Aus der Wörtersammlung: insel

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radionuklid

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alpha : 10.08 UTC — In der Vergan­gen­heit, heu­te wie­der, habe ich mir oft gewünscht, mein Leben wür­de aus der Sicht eines Vogels auf­ge­zeich­net, aus der Sicht eines Vogel­we­sens, das mich beglei­tet, Gesprä­che bei­spiels­wei­se, die ich täg­lich mit Men­schen füh­re oder heim­liche Gesprä­che mit mir selbst. Auch wür­de aufge­nommen, was ich gese­hen habe, wäh­rend ich reis­te, einen Ken­tau­ren auf einer der Usch­kan­ji-Inseln, Regen­tropfen am Strand von Coney Island, eine Amei­se auf Geor­ges Perec’s Schul­ter wäh­rend einer Fahrt in der Pari­ser Metro, mei­nen schla­fen­den Kör­per. Manch­mal ist es ange­nehm, sich zu wün­schen, was nicht mög­lich zu sein scheint, eine gro­ße Frei­heit der Speku­la­tion. In den vergan­genen Jah­ren wur­de mir immer wie­der ein­mal bewusst, dass die Verwirk­li­chung eines mich beglei­tenden Vogel­we­sens nicht län­ger uto­pisch ist. Ich ver­mag mir eine flie­gende Maschi­ne, ohne wei­te­re Anstren­gung vor­zu­stel­len, ein künst­li­ches Luft­wesen, vier Pro­pel­ler, ange­trieben von einer leich­ten Radio­nu­klid­bat­terie, die sich tatsäch­lich für Jahr­zehnte an mei­ner Sei­te in der Luft auf­hal­ten könn­te, ein bei­na­he laut­loses Wesen in der Gestalt eines Koli­bris, eines Tau­ben­schwänz­chen oder einer Bie­ne. Kaum wird das Flug­ob­jekt aus sei­ner Trans­portbox geho­ben und akti­viert, wird es für immer mei­ner Per­son ver­bun­den sein, mei­nem persön­li­chen Luft­raum, den ich mit mir füh­re, wohin ich auch gehe. Selt­sam ist viel­leicht, dass es gleich­wohl unmög­lich sein wird, die­ses Wesen je wie­der einzu­fangen, weil es sehr schnell ist in sei­nen Reak­tionen, schnel­ler als mei­ne Hand, schnel­ler als eine Gewehr­kugel, ein Wesen, das über die Flug­flucht­fä­hig­kei­ten einer Stuben­fliege ver­fügt. — stop

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cimitero s. michele

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vic­tor : 22.24 UTC — Auf der Insel Giudec­ca exis­tiert an eine Brü­cke gelehnt ein Auf­zug für Men­schen, die nicht in der Lage sind, Trep­pen zu stei­gen. Der Auf­zug soll nun seit bei­na­he 3 Jah­ren außer Dienst genom­men sein. Ich hät­te davon kei­ne Kennt­nis erhal­ten, wenn ich nicht zufäl­lig hör­te, wie ein alter Mann sich wegen die­ses kran­ken Auf­zu­ges empör­te. Er saß in einem Roll­stuhl auf einem Bal­kon nur weni­ge Meter ent­fernt von der Brü­cke und warf Brot in die Luft, wel­ches von Möwen im Flug auf­ge­fan­gen wur­de. Der Mann schimpf­te in eng­li­scher, bald in fran­zö­si­scher Spra­che, als ob er ganz sicher­ge­hen woll­te, dass jene Men­schen, die die Brü­cke über­quer­ten, sei­ne Nach­richt ver­ste­hen wür­den. An die­sem Abend, da der wüten­de Mann die Admi­nis­tra­ti­on der Stadt Vene­dig ver­damm­te, wäre ich sehr ger­ne sofort in das Was­ser zu mei­nen Füßen gesprun­gen, um den Reiz der Mücken­sti­che, die ich wäh­rend eines Besu­ches des Fried­ho­fes San Miche­le hin­neh­men muss­te, durch Küh­le zu lin­dern. Es war am Nach­mit­tag gewe­sen, ich plan­te das Grab Joseph Brodsky’s zu besu­chen, muss­te aber bald vor dut­zen­den Raub­tie­ren flüch­ten, die sich auf zart schil­lern­den Flü­geln kaum hör­bar näher­ten in einer Wei­se, die mir koor­di­niert zu sein schien. Poli­zis­ten such­ten auf dem Fried­hof nach zwei Frau­en. Ich hat­te kurz zuvor beob­ach­tet, wie sie den Fried­hof betra­ten. Sie tru­gen schwar­ze Klei­der und schwar­ze Stie­fel und schwar­ze Hand­schu­he, auch ihr Haar war schwarz gefärbt und ihre Augen wie von Koh­le umran­det, sie waren voll­stän­dig in Schwarz dar­ge­stellt, aber ihre Haut war weiß gepu­dert. — Vor dem Fens­ter pfei­fen lei­se Vögel wie Spre­chen. — stop

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alberoni

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india : 22.06 UTC — Regen­wind­tü­cher wan­dern in der Fer­ne vor Ber­gen, die sich am Hori­zont deut­lich abbil­den. Vom Lido aus, an der Meer­enge zur Insel­zun­ge Pal­estri­na, öff­net sich ein wei­ter Blick nord­wärts über die Lagu­ne hin. Das Meer noch beru­higt, Muschel­fang­sta­tio­nen set­zen wie gezeich­net fei­ne Akzen­te, höl­zer­ne Fin­ger, zu Rei­hen grup­piert, jen­seits der Was­ser­bah­nen, die mit­tels mäch­ti­ger Boh­len mar­kiert wor­den sind. In Albe­ro­ni stei­ge ich aus, spa­zie­re an Leucht­tür­men vor­bei, eine Mole ent­lang, mäch­ti­ge Stei­ne. Da sind ein wil­der Wald und sump­fi­ge Mul­den, in wel­chen Fisch­chen blit­zen, Wol­ken­struk­tu­ren, die des Him­mels und die der Schup­pen­haut­schwär­me. Ich nähe­re mich Schritt für Schritt, irgend­wo da unten in der Tie­fe der Was­ser­stra­ße hin zum offe­nen Meer soll sich M.O.S.E. befin­den. Eine jun­ge Vene­zia­ne­rin erklär­te noch: Bad Pro­jekt! Und wie sich ihre Augen ange­sichts des Bösen ver­dun­kel­ten, mein­te ich mei­nen Wunsch, M.O.S.E zu besu­chen, ver­tei­di­gen zu müs­sen. Die Son­ne geht lang­sam unter. Röt­lich glim­men­de Stä­be nahe dem schma­len Mund zur Lagu­ne erschei­nen, als wür­den sie in der Nacht auf die Exis­tenz des schla­fen­den Schutz­rie­sen unter der Was­ser­ober­flä­che ver­wei­sen. Da liegt ein ver­las­se­ner Kin­der­spiel­platz in Mee­res­nä­he unter Ole­an­der­bäu­men. Ein san­di­ger Strand, Muscheln, höl­zer­nes Treib­gut, drei Möwen, ein Ang­ler, Fuß­spu­ren im feuch­ten Sand, die die auf­kom­men­de Flut bald ver­schlin­gen wird. Im Was­ser selbst drei mensch­li­che Köp­fe, die lachen, und ein wei­te­rer Kopf, der sich par­al­lel zur Küs­te schwim­mend hin und her bewegt, nur nicht die tie­fe­re Zone die­ses Mee­res berüh­ren, in dem so vie­le Men­schen bereits ertrun­ken sind. In einem Regal des Kin­der­spiel­plat­zes ent­de­cke ich heim­wärts gehend eini­ge Bücher, kurz dar­auf einen Fuß­ab­druck, den ich selbst hin­ter­las­sen haben könn­te. — stop

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nachtmann

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del­ta : 0.36 UTC — Ich stell­te mir einen Nacht­mann vor, der unter einem Schirm durch die Welt reist, oder mit einem leich­ten Zelt, das sich beleuch­ten lässt, wie sich auch der Schirm beleuch­ten lässt. Ein­mal erreicht der Mann die süd­li­che Küs­te der Insel Kre­ta. Er beschloss, an einem Strand nahe Soug­hia zu über­win­tern. Er errich­te­te dar­auf­hin sein Zelt im Schat­ten eines Salz­bau­mes. Nun konn­te man ihn nachts im Dorf oder am Strand her­um­lau­fen oder spa­zie­ren sehen. Am Tag ruh­te er in der Dun­kel­heit sei­nes Zel­tes und schlief oder las oder tele­fo­nier­te im Licht sei­ner Lam­pen. — stop

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samia yusuf omar

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del­ta : 0.05 — Exakt 2142 Tage zurück, am Mon­tag, dem 20. August 2012, mel­de­ten Nach­rich­ten­agen­tu­ren, die soma­li­sche Sprin­te­rin Samia Yus­uf Omar sei auf dem Weg nach Lon­don zu den Olym­pi­schen Spie­len ertrun­ken. Sie reis­te auf einem Flücht­lings­schiff von Liby­en aus nord­wärts. Die Hava­rie des Boo­tes soll sich im Kanal von Sizi­li­en nahe der Insel Mal­ta bereits Anfang April ereig­net haben. Ein­zi­ge Ver­tre­te­rin ihres Hei­mat­lan­des wäh­rend der Olym­pi­schen Spie­le 2008 in Peking, hat­te sich Samia Yus­uf Omar allein auf den gefähr­li­chen Weg nach Euro­pa bege­ben. Sie leb­te 22 Jah­re. — Und all die Namen­lo­sen. — stop / Kof­fer­text

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von apfelbäumen

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tan­go : 20.02 — In der Schnell­bahn hör­te ich eine Stim­me, die von Blü­ten­be­stäu­bern erzähl­te. Immer wie­der unter­bro­chen von schep­pern­den Maschi­nen­ge­räu­schen, wel­che Hal­te­sta­tio­nen kom­men­tier­ten, ver­moch­te ich nicht alle Fäden der Geschich­te wahr­zu­neh­men. So viel habe ich ver­stan­den. Ein Apfel­baum­gar­ten soll exis­tie­ren, des­sen Bie­nen­völ­ker ver­stor­ben sind, auch Hum­meln und Wes­pen und Schmet­ter­lin­ge sei­en nicht erschie­nen, nicht ein­mal Fal­ter, nur sel­ten Vögel, Dom­pfaf­fen und Zei­si­ge, Sper­lin­ge aber nicht. Es sei nun der Auf­ruf ergan­gen, man möge sich, wenn man Zeit fin­den kön­ne, mel­den, man wür­den dann mit­tels eines fei­nen Pin­sels auf einer Lei­ter in die Bäu­me stei­gen, um Bie­ne oder Zitro­nen­fal­ter zu spie­len. Wie gern würd ich mich mel­den, wenn ich nur wüss­te, wo und bei wem? — stop

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von wörtern von ohren

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sier­ra : 18.28 — Es don­nert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saust, sum­met, brum­met, rum­pelt, quäkt, ächzt, singt, rap­pelt, pras­selt, knallt, ras­selt, knis­tert, klap­pert, knur­ret, pol­tert, win­selt, wim­mert, rauscht, mur­melt, kracht, gluck­set, röcheln, klin­gelt, blä­set, schnarcht, klatscht, lis­peln, keu­chen, es kocht, schrei­en, wei­nen, schluch­zen, kräch­zen, stot­tern, lal­len, gir­ren, hau­chen, klir­ren, blö­ken, wie­hern, schnar­ren, schar­ren, spru­deln. Die­se Wör­ter und noch ande­re, wel­che Töne aus­drü­cken, sind nicht blo­ße Zei­chen, son­dern eine Art von Bil­der­schrift für das Ohr. — G.C.Lichtenberg / stop

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luftpapiere

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alpha : 15.32 UTC — Über­all schwe­ben im Som­mer Fäden in der Luft her­um, Spin­nen­ge­we­be, auf wel­chem Roma­ne notiert sein könn­ten mit­tels win­zi­ger Zei­chen. Eine Frau sitzt an einem Tisch und notiert Ovids Meta­mor­pho­sen auf eine Papier­luft­schlan­ge. Wie behut­sam sie vor­geht, um das Papier nicht zu zer­rei­ßen. Kaum ist sie mit der Beschrif­tung einer der papie­re­nen Stre­cken zu Ende gekom­men, ver­bin­det sie mit einem Tröpf­chen Kleb­stoff eine wei­te­re noch unbe­schrif­te­te Schlan­ge. Kurz dar­auf notiert sie wei­ter. Sehr fei­ner Pin­sel. Das ist kei­ne erfun­de­ne Geschich­te. — stop

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lappo

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nord­pol : 12.30 UTC — Ein ande­res Mal beob­ach­te­te ich einen Film­be­richt, der von Men­schen erzähl­te, die auf der Insel Lap­po in Mee­res­nä­he sehn­süch­tig den Win­ter wie einen Besu­cher erwar­ten, dass das Meer end­lich gefriert, dass sie bis nach Tur­ku über das Was­ser lau­fen kön­nen. Eine Frau sagt, sie lie­be die Stil­le im Ohr. Die­se Stil­le sei wie ein Geräusch für sich. Man kön­ne der Stil­le zuhö­ren. Manch­mal knis­te­re das Eis, im Som­mer summ­ten Insek­ten­tie­re durch Luft und Stil­le. — Eben fällt mir ein, dass ich vor län­ge­rer Zeit bereits den Auf­trag for­mu­lier­te, Schnee­li­bel­len zu erfin­den. Fan­gen wir an. — stop

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von kakteen

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ulys­ses : 19.35 UTC — Ein­mal woll­te ich einen Text notie­ren, der mög­lichst noch nie zuvor auf­ge­schrie­ben wur­de. Ich woll­te die­sen Text in das Maga­zin einer Ser­ver­ma­schi­ne trans­fe­rie­ren, ver­se­hen mit einer all­ge­mei­nen Anwei­sung für Such­ma­schi­nen, die­sen Text nicht zu beach­ten. Ich plan­te dem­zu­fol­ge mit­tels einer Ver­lo­ckung (Text­kö­der) sowie einer Anwei­sung für ent­spre­chen­de Ver­zeich­nis­se (.htac­cess noin­dex) zu erpro­ben, ob Such­ma­schi­nen mei­nen Wunsch wahr­neh­men und akzep­tie­ren, oder ob sie mei­nen Wunsch wahr­neh­men und sich ihm wider­set­zen wer­den. Ich notier­te: marim­ba : 8.02 – Palmen­garten. stop. Wüsten­haus. stop. Das fei­ne Geräusch der Kak­teen, sobald ich ihr Stachel­horn mit einem Pin­sel, einem Mika­do­st­äb­chen, einem Fin­ger berüh­re. Hell. stop. Federnd. stop. Propel­lernd. stop. Klän­ge, für die in mei­nem suchen­den Wort­gehör noch kei­ne eige­ne Zeichen­folge zu fin­den ist. stop. stop. Die Stil­le beim Durch­blät­tern eines feuch­ten Buches in der Mangro­ven­ab­tei­lung. stop. stop. Zwei­ter Ver­such. — Ich könn­te vom heu­ti­gen Tage an Such­ma­schi­nen als Lebe­we­sen betrach­ten, die über Wil­le, Lust und Lau­ne gebie­ten. — stop

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