Aus der Wörtersammlung: frau

///

lichtbild

pic

alpha : 20.22 UTC — Ein­mal, vor zwei Jah­ren, notier­te ich eine Geschich­te, von der ich damals dach­te, sie wür­de für rei­ne Erfin­dung gehal­ten, weil kaum vor­stell­bar gewe­sen war, was ich in weni­gen Sät­ze erzähl­te. Ich hat­te mein Fern­seh­ge­rät beob­ach­tet, dort waren auf dem Bild­schirm Men­schen zu erken­nen gewe­sen, die auf Wagon­dä­chern eines Güter­zu­ges von Mit­tel­ame­ri­ka aus durch Mexi­ko nach Nord­ame­ri­ka reis­ten. Eine gefähr­li­che Fahrt, jun­ge Män­ner, aber auch jun­ge Frau­en, immer wie­der, so erzählt man, wur­den sie beraubt oder fie­len auf die Gelei­se und wur­den vom Zug über­rollt oder von Blit­zen hef­ti­ger Gewit­ter getrof­fen. Lang waren die Über­le­ben­den bereits unter­wegs gewe­sen, hat­ten nach eini­ger Zeit kaum noch zu essen oder zu trin­ken. Hun­ger und Durst wür­den sie ganz sicher gezwun­gen haben, vom Zug zu sprin­gen, wenn da nicht wei­te­re Men­schen gewe­sen wären, arme Men­schen, die ent­lang der Zug­stre­cke war­te­ten, um den Zug­rei­sen­den Was­ser und Nah­rungs­mit­tel in Tüten zuzu­wer­fen. Eine Frau, Maria, erzähl­te, sie und ihre Fami­lie wür­den immer wie­der hier­her­kom­men zu den Zügen mit ihren Bro­ten, dabei hät­ten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Weni­ge wür­den sie ger­ne tei­len, immer­zu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unter­neh­men, um den Flüch­ten­den zu hel­fen. Bald ver­schwand sie aus dem Bild, trat in den dich­ten Wald zurück, auch der Zug ent­fern­te sich lang­sam. — Licht­bil­der, das ist denk­bar, die erin­nert wer­den, ver­dich­ten sich, wer­den zu Bil­dern, die wie von selbst zurück­keh­ren. Es scheint so wie mit Lügen zu sein, die X Male wie­der­holt, schritt­wei­se schein­bar zu Wahr­heit wer­den. — stop

///

am telefon

pic

nord­pol : 15.15 UTC — Merk­wür­dig: Im Notie­ren kom­men Gedan­ken und Fra­gen wie Vogel­schwär­me her­an, zunächst kommt ein Gedan­ke allein und setzt sich und war­tet und schaut mich an. Dann kommt der nächs­te Gedan­ke, der schon zu zweit ist. — In der ver­gan­ge­nen Nacht träum­te ich von mir selbst. Ich saß in einem Roll­stuhl mit vie­len wei­te­ren alten Men­schen in einem Saal groß wie der War­te­saal eines Metro­po­len­bahn­ho­fes. Immer­zu woll­te ich tele­fo­nie­ren, ein klin­geln­des Tele­fon war zwar sicht­bar, aber nicht erreich­bar. Ich hör­te mei­ne Stim­me. Sie rief: Nun rufen Sie doch end­lich Mon­sieur Proust an, haben Sie denn sei­ne Num­mer nicht! Eine jun­ge, betö­rend schö­ne Frau beug­te sich zu mir hin­un­ter. Sie sag­te: Lou­is, bit­te, es ist jetzt wirk­lich genug, wir haben den Vor­mit­tag über ver­sucht Herrn Proust zu errei­chen, er nimmt den Hörer nicht ab. Aber der Bal­zac ruft andau­ernd an, wol­len sie nicht end­lich dran gehen! — Heut Regen, nas­se Vögel über­all. — stop

ping

///

ein fahrrad

2

whis­key : 5.16 UTC – Ein­mal, vor fünf Jah­ren sprach ich mit Mar­tha, die kürz­lich gestor­ben ist, über das Ver­ges­sen oder Ver­gess­lich­keit. Sie sag­te, dass man, wenn man wirk­lich vergess­lich wird, die­se Vergess­lich­keit nur dann bemerkt, wenn man dar­auf auf­merk­sam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Woh­nung auf­hal­te, kön­ne sie ver­ges­sen, soviel sie wol­le, es wür­de ihr selbst nicht und nie­mand ande­rem auf­fal­len, dass sie eigent­lich einen Film betrach­ten woll­te, aber auf dem Weg zum Fern­seh­gerät plötz­lich ein Buch auf dem Tisch ent­deck­te, wes­halb ihr Film­wunsch ver­lo­ren ging. – Lie­be Mar­tha, notier­te ich, Du hast ver­säumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzähl­te. Ich sen­de die­sen Text noch ein­mal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vor­le­sen wirst. Hier ist der Text, den Mar­tha damals ver­mut­lich noch wahr­ge­nom­men hat­te. Er geht so: Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zimmer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Programm­fenster geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungslos in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Programm­fenster öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­nien dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­grafie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schuhe. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schuhe. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­grafen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­grafie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zimmer her, dass das Mittag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vormit­tages geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss aufge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­cheren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Programm­fenster nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu entde­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vorder­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst einge­schlafen. – stop

///

st. elena

2

sier­ra : 22.12 UTC — Am Bug sit­zen bei schwe­rem See­gang. Das Meer­was­ser fliegt durchs neb­li­ge Licht wie Milch. Men­schen, die das Vapo­ret­to betre­ten, damp­fen, dass die Schei­ben beschla­gen. Eine jun­ge Frau dreht pfei­fend einen roten Regen­schirm im Wind. Ich den­ke mir die Geräu­sche des Regens aus, die unter dem Dröh­nen der Vapo­ret­to­mo­to­ren unhör­bar sind. Aber das Quiet­schen der Gum­mi­stie­fel. Trug Schwar­ze oder Gel­be als Kind. Heut­zu­ta­ge exis­tie­ren sie in allen mög­li­chen Far­ben. Auch Male­rei ist auf­ge­tra­gen, alte Meis­ter, der Früh­ling, Punkt­zeich­nun­gen der Mari­en­kä­fer, Mus­ter in allen mög­li­chen Far­ben. Ein Mann zeigt sei­ner Gelieb­ten einen fin­ger­lan­gen Nas­horn­kä­fer von Glas, er hält das schim­mern­de Wesen in die Luft, eine Vor­stel­lung in die­sem Moment, da wir uns wie­der dem Land nähern, die Vor­stel­lung auch eines Glas­blä­sers, irgend­wo müs­sen die­se wah­ren Künst­ler glü­hen­den, schmel­zen­den San­des noch heim­lich ihre Backen plus­tern wie Trom­pe­ten­spie­ler. Genau dort scheint eine Ver­bin­dung zu exis­tie­ren von der Musik zu den Nas­horn­kä­fern, die in Samm­lun­gen welt­weit gena­delt sit­zen. — stop

ping

///

cimitero s. michele

2

vic­tor : 22.24 UTC — Auf der Insel Giudec­ca exis­tiert an eine Brü­cke gelehnt ein Auf­zug für Men­schen, die nicht in der Lage sind, Trep­pen zu stei­gen. Der Auf­zug soll nun seit bei­na­he 3 Jah­ren außer Dienst genom­men sein. Ich hät­te davon kei­ne Kennt­nis erhal­ten, wenn ich nicht zufäl­lig hör­te, wie ein alter Mann sich wegen die­ses kran­ken Auf­zu­ges empör­te. Er saß in einem Roll­stuhl auf einem Bal­kon nur weni­ge Meter ent­fernt von der Brü­cke und warf Brot in die Luft, wel­ches von Möwen im Flug auf­ge­fan­gen wur­de. Der Mann schimpf­te in eng­li­scher, bald in fran­zö­si­scher Spra­che, als ob er ganz sicher­ge­hen woll­te, dass jene Men­schen, die die Brü­cke über­quer­ten, sei­ne Nach­richt ver­ste­hen wür­den. An die­sem Abend, da der wüten­de Mann die Admi­nis­tra­ti­on der Stadt Vene­dig ver­damm­te, wäre ich sehr ger­ne sofort in das Was­ser zu mei­nen Füßen gesprun­gen, um den Reiz der Mücken­sti­che, die ich wäh­rend eines Besu­ches des Fried­ho­fes San Miche­le hin­neh­men muss­te, durch Küh­le zu lin­dern. Es war am Nach­mit­tag gewe­sen, ich plan­te das Grab Joseph Brodsky’s zu besu­chen, muss­te aber bald vor dut­zen­den Raub­tie­ren flüch­ten, die sich auf zart schil­lern­den Flü­geln kaum hör­bar näher­ten in einer Wei­se, die mir koor­di­niert zu sein schien. Poli­zis­ten such­ten auf dem Fried­hof nach zwei Frau­en. Ich hat­te kurz zuvor beob­ach­tet, wie sie den Fried­hof betra­ten. Sie tru­gen schwar­ze Klei­der und schwar­ze Stie­fel und schwar­ze Hand­schu­he, auch ihr Haar war schwarz gefärbt und ihre Augen wie von Koh­le umran­det, sie waren voll­stän­dig in Schwarz dar­ge­stellt, aber ihre Haut war weiß gepu­dert. — Vor dem Fens­ter pfei­fen lei­se Vögel wie Spre­chen. — stop

///

san zaccaria

2

nord­pol : 23.01 UTC — Cla­ra, ein Nas­horn, wel­ches vor lan­ger Zeit als leben­des Schau­stück durch Euro­pa reis­te, soll im Jahr 1751 zur Zeit des Kar­ne­vals auch in Vene­dig zu sehen gewe­sen sein. 1720 bereits wur­de das Café Flo­ri­an am Ran­de des Mar­kus­plat­zes eröff­net. Man stel­le sich ein­mal vor, wie das aus­ge­wach­se­ne Nas­horn wie­der­käu­end in einem der mit Fein­gold ver­zier­ten Kaf­fee­haus­ab­tei­le steht und etwas vom Heu nascht, wäh­rend es begafft wird. Man kann leich­ter Hand sehr vie­le Geschich­ten erfin­den, wenn man mit Was­ser­bus­sen selbst­ver­ges­sen durch Vene­dig reist, man könn­te die ein oder ande­re Wirk­lich­keit mit einer wei­te­ren Wirk­lich­keit ver­we­ben. An einem Nach­mit­tag folg­te ich einer Grup­pe betag­ter Chi­ne­sin­nen durch jene Gäss­chen, da sich Glas­wa­ren­mo­ti­ve tau­send­fach repro­du­zie­ren. Ich dach­te noch, ich sei von Vögeln umge­ben, zwit­schern­de Stim­men. Plötz­lich deu­te­te eine der alten Frau­en, sie trug gel­be Turn­schu­he und schloh­wei­ßes Haar auf dem Kopf, nach einem Schrift­zug, der auf der Rück­sei­te einer Minia­tur­thea­ter­mas­ke von Plas­tik zu lesen war: Made in Chi­na, die­se Freu­de. Wie wun­der­bar die Küchen der Zwerg­kö­che, deren Räu­me da und dort sicht­bar wer­den in der Dun­kel­heit schma­ler Gas­sen. Ein­mal begeg­ne­te ich an einem spä­ten Abend einem Mäd­chen, das leuch­te­te. — stop

///

palanca

2

echo : 22.52 UTC — Abends von der Vapo­ret­to­sta­ti­on Palan­ca her die Küs­te nach Zitel­le spa­ziert, dann wie­der ein klei­nes Stück zurück. Es ist bald spät gewor­den, kurz nach 10 Uhr. Lang­sam, von Schlep­pern gezo­gen, bewegt sich in die­sem Augen­blick das Per­so­nen­fracht­schiff Queen Mary 2 durch den Giudec­ca Canal ost­wärts in Rich­tung des offe­nen Mee­res. Da ste­hen Men­schen weit oben an Deck hin­ter der Reling, die so klein sind, dass man, ohne ein Fern­rohr zu ver­wen­den, nicht zu erken­nen ver­mag, ob sie viel­leicht win­ken, man könn­te sie für arm­lo­se Wesen hal­ten. Weit links, zur Sei­te gerückt in den Schat­ten einer Brüs­tung, hockt auf einer Stu­fe der Stein­trep­pe zur Chie­sa del San­tis­si­mo Reden­to­re hin­auf, eine jun­ge Frau, die etwas durch­ein­an­der zu sein scheint. Da ist ein Kof­fer, geöff­net. Sie hat den Inhalt des Kof­fers, Klei­der, Schu­he, einen blin­ken­den Kamm, und Blu­sen, auch einen Som­mer­hut, um sich her­um aus­ge­brei­tet. Sie sitzt dort im Kreis ihrer Besitz­tü­mer wie in einem Nest, trinkt aus einer Fla­sche Wein, und flucht mit­tels ita­lie­ni­scher Spra­che zu dem Schiff hin­auf, dass es eine wah­re Freu­de ist. Man wird sie dort oben in der Fer­ne kaum hören, nur ich ver­mut­lich, der in ihrer Nähe hockt und das Was­ser beob­ach­tet, das dun­kel schim­mert. Es die Zeit der Flut bereits. Das Was­ser berührt die Kro­nen der Quais, da und dort geht es an Land, um über das uralte Pflas­ter zu zün­geln. Eine Grup­pe von Amei­sen­schat­ten pas­siert mich west­wärts, eine hal­be Stun­de spä­ter kom­men sie mit ein paar Bro­sa­men zurück. Bestän­di­ges Brum­men. Ges­tern war ein son­ni­ger Mor­gen gewe­sen, da wur­de ich von einem hel­len Pfei­fen geweckt. Ich öff­ne­te das Fens­ter, eine Frau grüß­te vom gegen­über­lie­gen­den Haus her­über, sie brach­te an einem Seil, das ein Räd­chen an der Fas­sa­de mei­nes Hau­ses beweg­te, gera­de feuch­te Tücher aus, so haben wir Kin­der noch Seil­bah­nen von Haus zu Haus gezo­gen. — stop

ping

///

celestia

2

del­ta : 20.58 UTC — Es war an einem Abend kürz­lich, dass ich die wohl­klin­gen­de Stim­me einer Frau bemerk­te, die in einem Was­ser­bus jeweils die kom­men­de Hal­te­sta­ti­on der Linea 4.1 ankün­dig­te. Je län­ger die Fahrt dau­er­te, des­to dring­li­cher wur­de der Wunsch, die­se Stim­me auf­zu­neh­men, sie fest­zu­hal­ten, sie für mich ein­zu­fan­gen. Ich fuhr nach Reden­to­re zurück und setz­te mit mei­ner Rund­rei­se um die Stadt Vene­dig von Neu­em an. Indes­sen ver­zeich­ne­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne jedes Geräusch der ein­stün­di­gen Fahrt, Wel­len, Gesprä­che, Kom­man­dos des Pilo­ten und sei­ner Assis­ten­tin, das knir­schen­de Geräusch der Taue, wie sie sich um eiser­ne Kamel­schiffs­hö­cker win­den, auch Schrit­te der Aus­stei­gen­den, Schrit­te der Zustei­gen­den, und eben immer wie­der die­se zärt­li­che Stim­me: Prossi­ma fer­ma­ta Celes­tia. Next stop Celes­tia. Wie, wenn die­se Stim­me noch in Jahr­hun­der­ten hör­bar wäre, die­se Stim­me einer dann längst ver­gan­ge­nen Per­son. Kein Grund zu ent­de­cken in die­ser Minu­te, wes­halb je wei­te­re Sta­tio­nen der Stadt Vene­dig zu erfin­den wären. stop

ping

///

eine wiese

2

echo : 22.05 UTC — Ich hat­te einen lus­ti­gen Traum. Da war im Traum eine Wie­se unter Apfel­bäu­men. Plötz­lich lag ich in die­ser Wie­se her­um und beob­ach­te­te Wes­pen, wie sie dicht über mir hin- und her­flo­gen auf einer schnur­ge­ra­den Linie. Bemer­kens­wert war, dass sie alle sehr klei­ne Äpfel trans­por­tier­ten in eine der Rich­tun­gen, ich glau­be west­wärts. Am Rand der Wie­se stand, halb schon im Wald, ein Haus. Im Haus traf ich eine alte Frau an, die mit sich selbst zu spre­chen schien. Aber das war dann doch ganz anders gewe­sen, die alte Frau sprach mit den Wes­pen, sie bedank­te sich für jeden der Äpfel, den die Wes­pen über einer Scha­le abwar­fen, die im Schoß der alten Frau ruh­te. Ich erin­ne­re mich, die Küche duf­te­te nach Kuchen­teig. In einem Käfig in einer Ecke des Hau­ses hock­te ein Huhn auf einem Apfel, den das Huhn selbst gelegt haben soll, auf einem Wes­pen­ap­fel oder einem Apfel vol­ler Wes­pen. Dann wach­te ich auf. Ein schö­ner Tag begann. Und jetzt ist Abend gewor­den. In der Stadt Chem­nitz tra­gen Men­schen, die ent­we­der Faschis­ten sind, oder sich nicht scheu­en, in einer Rei­he mit Faschis­ten her­um­zu­lau­fen, wei­ße Rosen am Revers. Eine ent­setz­li­che Geschich­te. — stop
ping

///

elisabeth

2

char­lie : 0.05 UTC – Vor eini­gen Wochen besuch­te ich das Haus der alten Men­schen, in dem mei­ne Mut­ter wohnt. Ich spa­zier­te über die Flu­re des Hau­ses, mit einem Apfel in der Hand, und war­te­te, dass ich in das Zim­mer mei­ner Mut­ter geru­fen wür­de. Auf einem Sofa am Ende eines der Flu­re vor einem Fens­ter saß eine alte Frau, wie zu einer Salz­säu­le erstarrt. Als ich zum drit­ten Male an ihr vor­über­kam, erin­ner­te ich mich an eine Geschich­te, die ich ein­mal in Brook­lyn erleb­te. Ich hat­te sie vor Jah­ren notiert. Ich schrieb: Im Win­ter des vergan­genen Jah­res, an einem win­dig kal­ten Tag, besuch­te ich in Brook­lyn einen alten Herrn, Mr. Tomas­zweska und sei­ne Frau Elisa­beth. Sie woh­nen nahe der Clark Street in einem sechs­stö­ckigen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hat­te den alten Mann wäh­rend einer Fahrt auf einem Fähr­schiff zufäl­lig kennen­ge­lernt. Er beob­ach­tete, wie ich Fahr­gäste foto­gra­fierte, die ihre Namen heim­lich in die höl­zer­nen Sitz­bänke des Schif­fes ritz­ten. Er sprach mich freund­lich an, woll­te mir einen Schrift­zug zei­gen, den er selbst drei Jahr­zehnte zuvor an Ort und Stel­le in der glei­chen Wei­se wie die beob­ach­teten Passa­giere einge­tragen hat­te. Wir führ­ten ein kur­zes Gespräch über die New Yor­ker Hafen­be­hörde, Eisen­bahnen und Flug­zeuge, weiß der Him­mel, wie wir dar­auf gekom­men waren. Als wir das Schiff ver­lie­ßen, lud Mr. Tomas­zweska mich ein, ein­mal zu ihm zu kom­men. Dar­um stieg ich nur weni­ge Tage spä­ter in den sechs­ten Stock des schma­len Hau­ses auf den Höhen Brook­lyns. Die Tür zur Woh­nung stand offen, war­me Luft kam mir ent­ge­gen, die nach süßem Teig duf­te­te, nach Zimt und Früch­ten. Die Räu­me hin­ter der Tür waren verdun­kelt. Ich hat­te sogleich den Ein­druck, dass ich viel­leicht träum­te oder ver­rückt gewor­den sein könn­te, weil in die­sem Halb­dunkel an den Wän­den, auch auf dem Boden, Lam­pen, Dioden­lichter, glüh­ten. Modell­ei­sen­bahn­züge fuh­ren auf schma­len Gelei­sen her­um. Ich höre noch jetzt das lei­se Pfei­fen einer Dampf­lo­ko­mo­tive, das mei­nen Besuch beglei­tete. Es war eine rasen­de Zeit, Stun­den des Stau­nens, da in der Woh­nung des alten Herrn eine sehr beson­dere Modell­an­lage gas­tier­te, ja, ich soll­te sagen, dass die Woh­nung selbst zur Anla­ge gehör­te, wie der Him­mel zur wirk­li­chen Welt. Alle Züge fuh­ren auto­ma­tisch von einem Com­pu­ter gesteu­ert, die Luft über den Gelei­sen roch scharf nach Zinn. Wir spra­chen indes­sen nicht viel, Mr. Tomas­zweska und ich, son­dern schau­ten dem Leben auf dem Boden in aller Stil­le zu. An einem Fens­ter, des­sen Vor­hän­ge zuge­zogen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Elisa­beth. Sie beach­tete mich nicht, starr­te viel­mehr lächelnd auf eine klei­ne Klap­pe, die in die Wand des Hau­ses einge­lassen war. Manch­mal öff­ne­te sich die Klap­pe und ich konn­te für Momen­te das Meer erken­nen, das an die­sem Tag von grün­grauer Far­be gewe­sen war, wunder­bare Augen­blicke, denn immer dann, wenn das Meer in dem klei­nen Fens­ter erschien, lach­te die alte Frau mit glocken­heller Stim­me auf, um kurz dar­auf wie­der zu erstar­ren. Ein­mal setz­te sich Mr. Tomas­zweska neben sei­ne Frau und füt­ter­te sie mit war­mem Oran­gen­ku­chen, den er selbst geba­cken hat­te. Und wie wir uns wie­der auf den Boden setz­ten, um ein Modell des Orient­ex­press durch die Zim­mer der Woh­nung krei­sen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemein­sam hier oben sehr glück­lich sei­en. Er kön­ne mit sei­ner Frau zwar nicht mehr spre­chen, er kön­ne sie nur noch strei­cheln, was sie ver­ste­hen wür­de oder sich erin­nern an die Spra­che sei­ner Hän­de. Ver­stehst Du, sag­te er, sie ver­gisst immer sofort, alles ver­gisst sie, auch wer ich bin, aber sie ver­gisst nie­mals nach den klei­nen Engeln zu sehen, die uns besu­chen, sie kom­men dort durch die Klap­pe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wun­der, sag­te der alte Mann, wie schön sie lacht, mein jun­ges Mäd­chen, nicht wahr, mein jun­ges Mäd­chen. – stop
ping



ping

ping