Aus der Wörtersammlung: leitung

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aleppo

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hima­la­ya : 0.02 — Viel­leicht darf ich fol­gen­den Bericht in vol­ler Län­ge wie­der­ge­ben. Der jun­ge Jour­na­list Zou­hir al Shim­le berich­tet via E‑Mail für Die Zeit: Seit Alep­po bela­gert ist, flie­gen Assads Trup­pen und sei­ne Ver­bün­de­ten jeden Tag Luft­schlä­ge auf die Vier­tel der Rebel­len, also auch dort, wo ich lebe. Unun­ter­bro­chen dröh­nen Kampf­jets über uns hin­weg, Heli­ko­pter krei­sen über den Häu­sern. Jeden Tag ster­ben hier fast fünf­zig Zivi­lis­ten. Wir leben in einem nie enden­den Getö­se von Schie­ße­rei­en, Explo­sio­nen, Geschrei. Die meis­ten von uns trau­en sich nicht mehr, nach drau­ßen zu gehen. Manch­mal het­zen ein paar Leu­te die Stra­ßen ent­lang, um Lebens­mit­tel zu besor­gen – und ren­nen sofort nach dem Ein­kauf zurück in ihre Woh­nun­gen. Dabei ist es zu Hau­se nicht siche­rer als auf der Stra­ße. Denn die Bom­ben tref­fen auch unse­re Häu­ser. Wäh­rend ich die­se Zei­len schrei­be, höre ich das Don­nern der Kampf­flug­zeu­ge, von irgend­wo her dringt Gefechts­lärm. Gott sei Dank habe ich bis­her alle Angrif­fe über­lebt. Aber vor ein paar Tagen war ich dem Tod so nah wie nie zuvor. Ich war im Vier­tel Al-Mash­had unter­wegs, dort, wo mein Büro ist. Ich stand gera­de im Laden in unse­rer Stra­ße, um mir etwas zu trin­ken zu kau­fen, als die ers­te Fass­bom­be ein­schlug, gera­de mal fünf Häu­ser von uns ent­fernt. Ich duck­te mich für eini­ge Sekun­den vor den umher­flie­gen­den Metall­tei­len. Dann rann­te ich raus auf die Stra­ße. Nur weni­ge Sekun­den spä­ter schlug in der Stra­ße die zwei­te Faß­bom­be ein. Ein Metall­split­ter bohr­te sich in mei­nen Rücken, ein ande­rer in mein Bein. Ich rann­te von der Stra­ße wie­der zurück zum Laden. Und war vor Schock wie gelähmt: Sie­ben Men­schen, die dort Schutz vor der zwei­ten Bom­be gesucht hat­ten, waren tot, zer­quetscht vom Schutt der ein­ge­stürz­ten Decke. Sie star­ben nur, weil sie sich in den Sekun­den der Explo­si­on anders ent­schie­den hat­ten: Sie hiel­ten sich zwi­schen den Rega­len ver­steckt, wäh­rend ich auf die Stra­ße lief. Nur des­we­gen habe ich als Ein­zi­ger von uns über­lebt. Die Hel­fer hat­ten gro­ße Mühe, die ver­dreh­ten und durch­trenn­ten Kör­per aus dem Geröll zu zie­hen. Ange­hö­ri­ge der Toten lagen am Boden und schrien, Kin­der wein­ten. Aus eini­gen Kör­pern quol­len Inne­rei­en, über­all lagen abge­trenn­te Hän­de und Bei­ne. Ins­ge­samt star­ben durch die­se Angrif­fe 15 Men­schen, 25 – mit mir – wur­den ver­letzt. Ich kann die­se Bil­der nicht ver­ges­sen. Ich hät­te einer die­ser Kör­per sein kön­nen. Ich wur­de schnell in ein Kran­ken­haus gebracht, doch hel­fen konn­te mir dort nie­mand. Zu vie­le Men­schen brauch­ten Hil­fe, unauf­hör­lich brach­ten Män­ner neue Tra­gen mit Schwer­ver­letz­ten hin­ein. Wäh­rend ich auf den Arzt war­te­te, sah ich so viel Blut, dass ich zu hal­lu­zi­nie­ren begann. Ein Freund brach­te mich des­halb in ein ande­res Kran­ken­haus, wo sich Schwes­tern um mich küm­mer­ten. Sie ent­fern­ten einen Metall­split­ter, der ande­re steckt noch in mei­nem Bein. Sie sagen, er kön­ne erst in eini­ger Zeit ent­fernt wer­den. Doch es sind nicht nur die Bom­ben und Gefech­te, die unser Über­le­ben immer schwe­rer machen. Das Regime hat nun auch die Cas­tel­lo-Stra­ße ein­ge­nom­men. Sie ist eine Todes­zo­ne gewor­den: Stän­dig wird geschos­sen, bren­nen­de Autos lie­gen am Stra­ßen­rand. Das Regime kämpft dort mit aller Macht – und schnei­det uns damit von der Außen­welt ab. Die Cas­tel­lo-Stra­ße war bis­lang die ein­zi­ge Ver­bin­dung von Alep­po nach drau­ßen, in die Vor­or­te und in die Tür­kei. Es war die Lebens­ader der Stadt, von dort haben wir Lebens­mit­tel, Gas, Brenn­stoff, Trink­was­ser und Medi­zin bekom­men.  Die Bela­ge­rung ist für uns dra­ma­tisch. Denn jetzt gibt es kaum noch Obst und Gemü­se zu kau­fen, über­haupt sind die Märk­te fast leer. Auch haben wir immer weni­ger Brenn­stoff, wir ver­brau­chen gera­de die letz­ten Reser­ven der Stadt. Bald schon wer­den wir in kom­plet­ter Dun­kel­heit leben. Das ist es, was das Regime und sei­ne Mili­zen wol­len: dass Alep­po lang­sam stirbt. Sie set­zen dabei allein auf die Zeit. Wir, die noch rund 300.000 Ver­blie­be­nen, wer­den nicht mehr lan­ge ver­sorgt wer­den kön­nen. Ich fürch­te, dass unser Unter­gang schließ­lich dadurch kommt, dass wir alle um Was­ser und Brot kämp­fen. Und dass die, die nicht mehr stark genug sind, dar­um zu kämp­fen, ein­fach ver­hun­gern wer­den. Fakt ist: Wir sit­zen fest. Wir haben kei­ne Chan­ce mehr, aus Ost-Alep­po her­aus­zu­kom­men. Ich habe immer mit drei Freun­den in einer WG zusam­men gewohnt. Jetzt ist nur noch einer von ihnen hier. Malek hat gehei­ra­tet und lebt nun mit sei­ner Frau zusam­men, sie erwar­ten ein Baby. Der ande­re, Jawad, konn­te in die Tür­kei ent­kom­men. Sein Vater wur­de bei einem Angriff schwer ver­letzt und Jawad konn­te mit ihm vor ein paar Wochen in die Tür­kei fah­ren, damit er dort medi­zi­ni­sche Hil­fe bekommt. Jawad ver­sucht, wie­der zu stu­die­ren. Er wird nicht mehr nach Alep­po zurück­kom­men. So zynisch es klingt: Er hat Glück gehabt. Denn nur sehr kran­ke Men­schen dür­fen mit einer Beglei­tung den Grenz­über­gang Bab al-Sal­a­meh in die Tür­kei pas­sie­ren. Die Tür­kei ist da sehr strikt. Für mich gilt das also nicht Selbst wenn ich Alep­po ver­las­sen woll­te: Ich kann es nicht. Die Bom­bar­die­run­gen in der Stadt sind zu stark, ich wür­de nicht mehr weit kom­men. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr weg­kom­men wer­de. Die Bom­ben fal­len wei­ter, jeden Tag, jede Stun­de. Sie tref­fen alles, was sich bewegt. Ich sit­ze in Alep­po fest. Aber noch bin ich am Leben. — stop
ping

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pinguin

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ulys­ses : 0.08 — Nachts bei geöff­ne­tem Fens­ter: Geräu­sche eines Regen­wal­des. Sie kamen um Sekun­den in der Zeit ver­zö­gert über das Inter­net zu mir ins Zim­mer. Ich glau­be der wil­de Regen­wald war ein perua­ni­scher Regen­wald, wun­der­ba­re Klän­ge, Vogel- und Affen­stim­men, Regen und Wind in den Blät­tern der Bäu­me. Ich dach­te, wenn doch nur jemand auf der ande­ren Sei­te der Lei­tung wahr­neh­men könn­te, wel­che Geräu­sche in einer mit­tel­eu­ro­päi­schen Woh­nung unter dem Dach eines Hau­ses im Her­zen einer gro­ßen Stadt in einer Nacht wie die­ser Nacht zu hören sind. Ich prüf­te das Mikro­fon mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Dann stand ich auf und spiel­te aus der Kon­ser­ve: Ben­ny Good­man. Ich stell­te mir vor, wie es für einen kur­zen Moment im Wald drü­ben in Peru still wer­den wür­de, wie man lauscht auf den Bäu­men, wie sich das Orches­ter der Wald­tie­re fröh­lich neu sor­tie­ren wür­de. Es reg­ne­te, kaum war die Stra­ße vor dem Haus noch zu sehen. Auf mei­nem Fens­ter­brett kau­er­ten fünf nas­se Spat­zen, ein Rot­kehl­chen, zwei Amseln und eine Tau­be, auch sie lausch­ten. Deut­lich konn­te ich auf dem Gie­bel eines nahen Hau­ses einen Pin­gu­in erken­nen, der sich gegen den Regen­wind stemm­te. — stop

ben­ny
goodman
lets dance

ping

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brooklyn heights promenade : höhe pierrepont st.

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del­ta : 0.02 — Immer wie­der bemer­kens­wert in der Däm­me­rung: Der syn­chro­ne Auf­tritt kor­pu­len­ter Netz­spin­nen. Von einem Augen­blick zum nächs­ten, sit­zen sie im Dut­zend in der Mee­res­luft auf Vor­nacht­ge­spins­ten, um unver­züg­lich Repa­ra­tur­ar­bei­ten auf­zu­neh­men. Fast möch­te man mei­nen, sie wären in ihren Tages­ver­ste­cken mit­tels gehei­mer Signal­lei­tun­gen mit­ein­an­der ver­bun­den, so plötz­lich tau­chen sie in der Dun­kel­heit auf, laut­los, ohne Geruch, ver­we­ben sie Fäden von stau­bi­gem Licht. Ich habe den Ver­dacht, sie könn­ten, mit sen­si­bels­ten opti­schen Sen­so­ren aus­ge­rüs­tet, in der Lage sein, feins­te Gra­de von Licht­stär­ke zu mes­sen. Ich dach­te, eine Art der Dau­er­be­leuch­tung, Mit­ter­nachts­son­ne über Man­hat­tan, könn­te sie mür­be machen. — stop

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tarasa shevchenko boulevard

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alpha : 3.12 — Auf Nacht­bän­ken schla­fen Men­schen, ärm­lich geklei­de­te Per­so­nen. Sie lie­gen mit ihrem Kopf auf Taschen, in wel­chen sich Aus­wei­se und Geld befin­den. Sobald Men­schen schla­fen erschei­nen sie in mei­nen Augen wie Kin­der, sie wir­ken zer­brech­lich, auch wenn sie bären­star­ke Män­ner sind, die vor Wochen noch in Rumä­ni­en oder Bul­ga­ri­en leb­ten. Stau­big sind sie gewor­den, ein stren­ger Geruch geht von ihren Kör­pern aus. Wenn sie wach wer­den am Mor­gen, wenn sie im gol­de­nen Licht der Flug­ha­fen­trans­fer­räu­me sit­zen, die Luft duf­tet nach fri­schem Gebäck und Kaf­fee, schau­en sie mit tod­mü­den, gerö­te­ten Augen in den Strom der Pas­sa­gie­re, fei­ne, edle Gestal­ten dort, vie­le schei­nen fröh­lich zu sein, sie füh­ren fla­che Com­pu­ter mit sich und Bord­zei­tun­gen, sind in graue oder blaue Anzü­ge gehüllt, in Beglei­tung schwe­ben­der oder rol­len­der Kof­fer. Es ist kurz nach sechs Uhr. Lang­stre­cken­flug­zeu­ge sind gelan­det, New York, Los Ange­les, Peking, Mum­bai, Bue­nos Aires, Otta­wa. Vor einer Roll­trep­pe war­ten zwei Frau­en. Die eine der Frau­en erzählt eine Geschich­te in deut­scher Spra­che mit rus­si­schem Akzent. Ich blei­be ste­hen, ich höre zu. Es ist eine Geschich­te, die von der Stadt Kyjiw han­delt. Sie sei, sagt die Frau, im Juli des Jah­res 1986 nach Kyjiw gekom­men, um dort zu sin­gen, das heißt, ein Kon­zert zu geben. Sie erin­ne­re sich an blei­graue Roh­re, die aller­or­ten ent­lang der Häu­ser­wän­de in den Stra­ßen ver­legt wor­den sei­en. Was­ser ström­te aus die­sen Roh­ren über Geh­stei­ge, es war dar­um so gewe­sen, um radio­ak­ti­ven Staub, der von der Luft her­an­ge­tra­gen wur­de, fort zu waschen. Für einen Moment der Ein­druck, die Frau habe bemerkt, dass ich ihrer Geschich­te fol­ge und dass sie nichts dage­gen ein­zu­wen­den hat. Sie ent­nimmt ihrer Hand­ta­sche sie­ben Aus­wei­se in wein­ro­ter Far­be, Rei­se­päs­se, ungül­tig gewor­de­ne Doku­men­te, in einem die­ser Aus­wei­se befin­det sich ein Stem­pel, jener Stem­pel, der die Rei­se nach Kyjiw doku­men­tiert. Es ist eine Fra­ge von Sekun­den, bis die Frau mit ihrem rech­ten Zei­ge­fin­ger das Papier, auf dem der Stem­pel seit Jah­ren fest­ge­hal­ten ist, berüh­ren wird. — stop

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ferdinands letztes ende

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sier­ra : 5.52 — Vom Fer­di­nand habe ich lan­ge Zeit nichts gehört. Als ich das letz­te Mal mit ihm gespro­chen hat­te, war ich über­zeugt gewe­sen, dass er gefähr­lich gewor­den war, ver­rückt, er brüll­te her­um, sobald er bemerk­te, dass man ihm nicht län­ger zuhö­ren woll­te. Kurz dar­auf plötz­lich Stil­le. Kein Anruf, nie­mand hat­te ihn gese­hen, nie­mand erwähn­te sei­nen Namen, ich traf ihn nie­mals auf der Stra­ße, nicht im Kino, nicht in den Cafes, nicht im Thea­ter, als wär er eine Erfin­dung gewe­sen. Wenn ich an ihn dach­te, sag­te ich lei­se, gut so, viel­leicht bist du tat­säch­lich nicht län­ger hier. Bei dem Gedan­ken aber, dass er über­haupt auf­ge­hört haben könn­te zu exis­tie­ren, hat­te ich ein eigen­ar­ti­ges Gefühl, als ob ich etwas ver­säum­te, noch ein­mal ein Gespräch, ein oder zwei Fra­gen, ein Spa­zier­gang ohne zu spre­chen, eine Kor­rek­tur. Des­halb doch lei­se Freu­de, als er anrief, frag­te, ob er mich tref­fen kön­ne. Fünf Jah­re, wie die Zeit ver­geht, wie siehst Du denn aus, ken­nen wir uns noch? Ich sag­te, dass ich mich ver­mut­lich kaum ver­än­dert haben wür­de, und sofort erwi­der­te er, dass auch er sich auch kaum ver­än­dert habe, dass er noch immer der­sel­be sei, ein paar neue Zel­len, sonst aber der­sel­be. Also habe ich mich gefreut, dass Fer­di­nand noch leb­te, obwohl wir uns nicht wie­der­se­hen wer­den, weil er immer noch der­sel­be ist, weil er unver­züg­lich los­brüll­te am Tele­fon, als ich von ihm wis­sen woll­te, ob er noch immer gern betrun­ken sei. Er brüll­te also, dann leg­te er auf. Das war so, als ob er in die­sem Moment auf­hör­te zu atmen, Ruhe, Frie­den, ein still­ste­hen­des Herz. — Spä­te Nacht. Sit­ze auf einem Stuhl am Fens­ter und lese im neu­en Sal­ter­ro­man. Habe das Buch in zwei­fa­cher Aus­ga­be, einer­seits einen schwe­ren Kör­per, in dem ich blät­tern kann, ander­seits einen der­art leich­ten elek­tri­schen Kör­per, dass mein Note­book kein Gramm schwe­rer wur­de, als der Roman durch die Lei­tung zu mir gesen­det wur­de. All night in dark­ness the water sped past. — stop
ping

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PRÄPARIERSAAL : ein arm

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gink­go : 0.18 — Pia erzählt : > Manch­mal, wenn ich abends nach dem Prä­pa­rier­kurs nach Hau­se gehe, bemer­ke ich, dass ich die Ein­drü­cke, die ich im Prä­pa­rier­saal gewon­nen habe, nicht mit der Stra­ße, über die ich spa­zie­re oder mit den Gesprä­chen der Men­schen, die ich in der U‑Bahn höre, in eine Ver­bin­dung brin­gen kann. Ich habe das Gefühl, dass der Saal irgend­wie frei schwebt, also ganz für sich ist, iso­liert. Ich rei­se zwi­schen zwei Wel­ten, von da nach dort und wie­der zurück, und das geht gut so hin und her. Ich wun­de­re mich, dass ich bis­her noch nie vom Prä­pa­rier­saal geträumt habe, ich kann mich jeden­falls nicht dar­an erin­nern, geträumt zu haben. Ich glau­be, ich bin in irgend­ei­ner Wei­se geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich schützt, viel­leicht ist es die Freu­de an der Arbeit, die Dich­te der Auf­ga­ben, die mir gestellt sind. Ja, es ist viel zu tun. Lei­der kann ich nicht wirk­lich erzäh­len, was ich erle­be, ich mei­ne zu Hau­se mei­nen Eltern oder mei­nen Freun­den. Die­se eine Geschich­te zum Bei­spiel, wie ich an einem Don­ners­tag in den Prä­pa­rier­saal tre­te und sehe, dass etwas grund­sätz­lich anders gewor­den ist. Ich war natür­lich nicht unvor­be­rei­tet gewe­sen, denn in der Prä­pa­rier­an­lei­tung wur­de ver­zeich­net, dass die Lei­chen auf dem Tisch von den Prä­pa­ra­to­ren an einem Mitt­woch­nach­mit­tag zer­legt wer­den. Und so war es gekom­men. Auf den Tischen lagen nur noch Arme und Bei­ne und die Hälf­ten je eines Kop­fes. Selt­sam, sage ich Ihnen, sehr selt­sam! Aber natür­lich sinn­voll. Von die­sem Moment an ist es mög­lich, einen Arm in die Hand zu neh­men und von allen Sei­ten her zu betrach­ten, oder ein Bein. Ich muss­te mich etwas über­win­den, das natür­lich, aber dann habe ich einen der bei­den Arme auf dem Tisch ange­ho­ben, bin mit ihm durch den Saal gelau­fen und habe ihn unter flie­ßen­dem Was­ser gewa­schen. Als ich auf dem Weg zurück an den Tisch war, kam mir eine Kom­mi­li­to­nin ent­ge­gen, auch sie trug einen Arm vor sich her. Der Arm war sehr groß, rich­tig schwer, eine klei­ne Frau und ein gro­ßer Män­ner­arm. Wir lächel­ten uns an, ich glau­be, weil wir bei­de in unse­ren Augen selt­sam aus­ge­se­hen haben könn­ten. Zurück an den Tisch gekom­men, habe ich das Arm­prä­pa­rat unter­sucht, Mus­keln, wo sie anset­zen, und Seh­nen. Ich erin­ne­re mich, ich habe etwas unter­nom­men, das ich nur des­halb tun konn­te, weil der Arm der Kör­per­spen­de­rin ganz für sich gewe­sen war. Ich habe näm­lich an einer Seh­ne des Unter­ar­mes gezupft und beob­ach­tet, wie sich an der Hand in nächs­ter Nähe ein Fin­ger beweg­te. Ein­mal, viel­leicht zwei oder drei Tage spä­ter, beob­ach­te­te ich, wie Kom­mi­li­to­nen an ihren Tischen, bevor sie ihr Prä­pa­rat mit Tüchern bedeck­ten, Arme und Bei­ne und die Hälf­ten der Gesich­ter, so auf den Tisch anord­ne­ten, dass sie wie­der an einen voll­stän­di­gen Kör­per erin­ner­ten. Das hat mich beru­higt. - stop

ping

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ludmilla

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echo : 6.12 — Ich habe eine Email bekom­men. Lesen Sie selbst: Ver­ehr­ter Lou­is, wie geht es Ihnen? Ich hof­fe, Sie sind wohl­be­hal­ten zurück­ge­kehrt von Ihrer Rei­se. Lei­der konn­ten wir uns nicht tref­fen so wie noch im Janu­ar geplant. Es ist schwie­ri­ger gewor­den, das Haus zu ver­las­sen. Ich füh­le mich nicht län­ger sicher auf der Stra­ße. Aber auch unter mei­nem eige­nen Dach habe ich immer wie­der das Gefühl, beob­ach­tet zu wer­den. Ich neh­me an, es exis­tie­ren längst Ideen über mich, viel­leicht wird man sagen: Er könn­te nun doch ver­rückt gewor­den sein. Aber natür­lich weiß ich, was ich tue und wovor ich mich fürch­te. Im April war ich noch lan­ge Stun­den am Strand unter­wegs gewe­sen, besuch­te mei­ne Freun­din Lud­mil­la, die abends vor dem Board­walk mit ihren Freu­den im kal­ten See­wind sitzt. Ihr gehört jetzt ein Roll­stuhl, den sie von eige­ner Hand bewe­gen kann, weil sie zäh und leicht ist, Sie wür­den stau­nen. Irgend­wann muss ich das Haus wie­der ver­las­sen, das ist mir Her­zens­wunsch, ich kann Lud­mil­la doch nicht ver­lie­ren, ohne sie noch ein­mal gese­hen zu haben. Im Dezem­ber wird sie 92 Jah­re alt, da kann man an das Ende schon ein­mal den­ken, nicht wahr! Nun, ich will nicht kla­gen, bin sehr vor­sich­tig gewor­den. Wenn ich zum Ein­kau­fen gehe ein­mal in der Woche, dann nie­mals allein, son­dern immer in der Beglei­tung eines alten Freun­des. Sie wer­den ver­ste­hen, dass ich sei­nen Namen nicht erwäh­ne. Er ist zuver­läs­sig, hilft mir beim Tra­gen der Fla­schen. Was ich sonst noch benö­ti­ge, lass ich mir kom­men. Ich erin­ne­re mich, jetzt da ich hier sit­ze und schrei­be, dass ich als Kind ein­mal über­leg­te, eine Spra­che zu erfin­den, die nur ich ver­ste­hen kann. Ich hat­te mir vor­ge­nom­men, alle Wör­ter, die ich kann­te, in mei­ne neue Spra­che zu über­set­zen. Ich woll­te ler­nen, mit­tels die­ser Wör­ter zu den­ken. Seit weni­gen Tagen nun arbei­te ich dar­an, mir genau die­sen uralten Wunsch zu erfül­len. Ist das nicht wun­der­bar! Viel­leicht wer­de ich mich bald wie­der sicher füh­len. See­mö­wen sit­zen auf dem Bal­kon, ihre Augen wir­ken bei­zei­ten so, als wären sie Objek­ti­ve, die man füt­tern kann. Genug! Es ist Sonn­tag. Mor­gen wer­de ich Ihnen einen Brief von Papier über­mit­teln, in wel­chem ich eine Lis­te von Wör­tern ver­merk­te, die Sie in Zukunft bit­te nicht wei­ter ver­wen­den, wenn Sie mir eine Email schrei­ben. Sie wis­sen, wo der Brief zu fin­den ist. Bis bald, mein lie­ber Lou­is. Ihr Micha­el — stop

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regen

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ulys­ses : 6.06 — Ges­tern Abend tele­fo­nier­te ich mit einer Freun­din. Sie hat­te kurz zuvor geschrie­ben, Hoch­was­ser habe den Kel­ler ihres Hau­ses erreicht. Sie erzähl­te, das Was­ser kom­me nun durch zwei klei­ne Löcher in Boden und Wand her­ein, 5 Liter in einer hal­ben Stun­de. Ich hör­te ihre Stim­me, erschöpft, müde, sie wol­le sich einen Wecker stel­len und jede hal­be Stun­de Was­ser schöp­fen. Eine har­te Sache, die noch einen Tag und eine gan­ze Nacht so wei­ter­ge­hen kön­ne. Wäh­rend wir spra­chen, war das Geräusch trop­fen­den Was­sers im Hin­ter­grund zu ver­neh­men, als wür­de mei­ne Gesprächs­part­ne­rin in einer Höh­le sit­zen, in einer ent­fern­ten Zeit, auf dem Mond oder auf dem Mars. Als ich klein und sehr uner­fah­ren gewe­sen war, hat­te ich die Vor­stel­lung, nach star­kem Regen könn­te das Was­ser in Tele­fon­lei­tun­gen drin­gen. Ich wun­der­te mich des­halb, dass das Tele­fo­nie­ren nach Gewit­ter­re­gen noch funk­tio­nier­te. Wenn ich dann etwas spä­ter durch den Gar­ten spa­zier­te, mein­te ich zu beob­ach­ten, wie unse­re Tele­fon­lei­tun­gen aus dem Boden flüch­te­ten. Sie hat­ten sich zu Tei­len auf­ge­löst und schlän­gel­ten, hell­ro­te, glän­zen­de Wür­mer, durch das feuch­te Gras. Ich konn­te sie berüh­ren, und wenn ich sie ihn mei­ne Hän­de nahm, kit­zel­te es sehr ange­nehm auf den Hand­flä­chen. Ein­mal setz­te ich eine flüch­ten­de Tele­fon­lei­tung in ein Mar­me­la­de­glas. Es waren ein gutes Dut­zend Wür­mer gewe­sen, die sich um Aus­gang bemüh­ten. Ich beäug­te sie lan­ge Zeit, die Wän­de des Gla­ses beschlu­gen rasch, so dass ich das Glas immer wie­der öff­nen muss­te. Wenn ich mein Ohr an den Behäl­ter drück­te, konn­te ich sie hören, einen eigen­tüm­li­chen Laut der Not, für des­sen Beschrei­bung ich bis­her kein Wort ent­deck­te. Damals nahm ich das Glas mit in mein Zim­mer. Ich stell­te es unter mein Bett. Am nächs­ten Mor­gen hat­te ich sei­ne Exis­tenz ver­ges­sen. — stop

ping

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paris — mumbai

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tan­go : 3.55 — Eine ange­neh­me Nacht. Lei­ses Regen­ge­räusch. Ich habe über die Erfin­dung flie­gen­der Pflan­zen nach­ge­dacht, über Pflan­zen, die zeit­le­bens den Erd­bo­den nie­mals berüh­ren. Gegen drei Uhr dann einen Brief an Hen­ry geschrie­ben. Lie­ber Hen­ry, anbei die Stre­cke Paris — Mum­bai in Wor­ten, so wie sie der Com­pu­ter aus­ge­rech­net hat. Ich habe für das tür­ki­sche Staats­ge­biet eini­ge Lücken gelas­sen, da ich ent­spre­chen­de Zei­chen­sät­ze nicht fin­den konn­te, um Städ­te und Dör­fer kor­rekt dar­zu­stel­len. Von die­sen Gebie­ten ein­mal abge­se­hen, soll­te Dei­ne Rou­te voll­stän­dig vor­ge­schrie­ben sein. Du wirst, sofern alles gut gehen wird, nach 105 Stun­den Bom­bay errei­chen. Natür­lich darfst Du nicht anhal­ten, am bes­ten reist Du in Beglei­tung. Das Pro­gramm gab fol­gen­den war­nen­den Hin­weis: Unse­re Anga­ben die­nen nur zu Pla­nungs­zwe­cken. Es ist mög­lich, dass die Ver­kehrs­ver­hält­nisse auf­grund von Bau­stel­len, Ver­kehr, Wet­ter oder ande­ren Fak­to­ren von den hier dar­ge­stell­ten Vor­schlä­gen abwei­chen. Sie soll­ten daher Ihre Rei­se ent­spre­chend pla­nen und alle Ver­kehrs­schil­der oder Hin­weise bezüg­lich Ihrer Rou­te beach­ten. Ich wün­sche Dir, lie­ber Hen­ry, eine gute Rei­se. Dein Lou­is > Rou­te nach Mum­bai Cen­tral, Mum­bai, Maha­rash­tra, Indi­en 9.302 km – ca. 105 Stun­den Paris, Frank­reich‎ 1. Auf Rue de Rivo­li nach Wes­ten Rich­tung Rue du Renard star­ten 69 m wei­ter gesamt 69 m 2. Leicht links abbie­gen auf Rue de la Cou­tel­le­rie Ca. 56 Sekun­den 140 m wei­ter gesamt 210 m 3. Rechts abbie­gen auf Av. Vic­to­ria 32 m wei­ter gesamt 240 m 4. 1. Abzwei­gung links neh­men, um auf Rue Saint-Mar­tin zu wech­seln 71 m wei­ter gesamt 300 m 5. 1. Abzwei­gung links neh­men, um auf Quai de Ges­v­res zu wech­seln Ca. 1 Minu­te 160 m wei­ter gesamt 450 m 6. Wei­ter auf Quai de l’Hôtel de ville Ca. 1 Minu­te 600 m wei­ter gesamt 1,1 km 7. Wei­ter auf Quai des Céles­tins Blitz­ge­rät inner­halb von 200 m 260 m wei­ter gesamt 1,3 km 8. Wei­ter auf Quai Hen­ri IV Ca. 1 Minu­te 750 m wei­ter gesamt 2,1 km 9. Wei­ter auf Voie Mazas Ca. 1 Minu­te 950 m wei­ter gesamt 3,0 km 10. Wei­ter auf Quai de Ber­cy Ca. 2 Minu­ten 1,5 km wei­ter gesamt 4,5 km 11. A3 A6 Péri­phé­ri­que Por­te de Ber­cy Cha­ren­ton Die Auf­fahrt Rich­tung A3/A6/Périphérique/Porte de Bercy/Charenton neh­men 270 m wei­ter gesamt 4,8 km 12. An der Gabe­lung rechts hal­ten und wei­ter Rich­tung A4 70 m wei­ter gesamt 4,8 km 13. An der Gabe­lung rechts hal­ten und wei­ter Rich­tung A4 120 m wei­ter gesamt 5,0 km 14. An der Gabe­lung rechts hal­ten und wei­ter Rich­tung A4 27 m wei­ter gesamt 5,0 km 15. A4 Metz Nan­cy Mar­ne la Val­lée Cré­teil An der Gabe­lung rechts hal­ten, Beschil­de­rung in Rich­tung A4/Metz/Nancy/Marne la Vallée/Créteil fol­gen und wei­ter auf A4 Teil­weise gebüh­ren­pflich­tige Stra­ße Blitz­ge­räte ab 7,4 km > …

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am Wasser

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gink­go : 2.08 — Eine Foto­gra­fie, die mich ges­tern Abend per Email erreich­te, zeigt eine älte­re Frau auf der Dach­ter­ras­se eines Hau­ses, das voll­stän­dig aus Holz zu bestehen scheint. Das Gebäu­de befin­det sich an der Küs­te des Atlan­tiks auf Sta­ten Island. Ein blü­hen­der Gar­ten umgibt das Anwe­sen weit­räu­mig, man kann das gut erken­nen, weil der Foto­graf zum Zwe­cke der Auf­nah­me auf einen höhe­ren Baum gestie­gen sein muss, im Hin­ter­grund das Del­ta des Lemon Creek, zwei schnee­wei­ße Segel­boo­te, die vor Anker lie­gen, und Schwä­ne, sowie ein paar ame­ri­ka­ni­sche Sil­ber­mö­wen, die sich zan­ken. Die Frau nun winkt mit ihrer lin­ken Hand zu dem Foto­gra­fen hin. Mit der andern Hand drückt sie ihren Som­mer­hut fest auf den Kopf, ver­mut­lich des­halb, weil an dem Tag der Auf­nah­me eine fri­sche Bri­se vom Meer her weh­te. Far­ben sind auf dem Schwarz­weiß­bild nur zu ver­mu­ten. Ich erin­ne­re mich jedoch, dass mir jemand erzähl­te, das Haus sei in einem leuch­ten­den Rot gestri­chen. Bei der Frau auf der Foto­gra­fie han­delt es sich übri­gens um Emi­ly im Alter von 62 Jah­ren. Ich kann das so genau sagen, weil in einer Notiz, die der Email bei­gefügt wur­de, ein Hin­weis zu fin­den war, eben auf Emi­ly, die sich im Moment der Belich­tung auf der Dach­ter­ras­se ihres Hau­ses damit beschäf­tig­te, eine Salz­wie­se anzu­le­gen: Das ist mei­ne Emi­ly als sie noch leb­te. Ein hei­ßer Tag. Wir waren von einem Spa­zier­gang zurück­ge­kom­men, hat­ten in Ufer­nä­he Salz­mie­ren, Strand­a­s­tern, Mit­tags­blu­men, Fuchs­schwän­ze, Blei­wurz und Was­ser­nüs­se gesam­melt. Am Nach­mit­tag mach­te sich Emi­ly an die Arbeit. Sie brach­te san­di­ge Erde auf ihren Blu­men­ti­schen aus, in wel­cher Lei­tun­gen für Flut, für Ebbe ver­bor­gen lagen. Sie war glück­lich gewe­sen, aber sie ahn­te bereits, dass das Was­ser stei­gen wird. Sie fürch­te­te sich vor den Win­ter­stür­men, ihren Namen, ihrer tosen­den Wild­heit. Am dem Abend, als ich die Auf­nah­me mach­te, sag­te Emi­ly, dass es selt­sam sei, sie habe das Gefühl, an einem Ort zu woh­nen, der eigent­lich schon dem Meer gehö­re. Dein S. — stop
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