delta : 0.02 — Auf dem Broadway wanderte eine Karawane menschlicher Träger südwärts. Ich folgte dieser merkwürdigen Erscheinung von der 30. bis zur 8. Straße an einem windigen Tag. Die Sonne leuchtete tief vom Hudson her, Staub war in der Luft, die Männer, die sich sehr langsam bewegten, husteten und niesten. Sie waren alle sehr ordentlich gekleidet, Anzüge von dunkelgrauer Farbe und Krawatten in unterschiedlicher Musterung. Außerdem trugen sie fingerbreite Schilder über ihren Herzen von japanischen Schriftzeichen besetzt. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, weil die Männer nicht miteinander sprachen. Sie bildeten eine linienförmige Einheit, einer der Träger führte diese Linie an, er war sozusagen ihr Kopf. Sobald dieser Mann nun eine Kreuzung erreichte, blieb er stehen und wartete, bis die Ampel der Kreuzung zunächst rot wurde und dann wieder grün. Ein Mann stand jetzt exakt hinter dem anderen, in dem sie sehr geschickt ihren Ballast auf ihren Köpfen balancierten, jeder Träger einen Karton. Indessen schien die Karawane der grauen Männer jenen Menschen, die mit oder gegen ihre Laufrichtung über die Straßen eilten, nicht besonders aufzufallen. Für einen Moment hatte ich die Idee, sie wären vielleicht unsichtbar, genauer, sie wären nur für mich sichtbar gewesen, reiner Unsinn natürlich, weil der Raum, den die Karawane auf Gehwegen und Straße eingenommen hatte, respektiert wurde. Etwa drei Kilometer liefen sie so ruckweise südwärts dahin, um dann in der 8. Straße in einem Backsteinhaus zu verschwinden. Ende der Geschichte einer Beobachtung. Es ist Montag. In den Kastanien vor dem Fenster das Summen der Nachtbienen. – stop
Aus der Wörtersammlung: falle
posaune
india : 0.28 — Ich habe vor wenigen Minuten mittels eines Filmdokuments den Posaunisten Fred Wesley solange beobachtet, bis ich der festen Überzeugung sein konnte, die Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert, um auf ihm Musik zu machen. Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, vor einem Mikrofon verharrt. Seit Monaten habe ich den Verdacht, dass der alte Posaunist außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten vermag. Ich werde deshalb sofort, in dieser Nacht noch, eine E‑Mail verfassen und mich erkundigen, ob ich mit meiner Vermutung recht haben könnte. Sehr geehrter Mr. Wesley, so vielleicht sollte ich beginnen, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich in meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop
libellen
sierra : 0.02 — Dass ich gut denken und erfinden kann, sobald ich Libellen beobachte. Das ist möglicherweise so, weil Libellen sich in der Art und Weise der Gedanken selbst bewegen. Sie scheinen lange Zeit still in der Luft zu stehen und sind doch am Leben, was man daran erkennen kann, dass sie nicht zu Boden fallen. Etwas Zeit vergeht, wie immer. Und plötzlich haben sich die feinen Libellenraubtiere weiterbewegt. Sie sind von einer Sekunde zur nächsten Sekunde an einem anderen Ort angekommen. Genau so scheint es mit Gedanken zu sein. Sie springen weiter und machen neue Gedanken, ohne dass der Weg von da nach dort sichtbar oder spürbar geworden wäre. — stop
tiefsee : 38. etage
himalaya : 0.08 — Heftige Gewitter. Regengeräusche auf dem Dach. Gehe auf und ab und lese oder sitze im Sessel, der sich nordwärts zu bewegen scheint. Auf meinem Sekretär, wenige Meter entfernt, leuchtet der Bildschirm eines handlichen Computers. Hunderttausende Wörter und ihre Übersetzungen befinden sich im kleinen Kasten. Running luster. Gegen drei Uhr die Lektüre Pete L. Munki’s Roman Nautilus wieder aufgenommen. Eine sich äußerst langsam vorwärts erzählende Bewegung. Die Geschichte eines Mannes, der einen Koffer in den 38. Stock eines Wohnhauses wuchtet. Alle Aufzüge des Hauses sind seit Tagen ausgefallen. Es ist Samstag. Hochsommer. Lexington Avenue Ecke 58. Straße. Im Koffer des Mannes ein Glasbehälter, in welchem zwei lebende Tiefseefische sitzen. Folge eine Stunde lang dem Gespräch des Kofferträgers mit sich selbst. Ein leises Buch, ein Buch wie geflüstert. — stop
von den glücksgeräuschen der froschvögel
ulysses : 4.18 — Früher Morgen. Windstille. Licht noch schwach. Die Luft ist kühl geworden über die Nacht. Vor dem Teich im Garten die Spuren meiner Füße im Gras. Am Ufer des kleinen Sees ruht ein Molch, äußerst langsam geht sein Herzschlag, da muss doch ein Geräusch zu hören sein. Ich erinnere mich, gestern wurde die Entdeckung eines neuen Teilchens im Atom bekannt gegeben. Das Teilchen trägt den Namen: Xi_b^0. Hätte ich von seiner Entdeckung nicht gelesen, wäre ich in der Beobachtung meiner Hand, die auf meinem Knie ruht, nicht so aufmerksam wie an diesem frühen Morgen. Ich frage mich, wie viele Teilchen der Bezeichnung Xi_b^0 sich in meiner halbschlafenden Hand wohl befinden mögen, wie alt sie sind und woher sie vielleicht gekommen waren. Es ist still am Morgen heute. Die Amseln schlafen noch. Ein Wasserläufer überquert den Teich. In diesem Moment bemerke ich ein ballonartiges Wesen, das hoch über mir am Himmel schwebt. Es nähert sich langsam, in dem es tiefer kommt. Das Wesen ist hell, es ist weiß, es verfügt über Flügel, die sich sehr schnell bewegen, Fühleraugen, wie die Augen der Lungenschnecken, es ist ein Vogel. Der Vogel scheint den See unter ihm aufmerksam zu betrachten. Jetzt öffnet sich sein Bauch an erdnaher Stelle, ein Mund spitzt seine fahlrosa Lippen, Beutel fallen heraus aus diesem Mund, sie schlagen hohe Wellen im Teich. Der Molch verschwindet im Gras, Wasserläufer, die bewegungslos an Seerosenblattspitzen dämmerten, flitzen auf und davon. Jene Beutelchen, das kann ich von meiner Position aus gut erkennen, die aus dem Vogel herausgefallen sind, haben sich geöffnet, Kaulquappen, tausende, schwärmen nach allen Richtungen aus. Noch immer schwebt der Vogel über mir über dem See über der Wiese. Ein faszinierendes Geräusch ist von seinem Körper her zu vernehmen, ein Hupen, das Trompetengeräusch eines Zwergelefanten. Es ist nun denkbar, dass ich als erster Mensch die Glücksgeräusche der Froschvögel wahrgenommen habe. — stop
für meine Mutter,
für meinen Vater
mikado zu weilburg
MELDUNG. Offensichtlich bei Mondschein von leichtem Geistesschwindel befallen, rückte Charles M., 88, in der Orangerie zu Weilburg mittelamerikanischen Kakteen mittels Mikadostäbchen zu Leibe. Man arbeite, so der alte Herr kurz nach seiner Festnahme während erster Befragung, an einer Symphonie für Stachelhorn. Es ist jetzt kurz nach 5. — Game over.
PRÄPARIERSAAL : schwärme
tango : 1.16 — Gestern, Punkt 10 Uhr abends, habe ich meine anatomische Tonbandmaschine wieder angeworfen. Ich hörte eine Aufnahme, die ich mit der Beschriftung No 87 versehen hatte. Leider konnte ich mich nicht erinnern, wo das Dokument aufgenommen worden sein könnte, weil ich versäumte, Zeit und Ort des Gesprächs, sowie den Namen der sprechenden Person zu notieren. Eine Frauenstimme war zu hören und das Zwitschern von Vögeln. Die Stimme sprach rasend schnell, als ob sie den Vögeln nacheifern wollte. Mehrfach musste ich die Aufnahme in einem ersten Durchgang anhalten und wiederholen, um verstehen oder erahnen zu können, was die Stimme gesagt hatte. Ich habe ihr einen provisorischen Namen gegeben. Melanie erzählt: > Es ist eine aufregende Zeit. Da sind Schwärme von Gedanken, Geräuschen, Bildern, Gerüchen in meinem Kopf. Ich kann sie jederzeit hervorholen. Manchmal kommen sie von selbst. Ungefragt. Vielleicht darum, weil ich etwas Besonderes erlebe. Oft habe ich schon den Versuch unternommen, von meinen Erfahrungen zu berichten. Ich habe das Gespräch gesucht, Sie verstehen, ich bin stolz, der Aufgabe gewachsen zu sein. Deshalb erzähle ich mit Begeisterung. Ich habe zum Beispiel davon erzählt, dass ich sehr gerne an Muskeln präpariere. Ich habe von der luziden, perlmuttfarbenen Haut berichtet, die Muskeln umgibt. Ich habe von der Befriedigung erzählt, die ich empfinde, wenn ich einen Muskel vollständig freigelegt habe, wenn ich den Muskel begreifen konnte, seinen Ursprung und seinen Ansatz erkennen. Ich habe, während ich erzählte, mit meinen Händen vorausgearbeitet, habe mit meinen Händen auf dem Tisch Bewegungen ausgeführt, als wartete dort eine Struktur, die ich noch rasch präparieren sollte. Handarbeit, sagte ich, wenn du eine gute Ärztin sein willst, musst du zunächst eine gute Handwerkerin sein. Wenn du nicht Hand anlegen willst an einen Menschen, ist alle Mühe nicht wert. Eine Professorin erklärte einmal: Seien Sie neugierig. Verfolgen Sie die Strukturen weiter bis zu ihrem Ende. Glauben Sie nichts, prüfen Sie, ob das, was in den Anatomiebüchern steht, wirklich stimmt. Sehen Sie nach und sie werden mit Strukturen belohnt. — Ja, es ist aufregend. Eine Assistentin notierte eine wunderbare Geschichte für mich. Das war an dem Tag gewesen, als Gehirne entnommen worden waren. Da sei eine Kollegin durch den Saal auf sie zugekommen und habe ihr ein Gehirn in die Hände gelegt. Sie wollte ihr eine erste Erfahrung schenken, und sie wollte in diesem bedeutenden Moment an ihrer Seite sein. Das Gehirn, ihr erstes Gehirn, sei unerwartet schwer gewesen. Sie erinnerte sich gut an ihre Sorge, sie könnte das Gehirn fallen lassen. Sie habe in diesem Augenblick daran gedacht, dass sie eine ganz Welt in Händen halte, Träume eines Lebens, Bilder, Sätze, Wörter, Wörter, die nie wieder erreichbar sein werden. – stop
roosevelt Island
charlie : 3.05 — Wie, zum Teufel, kommt dieser merkwürdige Traum in meinen Kopf? War im Central Park auf der Suche nach einem großartigen Jazzposaunisten, nach Fred Wesley gewesen, verirrte ich mich, spazierte plötzlich auf Roosevelt Island herum. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube sehr fest daran, dass es sich um Roosevelt Island gehandelt haben musste, weil ich mit einer Art Luftgondel, einer Seilbahn angekommen war. Wahrhaftig eine heruntergekommene Gegend, zerfallene Gebäude, Müll und Straßen, die teilweise unter Wasser standen. Ich wartete in einem Kellerlokal, auch hier Wasser in Kniehöhe, hunderte Tische. Man konnte in diesem Lokal vom Menschen essen. Wenn man sich, nach Besichtigung der Karte, entschieden hatte, kam ein Mensch herbei, von dem man probieren konnte. Da waren Armmenschen mit köstlich schmeckenden Armen, und da waren Bauchmenschen mit köstlich schmeckenden Bäuchen. Manche dieser Personen sahen recht schrecklich aus, weil bereits häufiger von ihnen abgebissen worden war. Ich werde das jetzt nicht weiter ausführen. Es ist Montag. – stop
fährschiff john f. kennedy : armzungen
delta : 0.08 — Eine kleine Geschichte habe ich rasch noch zu erzählen. Sie verfügt über kaum Handlung, eine Geschichte, die sich im Grunde Tag für Tag auf einem Fährschiff der Staten Island Flotte wiederholen könnte. Auf diesem Schiff, das den Namen John F. Kennedys trägt, befindet sich in der Mitte des Bridgedecks hinter einem Tresen ein kleines Ladengeschäft, das der Versorgung der Reisenden dient, ein Ort, der leuchtet und blinkt, ein Ort, der nach Popcorn duftet, nach Kaffee, nach gebratenem Schinken und nach weiteren Substanzen, die ich bislang nicht identifizieren konnte. Obst, Schokolade, Cookies, Bonbons, auch Straßenpläne Manhattans, Feuerzeuge, Coca-Cola, Zuckerwasser in verschiedensten Farben, Nüsse, geröstete Mandeln, was ich wähle, was ich wünsche, bekomme ich von einem Mann ausgehändigt, der seiner Erscheinung nach in Mexiko oder Nicaragua geboren worden sein könnte. Sein stoischer Ausdruck ist mir sofort aufgefallen, lange Zeit habe ich ihn beobachtet, dieses Gesicht, das wirkte, als würde es eine aus Tropenholz geschnitzte, eine auf das Sorgfältigste bemalte Maske tragen, darin Augen, dunkle, schimmernde Knöpfe. Die Stimme des Mannes, die sich dort irgendwo befinden muss, habe ich bisher nie gehört. Und ich habe nie gesehen, dass er sich von seinem Platz fortbewegte, er steht senkrecht hinter seiner Ware, ein Monument, das über sehr schnelle, sehr lange Arme verfügt, ja, es sind die Arme, das Einzige, was sich an diesem Mann bewegt sind, seine Arme, diese Arme sind Handlung, sie sind eine Geschichte, sie sind erstaunlich, weil sie in der Geschwindigkeit der Chamäleonzungen nach Waren greifen. Einmal habe ich einen der Fotoapparat gekauft, die der Mann in seinem Sortiment für Touristen bereithält. Der Apparat kostete sechs Dollar und der Film 8 Dollar. Das ist ein wirklich altmodischer Film, einer, den man, um seine Bilder betrachten zu können, entwickeln muss. Ich habe den Mann nun mit genau diesem Fotoapparat fotografiert. Ich glaube, der Mann freute sich über meine Geste. Er schien unter der Maske seines Gesichtes zu lächeln. Vielleicht ahnte er zu diesem Zeitpunkt, dass ich einmal nachsehen werde, ob er lächelte, ein Geschenk für die Zukunft. Ende der Geschichte. — stop
lenox hill : vertikal
zoulou : 20.25 — Es ist jedes Mal ein aufregender Moment, wenn sich die Kabine des Aufzuges vom 22. Stockwerk aus nach unten zu bewegen beginnt. Ich werde etwas größer für ein oder zwei Sekunden, ich kann das im Spiegel, der die Rückwand meines Reisebehälters vollständig bedeckt, genau erkennen, ich werde etwas größer, oder ich verliere den Boden unter den Füßen, es ist ein wirklicher Moment des Fallens, ein Raum der Zeit, der bereits vorüber ist, ehe man ihn mit Wortbedeutung ausgesprochen haben mag: Sekunde. Aber dann stehe ich schon wieder fest auf dem Boden, bin so groß wie zuvor, ein Irrtum natürlich, nicht die Größe, aber dass ich sicheren Boden unter meinen Schuhen haben würde, weil ich doch abwärts rase, was ich am wandernden Licht der Zahlenreihe, die sich neben der Kabinentüre befindet, erkenne. Außerdem knistern meine Ohren und ich habe den Eindruck, dass auch mit meinen Augen etwas anders geworden sein könnte, ein Drama vielleicht, das sich hier gerade zu entfalten beginnt. Vor vier Wochen noch hatte ich einmal im Aufzug einen Spaziergang unternommen, rasch, wie ein Tier in seinem Käfig hin und her, ich wollte mich sehen, wie ich im Fallen zu gehen vermag, ein lustiger Anblick, nehme ich an, weil ich kurz darauf den Eindruck hatte, der kleine Wächter im Foyer habe ein ironisches Lächeln im Gesicht getragen, vielleicht weil er mich beobachtet hatte mittels einer Kamera, die sich in einer der oberen Winkel der Kabine befindet. Seltsam ist, man wird scheinbar nicht kleiner, wenn man das Erdgeschoss erreicht, obwohl man doch schnell langsamer wird, gestaucht, meine ich, gepresst und diese Dinge. Ich habe weiterhin beobachtet, dass ich, indem ich den Aufzug verlasse, je eine leichte Linkskurve nehme, die so nicht geplant ist. Meine Schneckengänge, meine Labyrinthe im Kopf, daran könnte es liegen. — stop