Aus der Wörtersammlung: leitung

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am Wasser

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gink­go : 2.08 — Eine Foto­gra­fie, die mich ges­tern Abend per Email erreich­te, zeigt eine älte­re Frau auf der Dach­ter­ras­se eines Hau­ses, das voll­stän­dig aus Holz zu bestehen scheint. Das Gebäu­de befin­det sich an der Küs­te des Atlan­tiks auf Sta­ten Island. Ein blü­hen­der Gar­ten umgibt das Anwe­sen weit­räu­mig, man kann das gut erken­nen, weil der Foto­graf zum Zwe­cke der Auf­nah­me auf einen höhe­ren Baum gestie­gen sein muss, im Hin­ter­grund das Del­ta des Lemon Creek, zwei schnee­wei­ße Segel­boo­te, die vor Anker lie­gen, und Schwä­ne, sowie ein paar ame­ri­ka­ni­sche Sil­ber­mö­wen, die sich zan­ken. Die Frau nun winkt mit ihrer lin­ken Hand zu dem Foto­gra­fen hin. Mit der andern Hand drückt sie ihren Som­mer­hut fest auf den Kopf, ver­mut­lich des­halb, weil an dem Tag der Auf­nah­me eine fri­sche Bri­se vom Meer her weh­te. Far­ben sind auf dem Schwarz­weiß­bild nur zu ver­mu­ten. Ich erin­ne­re mich jedoch, dass mir jemand erzähl­te, das Haus sei in einem leuch­ten­den Rot gestri­chen. Bei der Frau auf der Foto­gra­fie han­delt es sich übri­gens um Emi­ly im Alter von 62 Jah­ren. Ich kann das so genau sagen, weil in einer Notiz, die der Email bei­gefügt wur­de, ein Hin­weis zu fin­den war, eben auf Emi­ly, die sich im Moment der Belich­tung auf der Dach­ter­ras­se ihres Hau­ses damit beschäf­tig­te, eine Salz­wie­se anzu­le­gen: Das ist mei­ne Emi­ly als sie noch leb­te. Ein hei­ßer Tag. Wir waren von einem Spa­zier­gang zurück­ge­kom­men, hat­ten in Ufer­nä­he Salz­mie­ren, Strand­a­s­tern, Mit­tags­blu­men, Fuchs­schwän­ze, Blei­wurz und Was­ser­nüs­se gesam­melt. Am Nach­mit­tag mach­te sich Emi­ly an die Arbeit. Sie brach­te san­di­ge Erde auf ihren Blu­men­ti­schen aus, in wel­cher Lei­tun­gen für Flut, für Ebbe ver­bor­gen lagen. Sie war glück­lich gewe­sen, aber sie ahn­te bereits, dass das Was­ser stei­gen wird. Sie fürch­te­te sich vor den Win­ter­stür­men, ihren Namen, ihrer tosen­den Wild­heit. Am dem Abend, als ich die Auf­nah­me mach­te, sag­te Emi­ly, dass es selt­sam sei, sie habe das Gefühl, an einem Ort zu woh­nen, der eigent­lich schon dem Meer gehö­re. Dein S. — stop
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capote

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nord­pol : 1.22 — Gegen sechs Uhr rief ich bei Lions Wri­ters Sup­port Ser­vices an. Guten Abend, sag­te ich, ich benö­ti­ge drin­gend einen Capo­te zum Spa­zie­ren am kom­men­den Sams­tag. Haben Sie viel­leicht einen für mich frei, den Sie mir lei­hen könn­ten von 3 Uhr am Nach­mit­tag bis in die Nacht irgend­wann? Das Fräu­lein am ande­ren Ende der Lei­tung ant­wor­te­te: Einen Capo­te? Bit­te war­ten Sie einen Moment. Also war­te­te ich. Ich war­te­te unge­fähr fünf Minu­ten, hör­te, wie sie mit irgend­wel­chen Leu­ten dis­ku­tier­te. Ich glau­be, sie bedeck­te, wäh­rend sie sprach, mit einer Hand die Mikro­fon­mu­schel ihres Tele­fon­hö­rers zu. Nach eini­gen Minu­ten kehr­te sie zurück: Ja, sag­te sie, wir haben einen Capo­te frei am kom­men­den Sams­tag. Wo wol­len sie ihn tref­fen? Ich ant­wor­te­te, dass ich unbe­dingt am Strand von Coney Island spa­zie­ren müs­se, Treib­gut sam­meln, Sturm­zei­chen notie­ren, das Meer betrach­ten, mit Tru­man über das Was­ser spre­chen, über digi­ta­le Schreib­ma­schi­nen, Funk­bü­cher und alle die­se Din­ge. Treff­punkt also Brigh­ton Beach Ave­nue Ecke 3th Street!  Wird gemacht, bestä­tig­te das Fräu­lein, Sie wis­sen schon, Capo­tes sind nicht ganz bil­lig? Oh, ja, sag­te ich, das will ich ger­ne glau­ben. Wie viel, frag­te ich, was habe ich zu erwar­ten? — 150 Dol­lar die Stun­de, ant­wor­te­te das Fräu­lein. Sie mach­te eine kur­ze Pau­se, um bald hin­zu­zu­set­zen, dass sie etwas weni­ger berech­nen wür­de, weil jener Capo­te, der für mich reser­viert war, bereits für eine Frei­tags­par­ty gebucht wor­den sei. Er wird nicht ganz frisch am Sams­tag vor Ihnen erschei­nen, sagen wir 120 Dol­lar, wäre das in Ord­nung? — Aber natür­lich wäre das in Ord­nung, ich jubi­lier­te, ein ver­ka­ter­ter Capo­te, even­tu­ell leicht betrun­ken, wun­der­voll! Ich quit­tier­te 1200 Dol­lar für zehn Stun­den und notier­te: Spa­zier­ge­spräch mit Tru­man Capo­te. Sams­tag 18. Mai, 15 Uhr. Das war also ges­tern gewe­sen. Vor weni­gen Minu­ten wur­de mir per Kurier eine Gebrauchs­an­wei­sung für Herrn Tru­man Capo­te über­mit­telt. Ein Hand­buch. 15 Sei­ten. — stop
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ein leises pfeifen

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bamako : 2.25 — Eine kur­di­sche Freun­din ale­vi­ti­schen Glau­bens erzähl­te mir eine Geschich­te, die eigent­lich kei­ne Geschich­te ist, son­dern ein Bericht, weil sie per­sön­lich mehr­fach erle­ben muss­te, wie ihre Toch­ter eine Freun­din mit nach Hau­se brach­te, eine jun­ge Kur­din sun­ni­ti­schen Glau­bens, die zwar mit der Toch­ter Zeit ver­brin­gen, aber nicht mit der Fami­lie essen woll­te, weil sie fürch­te­te, viel­leicht ver­gif­tet zu wer­den. Ich beob­ach­te­te einen tie­fen Schmerz in den Augen mei­ner Freun­din wäh­rend sie erzähl­te, und auch Zorn und Ent­täu­schung. Sie erklär­te: Das sind die Eltern, die ihre Kin­der imp­fen. Wir Ale­vi­ten sind gefähr­li­che Leu­te, ver­stehst Du, wir sind lebens­ge­fähr­li­che Leu­te. Ich fürch­te, das alles geht ein Leben lang nicht mehr aus den armen Kin­der­see­len raus! – Es ist jetzt 0 Uhr und 55 Minu­ten. Nicht wahr, das ist eine wirk­lich merk­wür­di­ge Bege­ben­heit, die ich in die­ser Nacht notie­re, um sie nicht zu ver­ges­sen. Über­haupt ver­ges­se ich zur Zeit recht viel. Vor eini­gen Tagen, wäh­rend ich mit einer wei­te­ren Freun­din tele­fo­nier­te, mach­te ich eine kur­ze Pau­se, um Kaf­fee zu kochen. Ich bat mei­ne Freun­din in der Lei­tung zu blei­ben und stand also in der Küche und erhitz­te das Was­ser, als eine Tau­be auf dem Fens­ter­brett lan­de­te. Immer, wenn ich eine Tau­be sehe, den­ke ich an Wolf­gang Koep­pen. Ich habe Wolf­gang Koep­pen ein­mal in Mün­chen in einem Kino beob­ach­tet, einen gebückt gehen­den, alten Mann mit Bril­le, der sich sehr lang­sam beweg­te. Nie­mand schien ihn erkannt zu haben, wor­über ich mich damals wun­der­te. Ich erin­ne­re mich genau, ich wun­der­te mich vie­le Tage lang und über­leg­te, ob ich Wolf­gang Koep­pen nicht einen Brief schrei­ben soll­te, um ihm zu erzäh­len, dass ich ihn gese­hen habe im Kino und dass ich mich dar­über sehr freu­te. Plötz­lich hör­te ich vom Tisch her, auf dem mein Tele­fon lag, ein lei­ses Pfei­fen. Das Pfei­fen kam tat­säch­lich aus dem klei­nen Appa­rat her­aus. Als ich das Tele­fon anhob, wur­de das Pfei­fen lau­ter und lau­ter, und mei­ne Freun­din erzähl­te nur Sekun­den spä­ter, sie habe nicht mehr dar­an geglaubt, dass ich sie noch hören wür­de oder mich an sie erin­nern. Sie habe mei­ne Schrit­te deut­lich gehört, außer­dem soll ich mit mir selbst gespro­chen haben. – stop

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linie 12 : 2 uhr und 25 minuten

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echo : 3.08 — In die­ser Nacht fah­ren fun­ken­sprü­hen­de Stra­ßen­bah­nen durch die Stadt, uralte Model­le, und die Luft duf­tet pel­zig nach Zinn und Eisen unter Strom­ab­neh­mern, wel­che über Lei­tun­gen ras­peln, deren gefro­re­ne Was­ser­män­tel im Licht der Later­nen schim­mern. Die­ses Feu­er, mal blau, mal schrill und gleis­send hell, mal in den mil­den Far­ben der Ker­zen­flam­men. Erschei­nun­gen, als wür­de Lava aus Adern drin­gen, die über Stra­ßen gespannt. In den Wagons der Trams ste­hen Män­ner. Sie tra­gen Hand­schu­he und leder­ne Schür­zen, war­um? — stop

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zählmarken No 1 und No 2

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sier­ra : 16.52 — Bei der Behör­de für Wort­ver­wer­tung mel­de­te sich am Tele­fon eine weib­li­che Stim­me. Die Stim­me sprach so lei­se, dass ich zunächst glaub­te, in mein Tele­fon­ge­rät hin­ein­ru­fen zu müs­sen, um die Stim­me auf der ande­ren Sei­te der Lei­tung errei­chen zu kön­nen. Wor­um es denn gehe, woll­te man wis­sen. Ich ant­wor­te­te, dass es dar­um gehen wür­de, dass ich im Moment ver­such­te zu ver­ste­hen, wo genau ich jene klei­nen Zähl­pro­gramm­ma­schi­nen in mei­ne Tex­te ein­zu­bau­en habe, damit sie von Ihnen, von der Wort-ver­wer­tungs­be­hör­de, mit der ich gera­de spre­che, wahr­ge­nom­men und als gül­tig bewer­tet wer­den könn­ten. Ein Gespräch ent­wi­ckel­te sich. Das Gespräch dau­er­te fünf Minu­ten. Im Ver­lau­fe die­ses Gesprä­ches wur­de mei­ne Stim­me lei­ser und lei­ser, die Stim­me auf der ande­ren Sei­te der Lei­tung lau­ter und lau­ter. Jetzt, da das Gespräch oder die Unter­hal­tung zu einem Ende gekom­men ist, mei­ne ich fol­gen­des ver­stan­den zu haben: Wenn ich einen Text notie­re, der eine Gedan­ken­be­we­gung nach­voll­zieht, darf die­se Gedan­ken­be­we­gung nicht unter­bro­chen sein, also plötz­lich das The­ma wech­seln oder den Ein­druck ver­mit­teln, als wür­de ein Teil der Denk­be­we­gung feh­len, also eine durch Ent­fer­nung eines Text­ab­schnit­tes künst­li­che Unter­bre­chung erfolgt sein, wes­we­gen es sich nicht mehr um einen Text, also um einen Gedan­ken han­deln wür­de, son­dern um einen zwei­ten Text, also um einen zwei­ten Gedan­ken, der mit ers­te­rem Gedan­ken in kei­ner Ver­bin­dung ste­hen wür­de, wes­halb die­ser zwei­te Text eine wei­te­re, eine zwei­te Zähl­pro­gramm­ma­schi­ne in Form eines Codes benö­ti­gen wür­de, um als eine Ein­heit wahr­ge­nom­men zu wer­den. Des Wei­te­ren ist mir deut­lich gewor­den, dass ein Gedan­ke nicht bege­lei­tet sein darf, von wei­te­ren Gedan­ken, die an etwas ande­res den­ken, wäh­rend sich der ers­te Gedan­ke im Hin­ter­grund wei­ter­be­wegt, um ande­rer Stel­le wie­der her­vor­zu­kom­men. Ich habe nun zunächst einen klei­nen Kno­ten im Kopf. Fünf Gramm. — stop

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herzwanderung

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gink­go : 0.28 — Auf Notiz­kärt­chen, die ich im Prä­pa­rier­saal beschrif­te­te, das Wort Herz­wan­de­rung ent­deckt. Ich notier­te die­ses Wort, kurz nach dem ich einen jun­gen Mann beob­ach­tet hat­te, wie er mit einem klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen, das er zuvor unter Anlei­tung eines Assis­ten­ten aus dem Brust­korb einer alten Frau ope­rier­te, durch den Saal eil­te, um es unter kal­tem Was­ser zu waschen. Unmit­tel­bar hin­ter ihm war­te­te ein Kol­le­ge. Auch er hielt ein Herz in Hän­den. Die­ses Herz schien ver­gleichs­wei­se das Herz eines Rie­sen gewe­sen zu sein, und es war dun­kel, fast schwarz. Als der jun­ge Mann mit der Waschung des klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen fer­tig gewor­den war, dreh­te er sich um. Für eini­ge Sekun­den stan­den sich die zwei Män­ner gegen­über und betrach­ten je das Herz des ande­ren. — stop

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ein inspektor der stille

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sier­ra : 16.05 — Seit eini­gen Tagen spa­ziert ein drah­ti­ger Herr von klei­ner Gestalt in mei­nem Kopf her­um. Er ist so deut­lich zu sehen, dass ich mei­nen könn­te, ich wür­de ihn ein­mal per­sön­lich gese­hen haben, eine Figur, die durch die Stadt New York irrt auf der Suche nach Lärm­quel­len, die so beschaf­fen sind, dass man ihnen mit pro­fes­sio­nel­len Mit­teln zu Lei­be rücken könn­te, Hupen, zum Bei­spiel, oder Pfeif­ge­räu­sche jeder Art, Klap­pern, Krei­schen, ver­zerr­te Radio­stim­men, Sire­nen, alle die­sen ver­rück­ten Töne, die nicht eigent­lich begrün­det sind, weil sie ihre Ursprün­ge, ihre Not­wen­dig­keit viel­leicht längst ver­lo­ren haben im Lauf der Zeit, der Jah­re, der Jahr­zehn­te. Ich erin­ne­re mich in die­sem Moment, da ich von mei­ner Vor­stel­lung erzäh­le, an einen schril­len Ton in der Sub­way Sta­ti­on Lex­ing­ton Ave­nue / 63. Stra­ße nahe der Zugangs­schleu­sen. Die­ser Ton war ein irri­tie­ren­des Ereig­nis der Luft. Ich hat­te bald her­aus­ge­fun­den woher das Geräusch genau kam, näm­lich von einer Klin­gel mecha­ni­scher Art, die über dem Häus­chen der Sta­ti­ons­vor­ste­he­rin befes­tigt war. Die­se Klin­gel schien dort schon lan­ge Zeit instal­liert zu sein, Kabel, von grü­nem Stoff umman­telt, die zu ihr führ­ten, waren von einer Schicht öli­gen Stau­bes bedeckt. Äußerst selt­sam an jenem Mor­gen war gewe­sen, dass ich der ein­zi­ge Mensch zu sein schien, der sich für das Geräusch inter­es­sier­te, weder die Zug­rei­sen­den, noch die Tau­ben, die auf dem Bahn­steig lun­ger­ten, wur­den von dem Geräusch der Klin­gel berührt. Auch die Sta­ti­ons­vor­ste­he­rin war nicht im min­des­ten an dem schril­len­den Geräusch inter­es­siert, das in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den ertön­te. Ich konn­te kei­nen Grund, auch kei­nen Code in ihm erken­nen, das Geräusch war da, es war ein Geräusch für sich, ein Geräusch wie ein Lebe­we­sen, des­sen Exis­tenz nicht ange­tas­tet wer­den soll­te. Wenn da nun nicht jener Herr gewe­sen wäre, der sich der Klin­gel näher­te. Er stand ganz still, notier­te in sein Notiz­heft, tele­fo­nier­te, dann war­te­te er. Kaum eine Vier­tel­stun­de ver­ging, als einem U‑Bahnwaggon der Linie 5 zwei jun­ge Män­ner ent­stie­gen. Sie waren in Over­alls von gel­ber Far­be gehüllt. Unver­züg­lich näher­ten sie sich der Klin­gel. Der eine Mann fal­te­te sei­ne Hän­de im Schoss, der ande­re stieg auf zur Klin­gel und durch­trenn­te mit einem muti­gen Schnitt die Lei­tung, etwas Ölstaub rie­sel­te zu Boden, und die­se Stil­le, ein Faden von Stil­le. — stop

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die stimme meines Vaters

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ulys­ses : 22.18 — Im Som­mer des Jah­res 2007, wäh­rend ich gera­de an mei­ner Bir­dy­ma­schi­ne arbei­te­te, tele­fo­nier­te ich mit mei­nem Vater. Es war eine war­me Zeit gewe­sen, die Fens­ter im weit ent­fern­ten Arbeits­zim­mer stan­den offen. Ich hör­te über eine Tele­fon­lei­tung, die ver­mut­lich durch den Welt­raum führ­te, Vögel im Gar­ten pfei­fen. Und da war noch etwas ande­res, da waren Funk­ge­räu­sche und der Gesang der Wale und ein Ras­peln, das Stimm­ge­räusch Bir­dys. Ich erin­ne­re mich, mein Vater beob­ach­te­te in jenem Som­mer Bir­dy täg­lich stun­den­lang vor sei­nem Com­pu­ter sit­zend. Sobald er einen Feh­ler bemerk­te, mel­de­te er den Feh­ler unver­züg­lich an mich wei­ter. Er nahm in die­ser zeit­li­chen Nähe Instru­men­te der klei­nen Erzähl­ma­schi­ne wahr, die ich gera­de erst in Betrieb genom­men hat­te. Von jeder Ent­de­ckung berich­te­te er in einer Wei­se, als ob er der ers­te Mensch gewe­sen sei, der sie zu Gesicht bekom­men hat­te, auf­ge­regt, kom­men­tie­rend, fra­gend. Ein sanf­ter Gedan­ke an einem Tag, da ich seit weni­gen Stun­den weiß, dass ich die Stim­me mei­nes Vaters nie wie­der hören wer­de. — stop
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PRÄPARIERSAAL — ich sage immer: es geht mir gut.

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gink­go : 3.05 — Ich erin­ne­re mich an Olga, die sich kaum beweg­te, wäh­rend sie von ihren Ein­drü­cken des Prä­pa­rier­saa­les berich­te­te. Die jun­ge Frau schien wäh­rend unse­res Gesprä­ches jeder­zeit auf ihren Kör­per zu ach­ten, eine Tän­ze­rin, die in einer vor­ge­nom­me­nen Posi­ti­on gedul­dig und dis­zi­pli­niert eine Stun­de lang zur Übung ver­harrt, nur ihre Hän­de beweg­ten sich unent­wegt wie klei­ne Vögel über den Tisch, weil sie ihre Gedan­ken mit Zeich­nun­gen auf Ser­vi­et­ten unter­stüt­ze. Ihre war­me, wei­che Stim­me, die in die­ser Nacht­mi­nu­te vom Ton­band­ge­rät aus mit leich­tem Akzent zu mir spricht: > Ich mache das so. Ich stel­le mir Bezugs­punk­te vor. Wo also beginnt eine Struk­tur und wo endet sie, ein Mus­kel zum Bei­spiel. Und dann den­ke ich mir einen Nerv und fra­ge, wo setzt die­ser Nerv eigent­lich an? / Als ich am ers­ten Tag in die Ana­to­mie kam, habe ich mich zunächst gewun­dert, weil ich ein moder­nes Gebäu­de erwar­tet hat­te, einen Raum, der kalt ist. Außer­dem war ich über­rascht, eine so genaue Prä­pa­rier­an­lei­tung zu bekom­men. Nach zwei oder drei Wochen habe ich am Fuß prä­pa­riert. Plötz­lich der Gedan­ke, dass die­se Füße einen Men­schen ein Leben lang getra­gen haben. Da muss­te ich wei­nen. Wenn ich in die­sen Tagen nach Hau­se kom­me, sehe ich mei­ne Mut­ter, die in der Küche steht. Sie fragt, wie es mir geht. Ich sage immer: Es geht mir gut. Wenn ich mit Freun­den spre­che, mache ich oft ein­mal einen Spaß. Ich erzäh­le nicht alles, weil ich doch Respekt habe vor den Toten dort. Alles zu erzäh­len, wäre fast zu intim. Wenn mei­ne Freun­de bemer­ken, dass das dort eigent­lich eher ein wis­sen­schaft­li­cher Raum ist, ver­lie­ren sie sofort ihr Inter­es­se. / Da war also eine Hand. Die­se Hand war am Gelenk abknickt, sie wur­de nur noch von etwas Haut und Seh­nen und Gefä­ßen am Kör­per gehal­ten, weil ein Kno­chen ent­fernt wor­den war. Die­ser Anblick, ein Bild der Ver­hee­rung, hat mir schmerz­lich zuge­setzt. — stop
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brooklyn : ausgebeulte Stimmen

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fox­trott : 2.32 — Wenn ich aus dem Fens­ter sehe wenn tie­fe Nacht ist, dann schei­nen die Men­schen alle gleich­wohl noch immer zu arbei­ten oder sie ver­fü­gen über kei­ner­lei Lichterschal­ter in New York. Ja, die Men­schen arbei­ten und arbei­ten und arbei­ten und dann sit­zen sie eine hal­be oder eine gan­ze Stun­de Fahrt in der Sub­way und schla­fen. Das Selt­sa­me ist, dass sie zur rech­ten Zeit auf­wa­chen, jawohl, sie schei­nen mit ihrem Gehör an einer Geräusch­spur zu hän­gen, wie Stra­ßen­bah­nen in Euro­pa an einer Ober­lei­tung. Einer­seits schla­fen sie, ande­rer­seits war­ten sie dar­auf von einem ver­trau­ten Signal geweckt zu wer­den. Viel­leicht ist da ein beson­de­res Krei­schen oder Rüt­teln, das nur an einer bestimm­ten Stel­le ihrer Stre­cke heim­wärts zu ver­neh­men ist, die aus­ge­beul­te Stim­me einer Maschi­nen­in­for­ma­ti­on. Kurz dar­auf ste­hen sie auf, so als wär kein Schlaf gewe­sen und spa­zie­ren aus dem Zug, erstaun­lich! — Sams­tag. Spä­ter Abend. Es heult wie­der her­um da unten auf Höhe der Stra­ße, ein Unglück irgend­wo viel­leicht. Wenn man den Feu­er­wehr­au­tos so zuhört den Tag ent­lang, dann möch­te man bald mei­nen, die Stadt ins­ge­samt wür­de in Flam­men stehn. – stop
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