Aus der Wörtersammlung: jahre

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mrs. callas betrachtet raissa orlowa und lew kopelew

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nord­pol : 0.01 — Kam von einem Besuch bei Freun­den nach Hau­se zurück, und wie ich so in mei­ne Woh­nung stol­per­te, ent­deck­te ich Mrs. Cal­las, die wei­nend vor einer Foto­gra­fie stand, vor einer Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie, die ich seit vie­len Jah­ren besit­ze und mir immer wie­der sehr ger­ne anse­he. Natür­lich wun­der­te ich mich, dass Mrs. Cal­las wein­te, weil die Foto­gra­fie zwei alte Men­schen zeigt, eine Frau und einen Mann, die fried­voll Sei­te an Sei­te in einer Küche an einem Tisch sit­zen. Rais­sa Orlo­wa, liest ihrem alten Mann, Lew Kope­lew, viel­leicht aus einem Buch vor. Und ich frag­te Mrs. Cal­las, war­um sie denn wei­nen wür­de, das sei doch eine sehr beru­hi­gen­de Foto­gra­fie. Ich glau­be, setz­te ich hin­zu, sie sind glück­lich. Mrs. Cal­las ant­wor­te­te unver­züg­lich mit Ernst in der Stim­me, ja, das sind sie, glück­lich, ganz sicher sind sie sehr glück­lich. Ich wün­sche mir für mich ein Ende wie die­ses hier an der Wand, Mr. Lou­is. Sie müs­sen mir ein ande­res Ende schrei­ben! – Und so sit­ze ich nun müde auf dem Sofa und notie­re die­se Geschich­te, wäh­rend Mrs. Cal­las mich hoff­nungs­voll beob­ach­tet. Wie nur könn­te ich sie trös­ten, weil ich doch vor ihrem Schick­sal ohn­mäch­tig bin? Viel­leicht könn­te ich erzäh­len, dass ich Lew Kope­lew in Mün­chen ein­mal für weni­ge Sekun­den begeg­ne­te. Ich könn­te ihr beschrei­ben, wie er mir am Haupt­bahn­hof aus einer Men­schen­men­ge her­aus ent­ge­gen­kommt, wie ich sei­ne Erschei­nung, sei­ne statt­li­che Grö­ße, sei­nen schloh­wei­ßen Bart bewun­de­re. Und ich könn­te Mrs. Cal­las berich­ten, wie Lew Kope­lew mei­nen Blick bemerkt, wie er mich freund­lich betrach­tet und wie er mei­nen nicken­den Gruß erwi­dert, weil er in mei­nem Blick gese­hen haben wird, dass ich ihn für lan­ge Zeit gele­sen habe und immer wie­der lesen wer­de. – Ja, viel­leicht soll­te ich Mrs. Cal­las von die­sen Sekun­den mei­nes Lebens erzäh­len, und dass es erhol­sam sein könn­te, sich zunächst ein­mal zur Ruhe zu legen für zwei oder drei Tage.

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geraldine wünscht

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alpha

~ : geraldine
to : louis
sub­ject : GERALDINE WÜNSCHT

Seit zwei Tagen fah­ren wir sehr lang­sam im Kreis auf dem Atlan­tik her­um. Ich kann das noch immer nicht glau­ben. Als ob mein sehn­li­cher Wunsch, Sout­hamp­ton nie­mals zu errei­chen, in Erfül­lung gehen wür­de. Viel­leicht träu­me ich das alles nur. Oder ich bin in mei­nem Hof­fen so weit gekom­men, dass alle Wün­sche in Erfül­lung gehen. Irgend­je­mand sag­te, wir wür­den Schiff­brü­chi­ge suchen. Ein Gerücht neh­me ich an. Wir Men­schen brau­chen immer Gerüch­te, wenn etwas geschieht, das unge­wöhn­lich ist. Wir könn­ten noch Jah­re so her­um­fah­ren, ich hät­te nichts dage­gen. Wür­de an der Reling sit­zen und die Far­ben des Was­sers beob­ach­ten. Heu­te ist das Meer von einem hel­len Blau, sil­bern glänzt es, weil uns Fische beglei­ten, deren Rücken weiß und grün im Licht der Son­ne glit­zern. Ich kann mei­nen Blick nicht abwen­den von die­sem Was­ser­licht, für das ich kei­ne Wor­te fin­de. Ges­tern, Mr. Lou­is, habe ich mei­ne sei­de­nen Hand­schu­he getra­gen hier oben an Deck in der kal­ten Luft, mei­ne fei­nen Hand­schu­he zum Tan­zen, Hand­schu­he, die nur ein Hauch sind, mei­ne Haut schim­mer­te durchs Gewe­be. Natür­lich hat­te ich noch Fäust­lin­ge dar­über gezo­gen. Als der Ste­wart kam, – Sie wis­sen, der jun­ge Mann, von dem ich schon erzähl­te, – habe ich sie aus­ge­zo­gen und ihm heim­lich mei­ne klei­nen Hän­de dar­ge­bo­ten. Lan­ge habe ich so gestan­den und zuge­se­hen, wie er sie betrach­te­te, ohne sie zu berüh­ren. Mei­ne Knie, Mr. Lou­is, haben gezit­tert, weil ich unend­lich schwach gewor­den bin, aber die­ser Blick auf mei­ne Hän­de, die­ser Blick, der mei­ne Hän­de lieb­te, hat­te mir Kraft gege­ben und auch das Wün­schen und dass wir Sout­hamp­ton nie­mals errei­chen wer­den. – Ihre Geral­di­ne auf hoher See.

notiert im Jah­re 1962
an Bord der Queen Mary
auf­ge­fan­gen am 20.12.2008
22.12 MEZ

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auftauchen

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alpha : 0.28 — Immer wie­der ein Bild vor Augen, ein Bild lang­sam vor­rü­cken­der Zeit. stop. Die Ober­flä­che des Atlan­ti­schen Oze­ans vor Neu­fund­land. stop. Kei­ne Bewe­gung, nicht die kleins­te Wel­le. stop. Auch am Him­mel, kei­ne Wel­len, kein Flug­zeug, kein Vogel. stop. Abso­lu­te Stil­le. stop. Minu­ten­lan­ge Stil­le. stop. Tage der Stil­le, Mona­te, Jah­re. stop. Jetzt ein Schat­ten. stop. Der Schirm der Was­ser­ober­flä­che öff­net sich. stop. Der Helm eines Tief­see­tau­chers erscheint. stop. Schwe­res Gehäu­se. stop. Trie­fen­de Muscheln. stop. Eine Hand. stop. Die Gestalt einer eiser­nen Hand, wie sie nach ros­ti­gen Schrau­ben tas­tet. stop. Wie der Helm des Tau­chers, durch die Luft fliegt. stop. Das Gesicht eines Man­nes, des­sen Haut schnee­weiß ist. stop. Eine Schne­cke ohne Gehäu­se, die auf sei­ner Stirn sitzt. stop. Sie scheint zu gra­sen. stop. Der Mann, wie er sich umsieht. stop. Wie er blin­zelt, wie er lächelt. stop. Flüs­tert. stop. stop. Obwohl ich ver­su­che, so nahe wie mög­lich her­an­zu­kom­men, ist doch kein Wort zu ver­ste­hen. stop. Jetzt winkt er. stop. stop. Ein hei­te­res Bild. stop. Ein Bild, in dem Zeit ent­hal­ten ist. stop. stop. Wer end­lich ver­haf­tet Robert Muga­be? stop. stop. 0.52 in Musi­na, süd­li­ches Afri­ka. — stop

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eisblumen

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nord­pol : 8.05 — Ich muss eine bemer­kens­wer­te Erschei­nung gewe­sen sein. Stand vor dem Schreib­tisch, hat­te mei­nen rech­ten Arm senk­recht in die Luft gestreckt, übte mit dem Zei­ge­fin­ger die krei­sen­de Bewe­gung eines Pro­pel­lers. Beob­ach­te­te das sub­ku­ta­ne Spiel der Mus­keln, bemerk­te wei­te­re Bewe­gung unter dem Hemd, krem­pel­te das Hemd bis zum Ellen­bo­gen hoch. stop. Die klei­ne uralte Nar­be am Dau­men. stop. Spur einer gro­ßen Geschich­te. stop. Der Geschmack von Honig im Mund. Das Sum­men der Bie­nen. Die nack­ten Bei­ne eines Mäd­chens. Ihre hei­ße Hand, die mei­nen schwel­len­den Dau­men unter­sucht. Atem, der kühl ist. Eine hel­le Stim­me, so vie­le Jah­re alt. Som­mer­blu­men. Wol­ken. Schlaf. Das schmel­zen­de Eis auf mei­ner Stirn. — stop

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seide

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alpha : 6.55 — Ges­tern Abend um 22 Uhr und 8 Minu­ten fol­gen­de E‑Mail: „Und? Hat Nabo­kov schon geant­wor­tet? N.“ Seit­her war­te ich. Als ob ich in den ver­gan­ge­nen Wochen nicht genug gewar­tet hät­te. Auf Schnee, zum Bei­spiel. Heming­way, vor zwei Jah­ren, ant­wor­te­te gar nicht, Lowry nach drei Mona­ten und in einer Wei­se, die ich bis heu­te nicht ent­rät­selt habe. Aber Dju­na Bar­nes, um Him­mels wil­len, Dju­na Bar­nes, als hät­te sie mei­ne Zei­len erwar­tet, ant­wor­te­te noch in der Stun­de mei­nes Schrei­bens. stop. Ich muss das suchen. stop. Geräu­schwort für 750000 vor­wärts schla­gen­de Her­zen bis­her nicht ent­deckt. stop Regen. stop. Sei­dig. stop. Als wür­de der Erd­bo­den schwit­zen. — stop

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geraldine : ein wunder geschieht

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nord­pol

~ : geraldine
to : louis
sub­ject : EIN WUNDER GESCHIEHT

Als es noch dun­kel war, bin ich wach gewor­den, weil das Schiff unter mir schlin­ger­te. Was­ser schlug gegen das Bull­au­ge über mei­nem Bett. Ich setz­te mich auf und spür­te, dass ich an die­sem Tag Kraft haben wür­de. Ich hat­te so viel Kraft, dass ich mühe­los mei­nen Bade­man­tel und mei­ne Jacke anzie­hen konn­te. Nur als ich mir die Schu­he bin­den woll­te, wur­de mir schwin­de­lig und ich wäre um ein Haar umge­fal­len. Wis­sen Sie, Mr. Lou­is, dass ich plan­te, ganz allein für mich das Haupt­deck zu erklim­men. Ver­rückt, fin­den Sie nicht auch? Ich konn­te mich kaum auf den Bei­nen hal­ten, weil der See­gang mich schau­kel­te, aber ich schaff­te eine Trep­pe und noch eine Zwei­te, dann ging ich in die Knie. Ein älte­rer Herr weck­te mich, sei­ne Haut war schwarz und sein Haar schloh­weiß. Er half mir auf­zu­ste­hen, und ich sag­te ihm, dass ich das Haupt­deck errei­chen woll­te, aber anstatt mich vor das Meer zu set­zen, setz­te er mich in ein Café und hör­te mir zu und wun­der­te sich, dass ich so blass war. Ich habe ihm nichts von mei­nen schwe­ren Gedan­ken erzählt, aber davon, dass ich See­post­brie­fe an mei­ne Schwes­ter Yanuk schrei­be, die ich sehr lie­be, mei­ne Zwil­lings­schwes­ter, die ein Kind erwar­tet, ein Kind, das viel­leicht ein­mal wie sei­ne Mut­ter Yanuk hei­ßen wird. Ich glau­be, er freu­te sich, und dann erzähl­te er eine fei­ne Geschich­te. Er sag­te, dass er vor vie­len Jah­ren sehr ver­liebt gewe­sen sei. Die Frau, die er lieb­te, war eine wei­ße Frau gewe­sen, die in einer der bes­se­ren Gegen­den der Stadt wohn­te, wäh­rend er selbst in einem ärm­li­chen Vier­tel in einem Back­stein­haus leb­te. Anfangs schrieb sie ihm Brie­fe, sag­te der Mann, aber er hat­te die­se Brie­fe zunächst nicht erhal­ten, weil der Brief­kas­ten sei­nes Hau­ses ver­schwun­den war. Sie besuch­te ihn und frag­te, war­um er ihr nicht ant­wor­ten wür­de, und er erzähl­te, dass nicht nur der Brief­kas­ten ver­lo­ren gegan­gen sei, son­dern das gan­ze Haus sich in Auf­lö­sung befin­den wür­de. Dann geschah ein Wun­der. Am über­nächs­ten Tag kam ein Post­au­to mit einem Post­mann, der einen feu­er­ro­ten Brief­kas­ten an das Haus schraub­te, wäh­rend der alte Mann, der damals noch jung gewe­sen war, zuge­se­hen hat­te. Auf den Brief­kas­ten war die Adres­se sei­nes Hau­ses und sein Name geschrie­ben und er war mit einem Dut­zend groß­ar­ti­ger Brief­mar­ken beklebt. Natür­lich hat­te sich der alte Mann sehr gefreut. Und als er am nächs­ten Tag wie­der zum Brief­kas­ten ging, lag ein Brief für ihn dar­in. Ich muss­te wei­nen, Mr. Lou­is, als ich die­se Geschich­te hör­te. Dann trug mich der alte Mann mit einem Ste­ward in mei­ne Kajü­te, und da sit­ze ich nun auf mei­nem Bett und schrei­be an Sie, wäh­rend die Gischt über mei­nem Bett mit mei­nem Bull­au­gen­fens­ter spricht. — Ihre Geral­di­ne auf hoher See.

notiert im Jah­re 1962
an Bord der Queen Mary
auf­ge­fan­gen am 03.12.2008
22.08 MEZ

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yanuk : zeitherz

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marim­ba

~ : yanuk le
to : louis
sub­ject : ZEITHERZ
date : nov 24 08 6.32 p.m.

Höhe 310. Beob­ach­te Pflan­zen seit drei Tagen. Auch in den Näch­ten, wenn ich unterm Pfei­fen der Mos­ki­tos nicht ein­schla­fen kann, war­te ich am Ran­de der Platt­form, las­se die Bei­ne bau­meln, hof­fe, dass der Schwarm schwe­ben­der Zwerg­see­ro­sen sich wie­der in Bewe­gung setz­ten wird. Lan­ge Stun­den der Ruhe, des Still­stan­des, stolz zei­gen sie ihre wei­ßen, ihre blau­en Blü­ten, schwim­men oder schwe­ben fast reg­los auf dem Nebel. Ist die­ser Nebel viel­leicht schon eine Wol­ke, bin ich so weit gekom­men, dass ich die Wol­ken­de­cke durch­sto­ßen habe? Ja, Stun­den der Bewe­gungs­lo­sig­keit, nur von einem leich­ten Wind­zug gestrei­chelt, aber dann, sehr plötz­lich, schlie­ßen sie zur sel­ben Sekun­de ihre locken­den Kel­che, eine Wel­le süßen Duf­tes wan­dert gegen den Him­mel, und es wird so still, als wären all die pfei­fen­den, sin­gen­den, krei­schen­den Geschöp­fe des Wal­des betäubt von der schwe­ren Sub­stanz der Pflan­zen­luft. Habe die Zeit gemes­sen, habe ver­sucht, einen Rhyth­mus des Schlie­ßens und Öff­nens zu fin­den, ver­geb­lich, viel­leicht, weil ich sie Jah­re beob­ach­ten müss­te, um ihre Fre­quenz zu ver­ste­hen. Ein­mal bin ich zurück in den Nebel getaucht, habe das Wur­zel­haar unter­sucht, fili­gra­ne Gefä­ße, rosa­far­ben, aber kei­ne Ver­bin­dung von Pflan­ze zu Pflan­ze. Ein Wun­der, wie sie das machen, syn­chron, simul­tan, als ver­füg­ten sie über ein gemein­sa­mes, ein gehei­mes Herz, das die Zeit zäh­len kann. – Wie­der letz­te Minu­ten vor Däm­me­rung. Das Rudel der Affen liegt um mei­ne Schreib­ma­schi­ne her­um. Du kannst Dir nicht vor­stel­len, Mr. Lou­is, von welch wei­cher, geschmei­di­ger Gestalt glück­li­che Affen sind. Selbst die Kno­chen ihrer klei­nen Köp­fe schei­nen der Schwer­kraft nach­zu­ge­ben. — Cucur­ru­cu! Yanuk

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22.18 UTC
1686 Zeichen

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geraldine : walfisch

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nord­pol

~ : geraldine
to : louis
sub­ject : WALFISCHE

Ich habe das Mit­tag­essen ver­schla­fen. Vor­mit­tags war ich schon auf dem Haupt­deck, schöns­tes Wet­ter, kei­ne Wol­ke am Him­mel, das Meer ganz ruhig. Papa hat mich hoch­ge­tra­gen, es ist anstren­gend für ihn, obwohl er nicht sehr alt ist, aber ich bin kein leich­tes Mäd­chen. Papa sag­te, man habe ihm von Walen erzählt, die auf dem Radar­schirm sicht­bar gewe­sen sei­en. Es ist also mög­lich, dass ich heu­te Wale sehen wer­de. Merk­wür­dig, ich sage immer Wale, aber ich den­ke Wal­fi­sche. Und so war­te­te ich auf die Wal­fi­sche und wäh­rend ich war­te­te, bin ich ein­ge­schla­fen. Es war sehr warm gewor­den unter der Decke, die Papa über mich gebrei­tet hat­te. Als ich auf­wach­te, war das Mit­tag­essen längst vor­bei und der jun­ge Mann, der Ste­wart, von dem ich Ihnen schon geschrie­ben habe, saß neben mei­ner Lie­ge auf dem Boden. Er hat­te ein Fern­glas dabei. Ich glau­be, er hat­te das Fern­glas für mich mit­ge­bracht. Ich habe zuerst noch so getan, als wür­de ich schla­fen, und habe ihn mir ange­schaut, Sie ver­ste­hen, Mr. Lou­is, Seh­schlitz­au­gen. Er ist hübsch. Er mag die Son­ne. Er mag die Son­ne sehr. Und fast bin ich mir sicher, dass er mich wie die Son­ne mag. Oft ist er in mei­ner Nähe. Wenn er nur nicht immer so trau­rig schau­en wür­de. Mal sieht er mich ver­liebt an, dann wie­der, als wür­de es reg­nen in sei­nem Her­zen. Viel­leicht weiß er, dass ich sehr krank bin, ja, viel­leicht weiß er das, und trotz­dem ist er ver­liebt. Das wär schön, wenn er sich in mich ver­lie­ben könn­te, obwohl er weiß, dass ich sehr krank bin. Ich habe mir oft gedacht, dass ich allei­ne bin, ein­sam, weil die jun­gen Män­ner mit einem kran­ken Mäd­chen kei­ne Lie­be haben wol­len, obwohl ich ein schö­nes Mäd­chen bin. Oh, wie glück­lich wäre ich, wenn er alles von mir wüss­te. Ich müss­te nichts ver­ber­gen. Wale haben wir bis­lang kei­ne gese­hen. Viel­leicht spä­ter, viel­leicht am Abend. – Ihre Geral­di­ne auf hoher See

notiert im Jah­re 1962
an Bord der Queen Mary
auf­ge­fan­gen am 16.11.2008
22.27 MEZ

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schlafende wale

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nord­pol : 0.12 — Kurz nach Mit­ter­nacht. Notier­te fol­gen­den Text: „Das Meer ruhig. Nichts zu hören, nur das Bla­sen der Wale. Küh­les Geräusch von Was­ser, von Luft. Sie lie­gen um die Ret­tungs­in­sel her­um. Habe den Ein­druck, sie war­ten. 12 Tie­re. Gewal­ti­ge, wei­ße Kör­per. Hel­le Augen, schwarz gezeich­ne­te Flos­sen. Auch das Heck, schwarz. Längs, über den Rücken hin, eine hand­brei­te Zeich­nung, oran­ge­far­ben und exakt, als sei sie von einer Maschi­ne auf­ge­tra­gen. Sie wer­den ein oder zwei Stun­den unter Was­ser gewe­sen sein, viel­leicht waren es fünf, viel­leicht sechs, viel­leicht sie­ben Stun­den. Die Luft riecht nach Metall, nach Salz, nach Tang. Von Zeit zu Zeit tau­chen sie ab, kreu­zen unter der Insel, ohne uns zu berüh­ren, ohne das Was­ser zu bewe­gen, als woll­ten sie uns scho­nen. Auch Mrs. Ander­son, unbe­wegt. Kei­ne Raub­fi­sche. War­te auf Ret­tung. Joe Ellis hier — Joe Ellis — Rufe Lon­don.“ — In die­sen Tagen, da ich einen atlan­ti­schen Text ver­tie­fe, immer wie­der das Stau­nen dar­über, dass ich in einer Art und Wei­se über Wale schrei­be, als hät­te ich Jah­re an ihrer Sei­te schwim­mend zuge­bracht. – stop

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nadja einzmann : zeit vergeht

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tan­go : 8.25 — Ein war­mer Wind weh­te ges­tern Abend Laub von der Stra­ße her ins Café. Lausch­te einer ange­neh­men Stim­me. Hör­te eine Geschich­te, die ein­mal mei­ne Geschich­te gewe­sen war und noch immer zu mir gehört und doch eine aus­ge­wan­der­te, eine geschenk­te Geschich­te ist. Die­se Geschich­te schil­dert eine ers­te Wahr­neh­mung der Zeit. Als ich sie vor zwei oder drei Jah­ren an genau jenem Tisch erzähl­te, an dem sie nun aus einem Buch vor­ge­le­sen wur­de, hat­te ich nicht die Erwar­tung, sie ein­mal kunst­voll zwei Sät­zen ein­ge­schrie­ben und gedruckt zu sehen: Sei­ne viel­leicht ers­te Erin­ne­rung, dass er unter dem Weih­nachts­baum liegt und sich in einer roten Weih­nachts­ku­gel spie­gelt. Als er sich im fol­gen­den Jahr wie­der so gespie­gelt vor­fin­det, denkt er zurück und weiß auf ein­mal, dass Zeit ver­gan­gen ist, dass Zeit ver­geht. Nad­ja Einzmann

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