olimambo : 10.22 UTC – Das seltsame Wort Wirklichkeitsdokument, plötzlich anwesend, ein Wort, das an diesem heutigen Tag, einem Mittwoch, am frühen Vormittag in den Archiven der Google — Suchmaschine noch nicht zu finden gewesen sein soll. Ein Irrtum. — Im Radio wird erzählt, dass in einem höhergelegenen Stockwerk eines Wohngebäudes in der Stadt Mariupol in Meeresnähe eine brennende Frau hohen Alters in einem Sessel sitzend beobachtet worden sein soll. — stop
Aus der Wörtersammlung: irrtum
prypjat
nordpol : 6.57 UTC — Filmaufnahme der Stadt Prypjat an einem sonnigen Apriltag des Jahres 1986. Dunstige Haut liegt über farbigen Bildern des Films, spielende Kinder vor Häuserblocks, ein Karussell, ein Riesenrad, flanierende Bürgerinnen und Bürger, Alltag, Frieden. Manche der Menschen tragen Taschen, andere halten ihre Söhne und Töchter an der Hand, ein Dreirad, Bäume von hellem Grün, und der Himmel, wolkenlos. Aber da ist noch etwas anderes, etwas Unheimliches, da sind Punkte, Kreise, helle Erscheinungen zu erkennen, in Bruchteilen rasender Zeit tauchen sie auf und sind sofort wieder verschwunden. So rasch und so unerwartet treten sie aus der Bewegung des Films hervor, dass ein menschlicher Betrachter nicht sicher sein kann, ob die Erscheinung, die er gerade noch wahrzunehmen glaubte, tatsächlich zu sehen oder nicht ein Irrtum seines Gehirns gewesen war, helle Schirme, pelzig, weich. Dieses blitzende Licht zeigt Verletzungen des Bildtragenden Materials an, Verheerungen, die durch strahlende Teilchen des brennenden Grafitreaktors zu Tschernobyl verursacht wurden, Teilchenspurlicht, deshalb so unheimlich, so tragisch, weil dieses Licht in den Augen des Filmbetrachters von einer späteren Wirklichkeit aus wahrgenommen werden kann, nicht aber von jenen Menschen, die sich in der Wirklichkeit der Aufnahme vor der Kamera bewegten durch einen lebensgefährlichen Tag, den sie vielleicht für einen glücklichen Tag ihres Lebens gehalten haben, weil niemand sie vor der unsichtbaren Bedrohung, die sich in der Atmosphäre befand, warnte. — stop /Koffertext
von der killerimpfung
nordpol : 20.18 UTC — Grad sind wir aus dem Zug gestiegen, stehen noch auf dem Bahnsteig. Sie will mir noch etwas sagen. Dass ich nur deshalb noch am Leben sei, weil jene erste und jene zweite Impfung, die ich erhalte, habe im vergangenen Sommer, Köderimpfungen gewesen seien. Man tue so, als wäre mit den Impfungen alles in Ordnung. Ein Irrtum, fatal! Juden wurden von diesen verdammten Nazis damals auch getäuscht. Und jetzt geht das wieder los. Sie spricht mit leiser Stimme, sehr seltsam: Alle diese dummen Menschen, die noch gezögert haben, werden jetzt, heute, in dieser Minute, mit der eigentlichen, der tödlichen Dosis gespritzt. Dass ich bereits die dritte Impfung empfangen habe: Schade! Das war für Dich die Killerimpfung, jetzt machen sie den Sack zu. — Sie schaut mich ernst und traurig an. Ihr Rollkoffer quietscht ein wenig, wie sie davongeht. — stop
giudecca
himalaya : 4.52 UTC — Eine digitale Apparatur berichtete mir heute, irgendjemand, ein Mensch, der möglicherweise in Kolumbien wohnt, habe einen particles – Text auf seinem Bildschirm vorgefunden. Ich frage mich, wie dieser entfernt lebende Mensch mit den Archiven meiner notierenden Arbeit in Verbindung gekommen sein könnte. Ein Zufall, das ist denkbar. Oder ein Irrtum? Wie lange Zeit wird mein Text, der im Mai 2008 aufgeschrieben worden war, dort auf einem Bildschirm lesbar gewesen sein. Plötzlich las ich meinen Text in einer Weise, als verfügte ich über fremde Augenpaare: Vielleicht kann ich, wenn ich an das Meer in den Straßen Venedigs denke, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbjahreswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Gewitter, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop
vom unsichtbaren
lima : 23.59 UTC — Ich war noch ein Kind gewesen, als ich von meinem Vater in einen unter der Erde liegenden Saal des Kernforschungszentrums CERN geführt wurde. Ich lernte dort die Unsichtbarkeit kennen. Es war inmitten einer Nacht, der Saal grell beleuchtet, Dioden blinkten, orangefarbene Warnleuchten drehten sich langsam. Und da war das Rauschen der Luft, die kühl durch den Saal strich, ein beständiger Wind, weswegen in einer Hochsommernacht doch alle Menschen, die in dem Saal zu beobachten waren, warme Kleidung trugen. Mein Vater und ich standen auf einer Brücke, die über einen Korridor führte, der vollständig leer zu sein schien. Aber das war natürlich ein Irrtum, dort gleich unter uns schoss nämlich ein Strahl hochenergetischer Teilchen durch die Luft, der jeden Menschen sofort getötet hätte, wenn er dort unten hindurchspaziert wäre. Mein Vater deutete hinab und versuchte mir das Unsichtbare zu erklären. Nicht sichtbar, weil zu schnell, sagte mein Vater, und zu klein. Ich war so berührt von der möglichen Wirkung des Unsichtbaren, dass ich immer wieder dorthin zurückkehren wollte, um das Unsichtbare zu besuchen. Überhaupt ist das Unsichtbare, das aber doch der Fall ist, ein wundervolles Phänomen. Oder jenes gemeinsame Wesen, das nur den Liebenden sichtbar wird. — Mit dieser Minute endet Louis’ 20646 Lebenstag. — stop
helsinki turku
zoulou : 0.05 — Einmal folge ich einem Mann namens Nuuri durch einen Zug, der sich sehr langsam von Helsinki nach Turku bewegt, es schneit. Der Mann, der stets eine helle wollene Mütze trägt, ist den Pendlern, die ihre Samstage und Sonntage in Turku verbringen, gut bekannt, sie scheinen nur darauf zu warten, seine heisere Stimme bald hören zu können: Wolken! Wolken! Das Stück Wolke zu 50 Cent zu verkaufen. Wer Nuuri nicht bereits einmal erlebte, wird vermutlich meinen, ein sehr seltsamer Mensch wandere durch die Abteile des scheppernden Zuges. Aber das würde ein Irrtum sein, Nuuri verkauft tatsächlich sehr kleine, wirkliche Wolken von Wasserdampf. Sie schweben über Baumminiaturen, welche dicht an dicht aus Fächern wachsen, die Nuuri mittels eines Bauchladens vor sich herträgt. Ein feines Netz gläserner Fäden ist wie eine Kuppel über der wilden Landschaft aufgespannt. Sobald man sich mit Augen, Ohren, Nase nähert, wird man wispernde Affenstimmen vernehmen, Vögel sind zu erkennen, die über Baumwipfel kreisen, und ein Panther so groß wie eine Ameise, der sich auf einer Lichtung wälzt. Und eben Wolken, Wolken, die man kaufen kann, sie blitzen und knallen von Zeit zu Zeit, es duftet sofort nach Schwefel, nach einem Löffel voll glimmenden Schwefels. Sobald man nun eine Wolke zu kaufen wünscht, eine Wolke zu 50 Cent, gebe man ein Handzeichen. Nuuri wird dann unverzüglich Platz nehmen, ein freundlicher Mensch. Er wird sich erkundigen, welche Wolke es denn sein soll. Und während man nun unter den Wolken, es sind viele, eine geeignete Wolke suchen wird, wird Nuuri von Turku und vom winterlichen Eis auf dem Meer und der Stille im Ohr erzählen, und wie es überhaupt möglich sein kann, einen Ameisenpanther zu füttern. — Ende der Wolkengeschichte. — stop
unter wasser
delta : 22.58 — Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich durch meine Wohnung tauchen könnte. Machte mich unverzüglich an die Arbeit. Zunächst stieg das Wasser in den Zimmern. Es kam nicht von oben, sondern von unten, das Wasser kam wie ein Gast durch die Wohnungstür herein, die geschlossen war, aber nicht wirklich dicht. Es stieg schnell, viel zu schnell, um meine Bücher noch in Sicherheit bringen zu können. Saß auf einem Stuhl in der Küche, die Füße auf dem Boden, als das Wasser, bernsteinfarben und warm, eine Steckdose erreichte. Ich erwartete, von einem Wandblitz getroffen zu werden, ein Irrtum. Stattdessen begann ich zu leuchten, zunächst leuchtete ich mit den Händen, dann leuchteten meine Arme. In dem Moment, da das Wasser meinen Mund erreichte, holte ich tief Luft und tauchte los. Eine Banane schwebte vorüber wie ein Fisch, Papiere und Zeitungen und zwei heftig zappelnde Mäuse, von deren Existenz ich nichts ahnte. Die Schreibmaschine auf dem Tisch funktionierte noch, wie alle Lampen in der Wohnung. Und so schwebe ich nun also gerade kopfüber und schreibe. Schöne Geräusche sind zu hören, es knistert, vielleicht bin ich das selbst. Später Abend. — stop
sophia
echo : 2.10 — Ludwig schickte mir einen Wecker, der es in sich hat. Als würden fünf oder sechs Bienen im Weckergehäuse ihre Runden drehen, solch ein Geräusch kommt aus dem Wecker. Eigentlich sieht der Wecker aus wie jeder andere Wecker seiner Art, etwas altmodisch in der Gestaltung. Er ruht auf drei Beinchen, und sein Zifferblatt ist rund und mit einer Zeichnung geschmückt, irgendwelche Blumen, Blüten, weiß, rot und blau. Oben auf dem Wecker sitzen zwei metallene Schirme fest, zwischen ihnen ruht ein Kegel, damit könnte der Wecker sich verständigen, wenn man ihn dazu auffordern sollte. Natürlich handelt es sich bei diesem Wecker, den Ludwig mir schickte, um einen besonderen Apparat, der nicht nur die Zeit messen, sondern angeblich auch Zeiträume auslöschen kann, in dem er jedes menschliche Wesen, das sich in seiner Nähe aufhält, in den Schlaf zu schicken vermag. Ja, tatsächlich, kein Irrtum. Man habe, hörte ich, Ludwigs Geliebte Sophia unlängst aufgefunden, wie sie vor einem Wecker saß, genau so einem Wecker, wie Ludwig ihn mir schickte. Lange Zeit war sie verschwunden gewesen. Als man ihre Wohnung gewaltsam öffnete, war nichts zu hören als ein Radio, das leise spielte. Sophia saß in der Küche vor dem Küchentisch, ihr Kopf war etwas geneigt von der Schwerkraft, ihre Hände lagen im Schoss, ein Glas, das Wasser darin weitgehend verdunstet, stand neben dem Wecker auf dem Tisch. Sie wirkte friedvoll, schien zu lächeln, vermutlich hatte sie bis zuletzt geschlafen. Schmal war sie geworden und blass, ihre Haut fühlte sich an, als wäre sie von Papier. Die Luft im Raum muss schwer gewesen sein, und süß und scharf in gleicher Weise. Alle, die sich dem Wecker auf dem Tisch näherten, schliefen auf der Stelle ein, sodass man sich nicht anders zu helfen wusste, als auf den Wecker zu schießen. — stop
lamelleniris
foxtrott : 15.07 — Die Suchmaschine, von der ich gestern noch träumte am helllichten Tag, war so groß wie eine Streichholzschachtel. Sie hockte auf meinem Sofa und rührte sich nicht. Indem ich sie betrachtete, wirkte sie zunächst so, als wäre sie vollkommen unbeweglich, denn es waren an dem Suchmaschinenwesen keine Beine zu erkennen, dafür an jeder Seitenfläche ein kleines Auge, mit dem es sogar zwinkern konnte. Seine Haut ähnelte der Haut eines jungen Elefanten, es hatte jedoch keine Ohren und auch keine Arme oder Hände, tatsächlich wirkte das Wesen in diesem Moment als könnte es sich nicht von der Stelle bewegen. Welch ein Irrtum! Das Wesen konnte ganz anders, es konnte sich zum Beispiel von meinem Sofa erheben und durch die Luft fahren wie ein Ballon. Dazu holte es tief Luft, wurde größer und immer größer, bis es in etwa doppelt so groß geworden war wie zuvor. In dieser neuen Gestalt flog die kleine Suchmaschine in Richtung meines Bücherregals davon. Es war nun in diesem Flug kein Geräusch zu hören, vollkommen lautlos schwebte sie durch mein Zimmer, wurde von einem Luftzug kurz aus der Bahn geworfen, fing sich wieder und ich rief ihr noch zu: Lamelleniris! Es war erstaunlich, ein kleines Wunder. Das Wort schien sie zu beschleunigen, sie erreichte rasch mein Regal und flog von links nach rechts die Reihe der Buchrücken entlang, hielt vor jedem der Bücher einmal kurz an, und sie erweckte den Eindruck, als ob sie sich in jedem dieser Momente tatsächlich mit dem Buch selbst beschäftigte, in das Buch hineinsah oder von seinem Duft kostete, wie auch immer. Nach einigen Flügen auf und ab, hielt sie vor einem der Bücher an, es handelte es sich um eine kleine Geschichte der Fotografie, die von Peter Nadas aufgeschrieben worden war. Nun wird man nicht glauben, was dann zu sehen war. Die kleine Suchmaschine machte sich an dem Buch zu schaffen, sie schien über unsichtbare Werkzeuge zu verfügen, ein Buch in den Griff zu bekommen. Und das Buch parierte, es ließ sich aus dem Regalfach lösen und flog mit der kleinen Maschine, die sich unter das Buch begeben hatte, durch den Raum zu mir zurück, um in meiner Nähe sanft zu landen. Behutsam setzte sie sich neben das Buch, das sie für mich herbeigeholt hatte und bedeutete mir mit stillem Nachdruck: Schau her, hier ist das Buch, in dem das Wort Lamelleniris enthalten ist. Und so waren wir immerhin schon einen Schritt weiter als noch zuvor. — stop
lenox hill : vertikal
zoulou : 20.25 — Es ist jedes Mal ein aufregender Moment, wenn sich die Kabine des Aufzuges vom 22. Stockwerk aus nach unten zu bewegen beginnt. Ich werde etwas größer für ein oder zwei Sekunden, ich kann das im Spiegel, der die Rückwand meines Reisebehälters vollständig bedeckt, genau erkennen, ich werde etwas größer, oder ich verliere den Boden unter den Füßen, es ist ein wirklicher Moment des Fallens, ein Raum der Zeit, der bereits vorüber ist, ehe man ihn mit Wortbedeutung ausgesprochen haben mag: Sekunde. Aber dann stehe ich schon wieder fest auf dem Boden, bin so groß wie zuvor, ein Irrtum natürlich, nicht die Größe, aber dass ich sicheren Boden unter meinen Schuhen haben würde, weil ich doch abwärts rase, was ich am wandernden Licht der Zahlenreihe, die sich neben der Kabinentüre befindet, erkenne. Außerdem knistern meine Ohren und ich habe den Eindruck, dass auch mit meinen Augen etwas anders geworden sein könnte, ein Drama vielleicht, das sich hier gerade zu entfalten beginnt. Vor vier Wochen noch hatte ich einmal im Aufzug einen Spaziergang unternommen, rasch, wie ein Tier in seinem Käfig hin und her, ich wollte mich sehen, wie ich im Fallen zu gehen vermag, ein lustiger Anblick, nehme ich an, weil ich kurz darauf den Eindruck hatte, der kleine Wächter im Foyer habe ein ironisches Lächeln im Gesicht getragen, vielleicht weil er mich beobachtet hatte mittels einer Kamera, die sich in einer der oberen Winkel der Kabine befindet. Seltsam ist, man wird scheinbar nicht kleiner, wenn man das Erdgeschoss erreicht, obwohl man doch schnell langsamer wird, gestaucht, meine ich, gepresst und diese Dinge. Ich habe weiterhin beobachtet, dass ich, indem ich den Aufzug verlasse, je eine leichte Linkskurve nehme, die so nicht geplant ist. Meine Schneckengänge, meine Labyrinthe im Kopf, daran könnte es liegen. — stop