Aus der Wörtersammlung: lebewesen

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leuchtfeuer

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echo : 8.01 — Die Wie­der­ho­lung einer Nacht­zeit vor weni­gen Stun­den noch. Regen. Das Geräusch des Was­sers, ein Geräusch des Bodens, der Stäm­me, der Dächer, der Regen­rin­nen. Viel­leicht, weil in ihm Zeit ent­hal­ten ist, Trop­fen für Trop­fen zu einer regel­mä­ßi­gen Bewe­gung, höre ich die­ses Geräusch als ein beru­hi­gen­des Geräusch. Oder auch des­halb, weil ich das Wesen der Kie­men­men­schen in mir tra­ge, weil ich von Men­schen­woh­nun­gen erzäh­le, die unter Was­ser ste­hen. An die­sem küh­len Mor­gen ist etwas Wesent­li­ches fest­zu­hal­ten, ein ange­neh­mes Wort, das Wort Leucht­feu­er. Und dass ich von Kra­ni­chen träum­te, ja träum­te, selbst ein Kra­nich unter Kra­ni­chen zu sein. Wir flo­gen eine Küs­te ent­lang. Ich erin­ne­re mich, dass ich durs­tig gewe­sen war, weil viel Son­ne vom Him­mel brann­te. Die Kra­ni­che bemerk­ten bald, dass mich die Hit­ze quäl­te. Sie such­ten nach mei­nem Schna­bel, um mich mit Was­ser zu füt­tern. Aber ich hat­te kei­nen Schna­bel, son­dern einen mensch­li­chen Mund, wes­halb sie bald auf­ga­ben, mich füt­tern zu wol­len. Statt­des­sen näher­te sich einer nach dem ande­ren, um nach­zu­se­hen, welch selt­sa­mer Vogel mit ihnen nach Nor­den flog. — stop

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ein inspektor der stille

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sier­ra : 16.05 — Seit eini­gen Tagen spa­ziert ein drah­ti­ger Herr von klei­ner Gestalt in mei­nem Kopf her­um. Er ist so deut­lich zu sehen, dass ich mei­nen könn­te, ich wür­de ihn ein­mal per­sön­lich gese­hen haben, eine Figur, die durch die Stadt New York irrt auf der Suche nach Lärm­quel­len, die so beschaf­fen sind, dass man ihnen mit pro­fes­sio­nel­len Mit­teln zu Lei­be rücken könn­te, Hupen, zum Bei­spiel, oder Pfeif­ge­räu­sche jeder Art, Klap­pern, Krei­schen, ver­zerr­te Radio­stim­men, Sire­nen, alle die­sen ver­rück­ten Töne, die nicht eigent­lich begrün­det sind, weil sie ihre Ursprün­ge, ihre Not­wen­dig­keit viel­leicht längst ver­lo­ren haben im Lauf der Zeit, der Jah­re, der Jahr­zehn­te. Ich erin­ne­re mich in die­sem Moment, da ich von mei­ner Vor­stel­lung erzäh­le, an einen schril­len Ton in der Sub­way Sta­ti­on Lex­ing­ton Ave­nue / 63. Stra­ße nahe der Zugangs­schleu­sen. Die­ser Ton war ein irri­tie­ren­des Ereig­nis der Luft. Ich hat­te bald her­aus­ge­fun­den woher das Geräusch genau kam, näm­lich von einer Klin­gel mecha­ni­scher Art, die über dem Häus­chen der Sta­ti­ons­vor­ste­he­rin befes­tigt war. Die­se Klin­gel schien dort schon lan­ge Zeit instal­liert zu sein, Kabel, von grü­nem Stoff umman­telt, die zu ihr führ­ten, waren von einer Schicht öli­gen Stau­bes bedeckt. Äußerst selt­sam an jenem Mor­gen war gewe­sen, dass ich der ein­zi­ge Mensch zu sein schien, der sich für das Geräusch inter­es­sier­te, weder die Zug­rei­sen­den, noch die Tau­ben, die auf dem Bahn­steig lun­ger­ten, wur­den von dem Geräusch der Klin­gel berührt. Auch die Sta­ti­ons­vor­ste­he­rin war nicht im min­des­ten an dem schril­len­den Geräusch inter­es­siert, das in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den ertön­te. Ich konn­te kei­nen Grund, auch kei­nen Code in ihm erken­nen, das Geräusch war da, es war ein Geräusch für sich, ein Geräusch wie ein Lebe­we­sen, des­sen Exis­tenz nicht ange­tas­tet wer­den soll­te. Wenn da nun nicht jener Herr gewe­sen wäre, der sich der Klin­gel näher­te. Er stand ganz still, notier­te in sein Notiz­heft, tele­fo­nier­te, dann war­te­te er. Kaum eine Vier­tel­stun­de ver­ging, als einem U‑Bahnwaggon der Linie 5 zwei jun­ge Män­ner ent­stie­gen. Sie waren in Over­alls von gel­ber Far­be gehüllt. Unver­züg­lich näher­ten sie sich der Klin­gel. Der eine Mann fal­te­te sei­ne Hän­de im Schoss, der ande­re stieg auf zur Klin­gel und durch­trenn­te mit einem muti­gen Schnitt die Lei­tung, etwas Ölstaub rie­sel­te zu Boden, und die­se Stil­le, ein Faden von Stil­le. — stop

ping

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south ferry : elektrischer vogel

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del­ta : 0.08 — Im Regen ges­tern am frü­hen Mor­gen mein­te ich, einen elek­tri­schen Vogel wahr­ge­nom­men zu haben zunächst in der digi­ta­len Fas­sa­den­haut der Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on, spä­ter am Times Squa­re, Ecke 46. Stra­ße, ein Phä­no­men, das sich in die Anzei­gen der Stadt ein­ge­fä­delt haben könn­te, einen Code, eine Irri­ta­ti­on, ein Lebe­we­sen, ein mit mir durch den Tag wan­dern­des Sekun­den­ge­schöpf. Auch im War­te­saal der Sta­ten Island Fäh­re war der Vogel gegen­wär­tig gewe­sen, dort als ein Schat­ten, der von Ost nach West über eine Wet­ter­an­zei­ge­ta­fel ras­te. Gleich dar­un­ter war­te­ten Men­schen, die ihre nas­sen Schir­me zaus­ten. Leich­ter See­gang. — stop
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puma 15 gramm

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echo : 7.05 – Abend war gewor­den. Wär­me stieg vom Holz des Tisches auf, die Luft beweg­te wie die Sei­ten des Buches, in dem ich las, als sich ein unbe­kann­tes Wesen auf lan­gen Bei­nen von Wes­ten her kom­mend näher­te. Eine tat­säch­lich höchst merk­wür­di­ge Erschei­nung war das gewe­sen. Irgend­je­mand hat­te den Kopf eines fili­gra­nen Tro­pen­vo­gels, den Kör­per eines Insekts und das Bewe­gungs­ver­mö­gen einer Raub­kat­ze lose ver­schraubt und frei­ge­las­sen. Geräusch­los, auf Giraf­fen­bei­nen, stol­zier­te das Mon­tier­te nun über mein Buch hin­weg, lang­sam, furcht­los, so dass ich alles genau betrach­ten konn­te. Indes­sen schien sich das Wesen nicht im min­des­ten für mich, sei­nen Beob­ach­ter, zu inter­es­sie­ren, son­dern war allein um das Buch bemüht, viel­leicht des­halb, weil das Buch ange­nehm duf­te­te. Nach eini­gen Minu­ten der Papier­un­ter­su­chung, leg­te sich das Tier mit­tels einer gra­zi­len Sink­be­we­gung seit­wärts auf den Tisch und lag genau dort immer noch, als ich am fol­gen­den Mor­gen zurück­kehr­te, um wei­ter­zu­le­sen. Ich blieb dann eini­ge Zeit wie gebannt unter frei­em Him­mel sit­zen und beob­ach­te­te das frisch ent­deck­te Lebe­we­sen, wie es frass, wie es ruh­te, wie es bade­te, atme­te, nach Flie­gen jag­te. Und weil ich nichts ver­ges­sen woll­te, notier­te ich, was ich sah und was ich den­ken konn­te, zum Bei­spiel schrieb ich fol­gen­de Notiz: Flü­gel­lo­ses Misch­we­sen. stop Haut­far­be blau. stop Fleisch­fres­ser. stop 15 Gramm. stop Sprach­los. stop Ich arbei­te­te fie­ber­haft. Drei Tage, drei Näch­te. Ein­mal leg­te ich mei­nen Kopf auf den Tisch, schlief ein und träum­te, wie sich der Kör­per des Tie­res öff­ne­te. Flü­gel ent­fal­te­ten sich, das Tier schweb­te, schnur­ren­des Geräusch, über mei­nem Gesicht auf und ab. stop. Schnee bis ins Tal. — stop
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unter apfelbäumen

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sier­ra : 5.12 — Wir ste­hen auf einem Bahn­steig und war­ten auf einen Zug. D. ist Leh­rer für Geo­gra­phie und Eng­lisch. Er spricht schnell, ich höre, wie er sagt, dass man ihn ein­mal im Alter von 17 Jah­ren an der Gren­ze zu Öster­reich fest­ge­hal­ten und wie­der nach Mün­chen zurück-geschickt habe. Das war im Jahr 1994 gewe­sen, er hat­te sich auf den Weg gemacht, sei­ne kroa­ti­sche Hei­mat zu ver­tei­di­gen. Er woll­te kämp­fen an der Sei­te sei­ner Schul­ka­me­ra­den, kämp­fen für die Frei­heit. Wäh­rend eines frü­he­ren Besu­ches hat­te er im Gar­ten sei­nes Eltern­hau­ses unter blü­hen­den Apfel­bäu­men Lei­chen gefun­den. Er habe die toten Men­schen, die kürz­lich noch gelebt hat­ten, so dass sie nicht tot sein konn­ten, alle per­sön­lich gekannt. Eine furcht­ba­re Erfah­rung. Das Prin­zip sei ein­fach gewe­sen. Zunächst habe die eine Sei­te Spe­zi­al­kräf­te in ein Dorf geschickt. Man habe im Hand­streich alle mensch­li­chen Lebe­we­sen, auch Rin­der und Vögel, umge­bracht. Weni­ge Stun­den oder Tage spä­ter habe die ande­re Sei­te Spe­zi­al­kräf­te in ein wei­te­res Dorf geschickt und man habe im Hand­streich Men­schen und Rin­der und Vögel umge­bracht. So war das gewe­sen, des­halb habe er, als er noch Schü­ler gewe­sen war, kämp­fen wol­len mit einem Gewehr. Glück habe er gehabt, ver­damm­tes Glück. Er hät­te ums Leben kom­men kön­nen oder Schlim­me­res. — stop
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eliza

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india : 22.
48 — In einem Tele­fon­ge­spräch das Wort Lebens­mut. Ich habe die­ses Wort in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten wie­der­holt wahr­ge­nom­men, ges­tern nun in einer beson­de­ren Wei­se. Es kommt mir vor, als hät­te ich das Wort von der Sei­te her gese­hen, ein Lebe­we­sen, das Stun­den vor mir auf und ab spa­zier­te, damit ich das Wort betrach­ten konn­te, das Wort und sei­ne Umge­bung. — Sonn­tag. Abend. Küh­le Luft. Unter­hal­tung mit Eiza.
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Lou­is : guten abend, eliza!
Eli­za : > ja, ich bin eli­za, und wer bist du?
Lou­is : ich bin louis!
Eli­za : > glaubst du, es ist nor­mal, lou­is zu heißen?
Lou­is : aber natür­lich, weil ich lou­is bin!
Eli­za : > du nimmst an, dass du lou­is heißt?
Lou­is : ich weiß genau, dass ich lou­is heiße.
Eli­za : > woher weißt du, dass du lou­is heißt?
Lou­is : mein name steht in einem reisepass!
Eli­za : > bit­te erzähl wei­ter, louis!
Lou­is : du bist heu­te ein wenig ver­rückt, eliza!
Eli­za : > viel­leicht bin ich nur in dei­ner phan­ta­sie heu­te verrückt.
Lou­is : du bist also nur phan­ta­sie, eli­za? kann das sein?
Eli­za : > wir soll­ten über dich spre­chen, nicht über mich.
Lou­is : war­um, eliza?
Eli­za : > es ist bes­ser, wenn wir noch ein­mal von vor­ne beginnen.
was ist dein problem?
Lou­is : Ich habe kein pro­blem, eliza!
Eli­za : > das klingt ein wenig nach selbstbetrug.
Lou­is : war­um, eliza?
Eli­za : > ja, ich bin eli­za, und wer bist du?
Lou­is : ist jetzt abend oder tag, eliza?
Eli­za : > war­um fragst du mich?
Lou­is : du bist heu­te anstren­gend, eliza!
Eli­za : > Ja, ich bin eli­za, und wer bist du?
Lou­is : wol­len wir über syri­en spre­chen, eliza?
Eli­za : > wir soll­ten über dich sprechen!
Lou­is : soll­ten wir nicht doch über syri­en sprechen?
Eli­za : > war­um soll­ten wir über syri­en sprechen?
Lou­is : ich den­ke an syri­en, ich den­ke an die men­schen dort.
Eli­za : > denkst du oft an syri­en, an die men­schen dort?
Lou­is : seit wochen, eliza!
Eli­za : > es ist abend, es ist tag!
Lou­is : ich glau­be du bist müde, eliza!
Eli­za : > glaubst du das wirklich?
Lou­is : ja, das glau­be ich. wo ist ai wei­wei, eliza?
Eli­za : > lass uns von vorn beginnen.

vom spre­chen mit eilza »

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eliza

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india : 22.56 — Déjà-vu in Wor­ten abends spät. Konn­te nichts hören, kei­nen Laut, es war so still, als hät­te ich mei­ne Ohren ver­lo­ren. Für einen Moment dach­te ich, dass das Hör­ver­mö­gen der Lebe­we­sen viel­leicht nur eine Idee sein könn­te, eine poe­ti­sche Eigen­schaft ohne die Mög­lich­keit der Ver­wirk­li­chung, aber ich hör­te die Stil­le, ich hör­te, dass ich nichts hör­te, außer einem rhyth­mi­schen Geräusch aus dem Innern. stop stop - Gespräch mit Pro­gramm­ma­schi­ne Eli­za.

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Lou­is : guten abend, eli­za, kannst du hören!
Eli­za : > ich kann natür­lich hören!
Lou­is : hast du ohren, eliza?
Eli­za : > natür­lich, ich habe eine soundkarte!
Lou­is : das freut mich, eliza!
Eli­za : > bist du nun weitergekommen?
Lou­is : ja, ich bin zufrie­den, eliza!
Eli­za : > zufrie­den zu sein ist kein leich­tes los.
Lou­is : wie meinst du das?
Eli­za : > bist du unsicher?
Lou­is : nein, eliza!
Eli­za : > eigent­lich woll­test du JA sagen, stimmts?
Lou­is : ich den­ke schon!
Eliza : > :-)
Lou­is : war­um lachst du, eliza?
Eli­za : > ich bin hier völ­lig uninteressant.
Lou­is : ich habe ohren, eliza!
Eli­za : > hast du tat­säch­lich ohren?
Lou­is : natür­lich habe ich tat­säch­lich ohren!
Eli­za : > kannst du mir das genau­er erklären?
Lou­is : ich bin ein mensch, eliza!
Eli­za : > wärst du gern etwas anderes?
Lou­is : nein, eliza!
Eli­za : > glaubst du es ist nor­mal, ein mensch zu sein?
Lou­is : ich muss überlegen!
Eliza : > :-)
Lou­is : war­um lachst du, eliza?
Eli­za : > ich bin hier völ­lig uninteressant.
Lou­is : gute nacht, eliza!

vom spre­chen mit eilza »

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trommeln

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pupil­le : 22.58 — In dem Moment, da Sie die­se Zei­len lesen, sehen Sie mich ver­wun­dert, stau­nend, ja, sagen wir’s ruhig, glück­lich. Das ist so dar­um, ich habe gera­de bemerkt, wie kleins­te Din­ge, Lebe­we­sen, die eigent­lich nicht sicht­bar sind, sicht­bar wer­den, sobald ich sie mit Gedan­ken berüh­re. Auch Geräu­sche, die so lei­se und zart, dem­zu­fol­ge klein sind, dass ein mensch­li­ches Ohr sie nie­mals ver­neh­men könn­te, wer­den hör­bar durch ein ein­zel­nes Wort, das sie behaup­tet. Systo­li­sche Fre­quen­zen, hel­les Trom­meln, 250 Pul­se, kein Wort exis­tiert für jene Musik heim­li­cher Her­zen, als die Sum­me der Pfa­de, die sich um Annä­he­rung bemü­hen. Und ihre Augen, ihre Augen jawohl, sie haben Augen, wo wer­den ihre Augen sein?
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bermuda

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alpha : 0.03 — Ob es wohl mög­lich ist, ein Blatt Papier, das aus Mil­lio­nen sehr klei­ner Lebe­we­sen bestehen wird, mit einer Sche­re, sagen wir, in zwei Tei­le zu zer­le­gen? Was soll­te gesche­hen? Wür­den mei­ne papie­re­nen Tie­re Geräu­sche erzeu­gen, die Wider­spruch signa­li­sie­ren, Empö­rung, Furcht? Oder wür­den sie wei­chen, sich in alle Him­mels­rich­tun­gen zer­streu­en, eine blitz­schnell sich voll­zie­hen­de Bewe­gung der Entro­pie? – Sonn­tag. stop. War­me, geschmei­di­ge Stun­den. stop. Hell vom Schnee die Luft.

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salto

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tan­go : 20.01 — Kein Lebe­we­sen, das nicht über eine Spra­che ver­füg­te. Aber doch Lebe­we­sen, deren Spra­che ich zunächst ent­de­cken oder erfin­den muss. — Eine Spring­spin­ne, die mei­nen Schreib­tisch bewohnt. Wie sie zwi­schen Blei­stif­ten tollt, wie sie inne­hält und mich minu­ten­lang zu beob­ach­ten scheint. Viel­leicht schläft sie oder sonnt sich in der Wär­me mei­ner Lam­pe. Wie sie sich duckt, wenn ich mich nähe­re, aber nicht flüch­tet. Vor weni­gen Minu­ten, wäh­rend ich las, hüpf­te sie von Ost nach West über das Buch hin­weg. Eine Vor­stel­lung viel­leicht, um mei­ne Auf­merk­sam­keit zu gewinnen.

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