millionstel Gramm Wort

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tan­go : 16.22 — Mei­ne neue Schreib­ma­schi­ne ist leicht und flach, ihr Atem geht lei­se. So fein ist sie gebaut, dass ich sie unter mei­nem Hemd ver­ber­gen könn­te, nie­mand wür­de sie bemer­ken. Wenn das so wei­ter geht mit dem Leich­ter­wer­den der Maschi­nen, wer­de ich bald Schreib­wer­ke zur Ver­fü­gung haben, die von gerin­ge­rer Schwe­re sind als die Papie­re, die ich mit ihren Zei­chen fül­le. — Wie viel genau wiegt eigent­lich die­ses elek­tri­sche Wort, das gera­de vor mir auf dem Bild­schirm erscheint? L i m a. Wie vie­le Male wird es heu­te oder mor­gen auf wei­te­ren Bild­schir­men auf­ge­ru­fen, wie lan­ge Zeit jeweils sicht­bar sein? Es ist denk­bar, dass das Wort L i m a, das in Euro­pa vor weni­gen Minu­ten ver­zeich­net wur­de, schwe­rer wiegt, sobald es in Aus­tra­li­en auf einem Bild­schirm erscheint, als das­sel­be Wort, wenn wir es in Euro­pa lesen, 1 Mil­li­ons­tel Gramm schwe­rer, sagen wir, um 1 Mil­li­ons­tel Gramm Koh­le schwe­rer und um den Bruch­teil einer Sekun­de. — stop
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mantelstille

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ubu : 15.07 – Vor weni­gen Tagen habe ich einen Spa­zier­gang durch die Stadt unter­nom­men am hell­lich­ten Tag. Alles beweg­te sich, auch die Stra­ßen, Häu­ser, Brü­cken beweg­ten sich unter den Hän­den der Arbei­ter und ihren häm­mern­den Werk­zeu­gen. In einem Park wur­den Bäu­me gefällt, bil­li­ge Jazz­mu­sik in Waren­häu­sern, Stra­ßen­fe­ger trie­ben mit Wind­ma­schi­nen Blät­ter und Papie­re vor sich her, unauf­hör­li­cher Lärm von Ecke zu Ecke. Plötz­lich, so im Gehen, ver­such­te ich mir Stil­le vor­zu­stel­len. Ich dach­te, dass ich, wenn ich den Ein­druck von Stil­le erin­nern könn­te, den Lärm um mich her­um ver­ges­sen könn­te, sozu­sa­gen Nicht­hö­ren, weil das eigent­li­che Echo­ge­räusch des Lärms, das schmerzt, im Kopf ent­steht, ein Geräusch, das ich hoff­te, mit einer Idee von Ruhe umman­teln zu kön­nen. Es gab kein Ent­rin­nen. Ich muss das wei­ter üben. — stop
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PRÄPARIERSAAL : nachtarbeit

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tan­go : 23.15 — Im Regen mit Ton­band­ge­rät unter dem Schirm am See. Sams­tag. August­kas­ta­ni­en fal­len aus den Bäu­men. Auf den Häup­tern der Rot­wan­gen­schild­krö­ten, die sich zu mei­nen Füßen arg­los ver­sam­meln, als lausch­ten sie wie ich Magnet­kopf­stim­men, feuch­te Häub­chen von Ahorn­sa­men. Kaum ein Mensch unter­wegs. Ich dach­te für einen Moment, weiß nicht wie das gekom­men ist, dass ich an die­sem Ort ohne Zeu­gen sofort den Ver­such unter­neh­men könn­te, eine der Schild­krö­ten an ihrem Hals zu packen, sie aus dem Was­ser zu heben, um sie zu Hau­se in der Küche mit einem Mei­ßel zu öff­nen. Auf Por­zel­lan gebet­tet kurz dar­auf ein Rep­ti­li­en­häuf­chen, rosa­far­ben, feins­te Strei­fen Schild­krö­ten­bau­ches, des­sen eigent­li­che Gestalt ich mir hin­ter Pan­zer­häu­ten lie­gend zur­zeit nicht vor­stel­len kann. — 22 Uhr 58. Jani­ne erzählt: > Ich kann mich noch gut dar­an erin­nern, dass ich nachts auf­wach­te und den haar­lo­sen Kopf mei­nes Freun­des vor mir gese­hen habe. Ich erschrak fürch­ter­lich. Ich saß ein paar Minu­ten senk­recht im Bett, dann bin ich auf­ge­stan­den. Wir haben eine sehr schö­ne Küche. Ich habe von Zeit zu Zeit in der Küche kam­piert. Ich habe dort gelernt und manch­mal bin ich mit dem Kopf auf dem Ana­to­mie­at­las ein­ge­schla­fen. Merk­wür­dig, über wie viel Kraft ich doch ver­fü­ge. Ich war beim Tan­zen, zwei­mal wan­dern in den Ber­gen, ich habe gepaukt und ich habe mit dem Skal­pell gear­bei­tet. Ich habe vor­mit­tags und mit­tags und Abend für Abend in der Biblio­thek gele­sen. Und wenn ich nachts in der Küche ein­ge­schla­fen bin, dann waren da plötz­lich sehr schar­fe Bil­der in mei­nem Kopf. Auf­blit­zen­de Foto­gra­fien, die über­fall­ar­tig Angst erzeug­ten. Der geöff­ne­te Mund eines Toten. San­di­ge Zun­gen. Ein hoch auf­ra­gen­der, dun­kel­ro­ter Penis. Das zer­teil­te und gehäu­te­te Gesicht einer alten Frau. Das war nicht geträumt, ich habe die­se Bil­der bei vol­lem Bewusst­sein vor mir gese­hen. Jetzt kom­men sie mich sel­te­ner besu­chen. — stop

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kandinskyraupe

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ulys­ses : 2.08 — Nach hef­ti­gem Gewit­ter­re­gen habe ich einen Kan­din­sky ent­deckt im Park, eine nas­se Rau­pe von so wun­der­ba­rer Zeich­nung, dass ich sie in eine Streich­holz­schach­tel setz­te und mit nach Hau­se genom­men habe. Sie lun­gert jetzt auf mei­nem Schreib­tisch her­um. Der Ein­druck, dass sie nicht sehr begeis­tert ist, sobald ich mich mit einem Fin­ger oder mei­nen Augen nähe­re, viel­leicht wegen mei­nes Anblicks oder weil es eigent­lich dun­kel sein müss­te um die­se Zeit, da doch Nacht gewor­den ist. Dro­hen­de Hal­tung, das heißt, gesenk­ter Kopf, Füh­ler der­art zu mir hin aus­ge­rich­tet, als wären sie Hör­ner eines Stie­res. Ihrem Rücken ent­kom­men vier Quas­ten von gel­ber Far­be senk­recht einer leder­nen Haut, die dun­kel ist und zart liniert wie die Hand­flä­chen eines Berg­go­ril­las. Zar­tes­te Federn, sie blü­hen feu­er­far­ben an den Flan­ken des Tie­res, aber grü­ne, sehr kur­ze Bei­ne, acht links, acht rechts. Manch­mal fällt die Kan­din­sky­rau­pe um. Sie liegt dann recht flach auf der Sei­te zur Schne­cken­zeich­nung gewor­den. Ob ich sie mit etwas Bana­ne an mich gewöh­nen könn­te? Oder mit Cole Por­ter viel­leicht? Zwei Stun­den Cole Por­ter, das soll­te genü­gen. – stop
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leben

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kili­man­dscha­ro : 6.45 — Ich lebe sehr gern. Und manch­mal kommt einem vor, dass das gan­ze Leben, das man hin­ter sich hat, eigent­lich kein Jam­mer­tal war. Obwohl es natür­lich schlim­me Punk­te gege­ben hat. Aber im Gro­ßen gese­hen ist die Welt für mich eigent­lich immer schön gewe­sen. Und ich hab immer gern gelebt und ich leb jetzt auch noch sehr gern. Es hat sich die Form im Lau­fe der Jahr­zehn­te total ver­än­dert. Aber das Rasen und Rotie­ren im Kopf, das ist gleich geblie­ben. / Auf der einen Sei­te bin ich also lebens­süch­tig kann man fast sagen, und auf der ande­ren Sei­te bin ich ein gro­ßer Melan­cho­li­ker, von mei­ner Mut­ter. Aber das geht gut zusam­men. / Mit dem Schrei­ben kämp­fe ich eigent­lich gegen den Tod. Ich has­se ja den Tod. Und ich möch­te alles machen, nur damit ich da nicht bald hin­ein­fal­le in die­se Gru­be, in die­se schreck­li­che. — Frie­de­ri­ke May­rö­cker in einem Film­por­trait von Lat­ja Gasser
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