15.01 — Welches Geräusch erzeugen zwei Millionen Ameisenbeine, sobald sie in rasender Bewegung einen Baum erklimmen? Existiert vielleicht ein indianisches Wort für dieses spezielle Geräusch? Auf welchem Wege könnte ich von diesem Wort erfahren? Vielleicht einmal eine Geste für das Wort erfinden, sobald ich von ihm gehört haben werde. — stop
Aus der Wörtersammlung: geste
wortschöpfung
8.07 — o l i m a m b o ? — :)
liebeslaute
1.55 — Seit ich gestern, gegen den Morgen zu, erfahren habe, dass Buckelwale zur Paarungszeit über eine Sprache verfügen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist, immer wieder die Frage, was ich unter einer einfachen menschlichen Sprache verstehen sollte, die atemlose Sprache der Lust vielleicht oder die Sprache der Chaträume? Ob eine dieser menschlichen Sprachen vielleicht geeignet wäre, sich mittels einer Prozedur der Übersetzung von Wal zu Mensch zu verständigen? Wir könnten uns vom Land und von der Tiefsee erzählen. Eine grandiose Vorstellung, auf hoher See Luft perlend vor einem Wal zu schweben und zu warten und zu wissen, dass er gleich, nach ein wenig Denkzeit, zu mir sprechen wird. Etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine Frage: Wie heißt Du, mein Freund? Oder : Ich hörte von Bäumen! - Es ist 2 Uhr 10 und ich bin sehr gut gelaunt, weil ich etwas Lichtenberg gelesen habe. Er schreibt um das Jahr 1774 herum: Eine Fledermaus könnte als eine nach Ovids Art verwandelte Maus angesehen werden, die, von einer unzüchtigen Maus verfolgt, die Götter um Flügel bittet, die ihr auch gewährt werden. – Wie aber sollte ich einem Walfreund Abu-Ghraib, Grosny, Darfur, Simbabwe, Tibet und Burma erklären, das Foltern, das Okkupieren, das offene und das heimliche Töten von Menschenhand? Und wie den Hunger? Und wie das Schweigen? — stop
china
0.20 — Im Winter nach Berlin, immer im Winter, immer nachts, im Westen ein langsam fahrender Zug hinter Bebra. Dann Grenze. Ein Posten. Türme. Metall. Und Licht. Gelbes Licht, demoliertes Licht. Und Hunde, jawohl, Hunde. Dann Osten. Von Stadt zu Stadt durchs unbekannte Land. Auf Bahnsteigen : Volkspolizei, Rücken zum Zug, Wachen oder so etwas, in den Abteilen mit Stempel, mal freundlich, mal finster, mal kühl. Dann wieder Grenze. Warten. Rangieren. Demoliertes Licht. Irgendjemand schlägt von unten her mit Metall gegen den Boden des Zuges. Hunde. Dann Westen. Herrn in Zivil, Staatsschutz, von Abteil zu Abteil. Dann Zoo. Wenn man so, immer nachts, reist, kaum Kenntnis vom Land, durch das man kommt, sagt man, das riecht hier anders, das riecht hier nach Kohle. Man steht an einem Fenster in diesem Zug, der wartet in Halle. Es ist gegen fünf in der Früh und man weiß, man darf nicht aussteigen, man weiß, die Anderen auf den Bahnsteigen jenseits der Posten, jenseits der Geleise, dürfen nicht einsteigen, man weiß, Schüsse könnten fallen. Die da draußen herumstehen, die aus dem Mund dampfen, die von der Morgenschicht in Halle, wissen das besser als die, die im Zug stehen und mit Westaugen einen Kontakt suchen für Sekunden. Schüsse könnten fallen, jawohl, Schüsse. Und deutsche Sprache, — Halt! Stehen bleiben!
Ich erinnere mich an eine Textpassage. Malcolm Lowry an Bord des Schlachtkreuzers, H.M.S.Proteus. Man liegt vor chinesischer Küste, man spielt Cricket an Deck. Nicht weit, jenseits des Wassers an Land, war ein schrecklicher Krieg im Gange. „Dum! Dum! Dum!, aber die ganze Sache fegte über unsere Köpfe hinweg, ohne uns zu berühren.“ — „Sie können sagen, dass ich dem Mann gleiche, von dem sie vielleicht gelesen haben, der sein Leben auf einem Schiff verbrachte, das regelmäßig zwischen Liverpool und Lissabon hin — und herfuhr, und bei seiner Entlassung über Lissabon nur sagen konnte : die Straßenbahnen fahren dort schneller als in Liverpool.“ Ich erinnere mich an eine Notiz des russischen Dichters Wenedikt Jerofejew : „Alle sagen, — der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel Moskau durchquert, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, aufs Geratewohl, von einem Ende zum anderen, aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen.“
Einmal, wieder Winter in Berlin, Berlin-West, 1987, ein Fest. Geräumige Wohnung. Auf den Tischen Schnapsflaschen und Erdbeergläser. Man sagt, das sei so üblich, — Gäste aus dem Osten, Schnaps auf dem Tisch. Da ist ein kleiner Mann, schütteres Haar. Sitzt die Nacht über an einem der Tische, trinkt und schlägt irre Rhythmen mittels Messern und Gabeln auf Teller, an Gläser. Man sagt, der Mann sei gerade rüber gekauft, man sagt, er habe in Bautzen II gesessen, man sagt, einmal, frostige Luft, habe man den Mann ausgezogen, man habe ihn ausgezogen und in eine Schleuse gestellt, man habe ihn dort vergessen unter freiem Himmel, dann habe man sich seiner erinnert, dann habe man ihn warm geprügelt. — Irre Rhythmen. — Hab ich also Land betreten. — stop
kinderwelten
9.55 — Ich hatte ein Kinderbuch, das ich zufällig in einer Kiste entdeckte, vor mir auf den Schreibtisch gelegt, illustrierte Erzählungen aus Tausend und einer Nacht. Ich konnte mich an beinahe jedes Detail der Zeichnungen, die sich in dem Buch befanden, erinnern, das heißt, ich erkannte die Zeichnungen wieder, auch den Geruch des Papiers, einen Tintenfleck, meine kindliche Schrift, die eine der Erzählungen kommentierte. Heute, angesichts zweier Buben, — sie kämpften in einer U‑Bahn mittels handlicher Konsolen verbissen gegeneinander -, die Vorstellung, wie in Zukunft uralte Menschen nicht Büchern, sondern ihren Spielzeugmaschinen aus Kindertagen begegnen, virtuellen Welten von ungeheurer Rechenleistung. — stop
gebärdensprache
plankton
21.22 — Gestern Abend, ich hockte im letzten Licht der Sonne auf dem Fensterbrett, habe ich entdeckt, dass ich die Luft, sobald ich ihre feinen Stäube als Plankton und Fliegen und Falter als Fische betrachte, für eine Flüssigkeit, sagen wir, für ein Meeresgewässer halten kann. — stop
sammler
vilem flusser
16.18 — Einmal, vor langer Zeit, habe ich mir vorgenommen, zwei oder drei Bücher auswendig zu lernen, Wort für Wort. Sagen wir für Tage, da die Sonne nicht aufgehen will und der Strom ausfällt. Oder um einen Menschen, der vielleicht traurig und müde geworden ist, begeistern zu können. Fangen wir also an. Vilem Flusser. Die Geste des Schreibens: ES HANDELT SICH DARUM, ein Material auf eine Oberfläche zu bringen ( zum Beispiel Kreide auf eine schwarze Tafel ), um Formen zu konstruieren ( zum Beispiel Buchstaben ). Also anscheinend um eine konstruktive Geste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen ( zum Beispiel Kreide und Tafel ), um eine neue Struktur zu formen ( Buchstaben ). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Wort — graphein — beweist das. Der Schein trügt in diesem Fall. Vor einigen tausend Jahren hat man damit begonnen, die Oberflächen mesopotamischer Ziegel mit zugespitzten Stäben einzuritzen, und das ist der Tradition zufolge der Ursprung der Schrift. Es ging darum, Löcher zu machen, die Oberfläche zu durchdringen, und das ist immer noch der Fall. Schreiben heißt immer noch, Inskriptionen zu machen. Es handelt sich nicht um eine konstruktive, sondern um eine eindringende, eindringliche Geste. — stop
djuna barnes
18.13 — Weshalb träume ich nur selten, und wenn, dann heitere Geschichten vom Zergliedern menschlicher Körper? Gestern beispielsweise kam der schöne Kopf einer Freundin auf acht winzigen Füßen über den Boden meines Arbeitszimmers spaziert. Sie rezitierte in rasender Geschwindigkeit einen Text Djuna Barnes mit lachgasheller Stimme. — Nichts ist noch selbstverständlich. — stop