himalaya : 0.02 — Vielleicht darf ich folgenden Bericht in voller Länge wiedergeben. Der junge Journalist Zouhir al Shimle berichtet via E‑Mail für Die Zeit: Seit Aleppo belagert ist, fliegen Assads Truppen und seine Verbündeten jeden Tag Luftschläge auf die Viertel der Rebellen, also auch dort, wo ich lebe. Ununterbrochen dröhnen Kampfjets über uns hinweg, Helikopter kreisen über den Häusern. Jeden Tag sterben hier fast fünfzig Zivilisten. Wir leben in einem nie endenden Getöse von Schießereien, Explosionen, Geschrei. Die meisten von uns trauen sich nicht mehr, nach draußen zu gehen. Manchmal hetzen ein paar Leute die Straßen entlang, um Lebensmittel zu besorgen – und rennen sofort nach dem Einkauf zurück in ihre Wohnungen. Dabei ist es zu Hause nicht sicherer als auf der Straße. Denn die Bomben treffen auch unsere Häuser. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich das Donnern der Kampfflugzeuge, von irgendwo her dringt Gefechtslärm. Gott sei Dank habe ich bisher alle Angriffe überlebt. Aber vor ein paar Tagen war ich dem Tod so nah wie nie zuvor. Ich war im Viertel Al-Mashhad unterwegs, dort, wo mein Büro ist. Ich stand gerade im Laden in unserer Straße, um mir etwas zu trinken zu kaufen, als die erste Fassbombe einschlug, gerade mal fünf Häuser von uns entfernt. Ich duckte mich für einige Sekunden vor den umherfliegenden Metallteilen. Dann rannte ich raus auf die Straße. Nur wenige Sekunden später schlug in der Straße die zweite Faßbombe ein. Ein Metallsplitter bohrte sich in meinen Rücken, ein anderer in mein Bein. Ich rannte von der Straße wieder zurück zum Laden. Und war vor Schock wie gelähmt: Sieben Menschen, die dort Schutz vor der zweiten Bombe gesucht hatten, waren tot, zerquetscht vom Schutt der eingestürzten Decke. Sie starben nur, weil sie sich in den Sekunden der Explosion anders entschieden hatten: Sie hielten sich zwischen den Regalen versteckt, während ich auf die Straße lief. Nur deswegen habe ich als Einziger von uns überlebt. Die Helfer hatten große Mühe, die verdrehten und durchtrennten Körper aus dem Geröll zu ziehen. Angehörige der Toten lagen am Boden und schrien, Kinder weinten. Aus einigen Körpern quollen Innereien, überall lagen abgetrennte Hände und Beine. Insgesamt starben durch diese Angriffe 15 Menschen, 25 – mit mir – wurden verletzt. Ich kann diese Bilder nicht vergessen. Ich hätte einer dieser Körper sein können. Ich wurde schnell in ein Krankenhaus gebracht, doch helfen konnte mir dort niemand. Zu viele Menschen brauchten Hilfe, unaufhörlich brachten Männer neue Tragen mit Schwerverletzten hinein. Während ich auf den Arzt wartete, sah ich so viel Blut, dass ich zu halluzinieren begann. Ein Freund brachte mich deshalb in ein anderes Krankenhaus, wo sich Schwestern um mich kümmerten. Sie entfernten einen Metallsplitter, der andere steckt noch in meinem Bein. Sie sagen, er könne erst in einiger Zeit entfernt werden. Doch es sind nicht nur die Bomben und Gefechte, die unser Überleben immer schwerer machen. Das Regime hat nun auch die Castello-Straße eingenommen. Sie ist eine Todeszone geworden: Ständig wird geschossen, brennende Autos liegen am Straßenrand. Das Regime kämpft dort mit aller Macht – und schneidet uns damit von der Außenwelt ab. Die Castello-Straße war bislang die einzige Verbindung von Aleppo nach draußen, in die Vororte und in die Türkei. Es war die Lebensader der Stadt, von dort haben wir Lebensmittel, Gas, Brennstoff, Trinkwasser und Medizin bekommen. Die Belagerung ist für uns dramatisch. Denn jetzt gibt es kaum noch Obst und Gemüse zu kaufen, überhaupt sind die Märkte fast leer. Auch haben wir immer weniger Brennstoff, wir verbrauchen gerade die letzten Reserven der Stadt. Bald schon werden wir in kompletter Dunkelheit leben. Das ist es, was das Regime und seine Milizen wollen: dass Aleppo langsam stirbt. Sie setzen dabei allein auf die Zeit. Wir, die noch rund 300.000 Verbliebenen, werden nicht mehr lange versorgt werden können. Ich fürchte, dass unser Untergang schließlich dadurch kommt, dass wir alle um Wasser und Brot kämpfen. Und dass die, die nicht mehr stark genug sind, darum zu kämpfen, einfach verhungern werden. Fakt ist: Wir sitzen fest. Wir haben keine Chance mehr, aus Ost-Aleppo herauszukommen. Ich habe immer mit drei Freunden in einer WG zusammen gewohnt. Jetzt ist nur noch einer von ihnen hier. Malek hat geheiratet und lebt nun mit seiner Frau zusammen, sie erwarten ein Baby. Der andere, Jawad, konnte in die Türkei entkommen. Sein Vater wurde bei einem Angriff schwer verletzt und Jawad konnte mit ihm vor ein paar Wochen in die Türkei fahren, damit er dort medizinische Hilfe bekommt. Jawad versucht, wieder zu studieren. Er wird nicht mehr nach Aleppo zurückkommen. So zynisch es klingt: Er hat Glück gehabt. Denn nur sehr kranke Menschen dürfen mit einer Begleitung den Grenzübergang Bab al-Salameh in die Türkei passieren. Die Türkei ist da sehr strikt. Für mich gilt das also nicht Selbst wenn ich Aleppo verlassen wollte: Ich kann es nicht. Die Bombardierungen in der Stadt sind zu stark, ich würde nicht mehr weit kommen. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr wegkommen werde. Die Bomben fallen weiter, jeden Tag, jede Stunde. Sie treffen alles, was sich bewegt. Ich sitze in Aleppo fest. Aber noch bin ich am Leben. — stop
Aus der Wörtersammlung: leitung
pinguin
ulysses : 0.08 — Nachts bei geöffnetem Fenster: Geräusche eines Regenwaldes. Sie kamen um Sekunden in der Zeit verzögert über das Internet zu mir ins Zimmer. Ich glaube der wilde Regenwald war ein peruanischer Regenwald, wunderbare Klänge, Vogel- und Affenstimmen, Regen und Wind in den Blättern der Bäume. Ich dachte, wenn doch nur jemand auf der anderen Seite der Leitung wahrnehmen könnte, welche Geräusche in einer mitteleuropäischen Wohnung unter dem Dach eines Hauses im Herzen einer großen Stadt in einer Nacht wie dieser Nacht zu hören sind. Ich prüfte das Mikrofon meiner Schreibmaschine. Dann stand ich auf und spielte aus der Konserve: Benny Goodman. Ich stellte mir vor, wie es für einen kurzen Moment im Wald drüben in Peru still werden würde, wie man lauscht auf den Bäumen, wie sich das Orchester der Waldtiere fröhlich neu sortieren würde. Es regnete, kaum war die Straße vor dem Haus noch zu sehen. Auf meinem Fensterbrett kauerten fünf nasse Spatzen, ein Rotkehlchen, zwei Amseln und eine Taube, auch sie lauschten. Deutlich konnte ich auf dem Giebel eines nahen Hauses einen Pinguin erkennen, der sich gegen den Regenwind stemmte. — stop
benny
goodman
lets dance
brooklyn heights promenade : höhe pierrepont st.
delta : 0.02 — Immer wieder bemerkenswert in der Dämmerung: Der synchrone Auftritt korpulenter Netzspinnen. Von einem Augenblick zum nächsten, sitzen sie im Dutzend in der Meeresluft auf Vornachtgespinsten, um unverzüglich Reparaturarbeiten aufzunehmen. Fast möchte man meinen, sie wären in ihren Tagesverstecken mittels geheimer Signalleitungen miteinander verbunden, so plötzlich tauchen sie in der Dunkelheit auf, lautlos, ohne Geruch, verweben sie Fäden von staubigem Licht. Ich habe den Verdacht, sie könnten, mit sensibelsten optischen Sensoren ausgerüstet, in der Lage sein, feinste Grade von Lichtstärke zu messen. Ich dachte, eine Art der Dauerbeleuchtung, Mitternachtssonne über Manhattan, könnte sie mürbe machen. — stop
tarasa shevchenko boulevard
alpha : 3.12 — Auf Nachtbänken schlafen Menschen, ärmlich gekleidete Personen. Sie liegen mit ihrem Kopf auf Taschen, in welchen sich Ausweise und Geld befinden. Sobald Menschen schlafen erscheinen sie in meinen Augen wie Kinder, sie wirken zerbrechlich, auch wenn sie bärenstarke Männer sind, die vor Wochen noch in Rumänien oder Bulgarien lebten. Staubig sind sie geworden, ein strenger Geruch geht von ihren Körpern aus. Wenn sie wach werden am Morgen, wenn sie im goldenen Licht der Flughafentransferräume sitzen, die Luft duftet nach frischem Gebäck und Kaffee, schauen sie mit todmüden, geröteten Augen in den Strom der Passagiere, feine, edle Gestalten dort, viele scheinen fröhlich zu sein, sie führen flache Computer mit sich und Bordzeitungen, sind in graue oder blaue Anzüge gehüllt, in Begleitung schwebender oder rollender Koffer. Es ist kurz nach sechs Uhr. Langstreckenflugzeuge sind gelandet, New York, Los Angeles, Peking, Mumbai, Buenos Aires, Ottawa. Vor einer Rolltreppe warten zwei Frauen. Die eine der Frauen erzählt eine Geschichte in deutscher Sprache mit russischem Akzent. Ich bleibe stehen, ich höre zu. Es ist eine Geschichte, die von der Stadt Kyjiw handelt. Sie sei, sagt die Frau, im Juli des Jahres 1986 nach Kyjiw gekommen, um dort zu singen, das heißt, ein Konzert zu geben. Sie erinnere sich an bleigraue Rohre, die allerorten entlang der Häuserwände in den Straßen verlegt worden seien. Wasser strömte aus diesen Rohren über Gehsteige, es war darum so gewesen, um radioaktiven Staub, der von der Luft herangetragen wurde, fort zu waschen. Für einen Moment der Eindruck, die Frau habe bemerkt, dass ich ihrer Geschichte folge und dass sie nichts dagegen einzuwenden hat. Sie entnimmt ihrer Handtasche sieben Ausweise in weinroter Farbe, Reisepässe, ungültig gewordene Dokumente, in einem dieser Ausweise befindet sich ein Stempel, jener Stempel, der die Reise nach Kyjiw dokumentiert. Es ist eine Frage von Sekunden, bis die Frau mit ihrem rechten Zeigefinger das Papier, auf dem der Stempel seit Jahren festgehalten ist, berühren wird. — stop
ferdinands letztes ende
sierra : 5.52 — Vom Ferdinand habe ich lange Zeit nichts gehört. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war ich überzeugt gewesen, dass er gefährlich geworden war, verrückt, er brüllte herum, sobald er bemerkte, dass man ihm nicht länger zuhören wollte. Kurz darauf plötzlich Stille. Kein Anruf, niemand hatte ihn gesehen, niemand erwähnte seinen Namen, ich traf ihn niemals auf der Straße, nicht im Kino, nicht in den Cafes, nicht im Theater, als wär er eine Erfindung gewesen. Wenn ich an ihn dachte, sagte ich leise, gut so, vielleicht bist du tatsächlich nicht länger hier. Bei dem Gedanken aber, dass er überhaupt aufgehört haben könnte zu existieren, hatte ich ein eigenartiges Gefühl, als ob ich etwas versäumte, noch einmal ein Gespräch, ein oder zwei Fragen, ein Spaziergang ohne zu sprechen, eine Korrektur. Deshalb doch leise Freude, als er anrief, fragte, ob er mich treffen könne. Fünf Jahre, wie die Zeit vergeht, wie siehst Du denn aus, kennen wir uns noch? Ich sagte, dass ich mich vermutlich kaum verändert haben würde, und sofort erwiderte er, dass auch er sich auch kaum verändert habe, dass er noch immer derselbe sei, ein paar neue Zellen, sonst aber derselbe. Also habe ich mich gefreut, dass Ferdinand noch lebte, obwohl wir uns nicht wiedersehen werden, weil er immer noch derselbe ist, weil er unverzüglich losbrüllte am Telefon, als ich von ihm wissen wollte, ob er noch immer gern betrunken sei. Er brüllte also, dann legte er auf. Das war so, als ob er in diesem Moment aufhörte zu atmen, Ruhe, Frieden, ein stillstehendes Herz. — Späte Nacht. Sitze auf einem Stuhl am Fenster und lese im neuen Salterroman. Habe das Buch in zweifacher Ausgabe, einerseits einen schweren Körper, in dem ich blättern kann, anderseits einen derart leichten elektrischen Körper, dass mein Notebook kein Gramm schwerer wurde, als der Roman durch die Leitung zu mir gesendet wurde. All night in darkness the water sped past. — stop
PRÄPARIERSAAL : ein arm
ginkgo : 0.18 — Pia erzählt : > Manchmal, wenn ich abends nach dem Präparierkurs nach Hause gehe, bemerke ich, dass ich die Eindrücke, die ich im Präpariersaal gewonnen habe, nicht mit der Straße, über die ich spaziere oder mit den Gesprächen der Menschen, die ich in der U‑Bahn höre, in eine Verbindung bringen kann. Ich habe das Gefühl, dass der Saal irgendwie frei schwebt, also ganz für sich ist, isoliert. Ich reise zwischen zwei Welten, von da nach dort und wieder zurück, und das geht gut so hin und her. Ich wundere mich, dass ich bisher noch nie vom Präpariersaal geträumt habe, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Ich glaube, ich bin in irgendeiner Weise geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich schützt, vielleicht ist es die Freude an der Arbeit, die Dichte der Aufgaben, die mir gestellt sind. Ja, es ist viel zu tun. Leider kann ich nicht wirklich erzählen, was ich erlebe, ich meine zu Hause meinen Eltern oder meinen Freunden. Diese eine Geschichte zum Beispiel, wie ich an einem Donnerstag in den Präpariersaal trete und sehe, dass etwas grundsätzlich anders geworden ist. Ich war natürlich nicht unvorbereitet gewesen, denn in der Präparieranleitung wurde verzeichnet, dass die Leichen auf dem Tisch von den Präparatoren an einem Mittwochnachmittag zerlegt werden. Und so war es gekommen. Auf den Tischen lagen nur noch Arme und Beine und die Hälften je eines Kopfes. Seltsam, sage ich Ihnen, sehr seltsam! Aber natürlich sinnvoll. Von diesem Moment an ist es möglich, einen Arm in die Hand zu nehmen und von allen Seiten her zu betrachten, oder ein Bein. Ich musste mich etwas überwinden, das natürlich, aber dann habe ich einen der beiden Arme auf dem Tisch angehoben, bin mit ihm durch den Saal gelaufen und habe ihn unter fließendem Wasser gewaschen. Als ich auf dem Weg zurück an den Tisch war, kam mir eine Kommilitonin entgegen, auch sie trug einen Arm vor sich her. Der Arm war sehr groß, richtig schwer, eine kleine Frau und ein großer Männerarm. Wir lächelten uns an, ich glaube, weil wir beide in unseren Augen seltsam ausgesehen haben könnten. Zurück an den Tisch gekommen, habe ich das Armpräparat untersucht, Muskeln, wo sie ansetzen, und Sehnen. Ich erinnere mich, ich habe etwas unternommen, das ich nur deshalb tun konnte, weil der Arm der Körperspenderin ganz für sich gewesen war. Ich habe nämlich an einer Sehne des Unterarmes gezupft und beobachtet, wie sich an der Hand in nächster Nähe ein Finger bewegte. Einmal, vielleicht zwei oder drei Tage später, beobachtete ich, wie Kommilitonen an ihren Tischen, bevor sie ihr Präparat mit Tüchern bedeckten, Arme und Beine und die Hälften der Gesichter, so auf den Tisch anordneten, dass sie wieder an einen vollständigen Körper erinnerten. Das hat mich beruhigt. - stop
ludmilla
echo : 6.12 — Ich habe eine Email bekommen. Lesen Sie selbst: Verehrter Louis, wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie sind wohlbehalten zurückgekehrt von Ihrer Reise. Leider konnten wir uns nicht treffen so wie noch im Januar geplant. Es ist schwieriger geworden, das Haus zu verlassen. Ich fühle mich nicht länger sicher auf der Straße. Aber auch unter meinem eigenen Dach habe ich immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich nehme an, es existieren längst Ideen über mich, vielleicht wird man sagen: Er könnte nun doch verrückt geworden sein. Aber natürlich weiß ich, was ich tue und wovor ich mich fürchte. Im April war ich noch lange Stunden am Strand unterwegs gewesen, besuchte meine Freundin Ludmilla, die abends vor dem Boardwalk mit ihren Freuden im kalten Seewind sitzt. Ihr gehört jetzt ein Rollstuhl, den sie von eigener Hand bewegen kann, weil sie zäh und leicht ist, Sie würden staunen. Irgendwann muss ich das Haus wieder verlassen, das ist mir Herzenswunsch, ich kann Ludmilla doch nicht verlieren, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Im Dezember wird sie 92 Jahre alt, da kann man an das Ende schon einmal denken, nicht wahr! Nun, ich will nicht klagen, bin sehr vorsichtig geworden. Wenn ich zum Einkaufen gehe einmal in der Woche, dann niemals allein, sondern immer in der Begleitung eines alten Freundes. Sie werden verstehen, dass ich seinen Namen nicht erwähne. Er ist zuverlässig, hilft mir beim Tragen der Flaschen. Was ich sonst noch benötige, lass ich mir kommen. Ich erinnere mich, jetzt da ich hier sitze und schreibe, dass ich als Kind einmal überlegte, eine Sprache zu erfinden, die nur ich verstehen kann. Ich hatte mir vorgenommen, alle Wörter, die ich kannte, in meine neue Sprache zu übersetzen. Ich wollte lernen, mittels dieser Wörter zu denken. Seit wenigen Tagen nun arbeite ich daran, mir genau diesen uralten Wunsch zu erfüllen. Ist das nicht wunderbar! Vielleicht werde ich mich bald wieder sicher fühlen. Seemöwen sitzen auf dem Balkon, ihre Augen wirken beizeiten so, als wären sie Objektive, die man füttern kann. Genug! Es ist Sonntag. Morgen werde ich Ihnen einen Brief von Papier übermitteln, in welchem ich eine Liste von Wörtern vermerkte, die Sie in Zukunft bitte nicht weiter verwenden, wenn Sie mir eine Email schreiben. Sie wissen, wo der Brief zu finden ist. Bis bald, mein lieber Louis. Ihr Michael — stop
regen
ulysses : 6.06 — Gestern Abend telefonierte ich mit einer Freundin. Sie hatte kurz zuvor geschrieben, Hochwasser habe den Keller ihres Hauses erreicht. Sie erzählte, das Wasser komme nun durch zwei kleine Löcher in Boden und Wand herein, 5 Liter in einer halben Stunde. Ich hörte ihre Stimme, erschöpft, müde, sie wolle sich einen Wecker stellen und jede halbe Stunde Wasser schöpfen. Eine harte Sache, die noch einen Tag und eine ganze Nacht so weitergehen könne. Während wir sprachen, war das Geräusch tropfenden Wassers im Hintergrund zu vernehmen, als würde meine Gesprächspartnerin in einer Höhle sitzen, in einer entfernten Zeit, auf dem Mond oder auf dem Mars. Als ich klein und sehr unerfahren gewesen war, hatte ich die Vorstellung, nach starkem Regen könnte das Wasser in Telefonleitungen dringen. Ich wunderte mich deshalb, dass das Telefonieren nach Gewitterregen noch funktionierte. Wenn ich dann etwas später durch den Garten spazierte, meinte ich zu beobachten, wie unsere Telefonleitungen aus dem Boden flüchteten. Sie hatten sich zu Teilen aufgelöst und schlängelten, hellrote, glänzende Würmer, durch das feuchte Gras. Ich konnte sie berühren, und wenn ich sie ihn meine Hände nahm, kitzelte es sehr angenehm auf den Handflächen. Einmal setzte ich eine flüchtende Telefonleitung in ein Marmeladeglas. Es waren ein gutes Dutzend Würmer gewesen, die sich um Ausgang bemühten. Ich beäugte sie lange Zeit, die Wände des Glases beschlugen rasch, so dass ich das Glas immer wieder öffnen musste. Wenn ich mein Ohr an den Behälter drückte, konnte ich sie hören, einen eigentümlichen Laut der Not, für dessen Beschreibung ich bisher kein Wort entdeckte. Damals nahm ich das Glas mit in mein Zimmer. Ich stellte es unter mein Bett. Am nächsten Morgen hatte ich seine Existenz vergessen. — stop
paris — mumbai
tango : 3.55 — Eine angenehme Nacht. Leises Regengeräusch. Ich habe über die Erfindung fliegender Pflanzen nachgedacht, über Pflanzen, die zeitlebens den Erdboden niemals berühren. Gegen drei Uhr dann einen Brief an Henry geschrieben. Lieber Henry, anbei die Strecke Paris — Mumbai in Worten, so wie sie der Computer ausgerechnet hat. Ich habe für das türkische Staatsgebiet einige Lücken gelassen, da ich entsprechende Zeichensätze nicht finden konnte, um Städte und Dörfer korrekt darzustellen. Von diesen Gebieten einmal abgesehen, sollte Deine Route vollständig vorgeschrieben sein. Du wirst, sofern alles gut gehen wird, nach 105 Stunden Bombay erreichen. Natürlich darfst Du nicht anhalten, am besten reist Du in Begleitung. Das Programm gab folgenden warnenden Hinweis: Unsere Angaben dienen nur zu Planungszwecken. Es ist möglich, dass die Verkehrsverhältnisse aufgrund von Baustellen, Verkehr, Wetter oder anderen Faktoren von den hier dargestellten Vorschlägen abweichen. Sie sollten daher Ihre Reise entsprechend planen und alle Verkehrsschilder oder Hinweise bezüglich Ihrer Route beachten. Ich wünsche Dir, lieber Henry, eine gute Reise. Dein Louis > Route nach Mumbai Central, Mumbai, Maharashtra, Indien 9.302 km – ca. 105 Stunden Paris, Frankreich 1. Auf Rue de Rivoli nach Westen Richtung Rue du Renard starten 69 m weiter gesamt 69 m 2. Leicht links abbiegen auf Rue de la Coutellerie Ca. 56 Sekunden 140 m weiter gesamt 210 m 3. Rechts abbiegen auf Av. Victoria 32 m weiter gesamt 240 m 4. 1. Abzweigung links nehmen, um auf Rue Saint-Martin zu wechseln 71 m weiter gesamt 300 m 5. 1. Abzweigung links nehmen, um auf Quai de Gesvres zu wechseln Ca. 1 Minute 160 m weiter gesamt 450 m 6. Weiter auf Quai de l’Hôtel de ville Ca. 1 Minute 600 m weiter gesamt 1,1 km 7. Weiter auf Quai des Célestins Blitzgerät innerhalb von 200 m 260 m weiter gesamt 1,3 km 8. Weiter auf Quai Henri IV Ca. 1 Minute 750 m weiter gesamt 2,1 km 9. Weiter auf Voie Mazas Ca. 1 Minute 950 m weiter gesamt 3,0 km 10. Weiter auf Quai de Bercy Ca. 2 Minuten 1,5 km weiter gesamt 4,5 km 11. A3 A6 Périphérique Porte de Bercy Charenton Die Auffahrt Richtung A3/A6/Périphérique/Porte de Bercy/Charenton nehmen 270 m weiter gesamt 4,8 km 12. An der Gabelung rechts halten und weiter Richtung A4 70 m weiter gesamt 4,8 km 13. An der Gabelung rechts halten und weiter Richtung A4 120 m weiter gesamt 5,0 km 14. An der Gabelung rechts halten und weiter Richtung A4 27 m weiter gesamt 5,0 km 15. A4 Metz Nancy Marne la Vallée Créteil An der Gabelung rechts halten, Beschilderung in Richtung A4/Metz/Nancy/Marne la Vallée/Créteil folgen und weiter auf A4 Teilweise gebührenpflichtige Straße Blitzgeräte ab 7,4 km > …
am Wasser
ginkgo : 2.08 — Eine Fotografie, die mich gestern Abend per Email erreichte, zeigt eine ältere Frau auf der Dachterrasse eines Hauses, das vollständig aus Holz zu bestehen scheint. Das Gebäude befindet sich an der Küste des Atlantiks auf Staten Island. Ein blühender Garten umgibt das Anwesen weiträumig, man kann das gut erkennen, weil der Fotograf zum Zwecke der Aufnahme auf einen höheren Baum gestiegen sein muss, im Hintergrund das Delta des Lemon Creek, zwei schneeweiße Segelboote, die vor Anker liegen, und Schwäne, sowie ein paar amerikanische Silbermöwen, die sich zanken. Die Frau nun winkt mit ihrer linken Hand zu dem Fotografen hin. Mit der andern Hand drückt sie ihren Sommerhut fest auf den Kopf, vermutlich deshalb, weil an dem Tag der Aufnahme eine frische Brise vom Meer her wehte. Farben sind auf dem Schwarzweißbild nur zu vermuten. Ich erinnere mich jedoch, dass mir jemand erzählte, das Haus sei in einem leuchtenden Rot gestrichen. Bei der Frau auf der Fotografie handelt es sich übrigens um Emily im Alter von 62 Jahren. Ich kann das so genau sagen, weil in einer Notiz, die der Email beigefügt wurde, ein Hinweis zu finden war, eben auf Emily, die sich im Moment der Belichtung auf der Dachterrasse ihres Hauses damit beschäftigte, eine Salzwiese anzulegen: Das ist meine Emily als sie noch lebte. Ein heißer Tag. Wir waren von einem Spaziergang zurückgekommen, hatten in Ufernähe Salzmieren, Strandastern, Mittagsblumen, Fuchsschwänze, Bleiwurz und Wassernüsse gesammelt. Am Nachmittag machte sich Emily an die Arbeit. Sie brachte sandige Erde auf ihren Blumentischen aus, in welcher Leitungen für Flut, für Ebbe verborgen lagen. Sie war glücklich gewesen, aber sie ahnte bereits, dass das Wasser steigen wird. Sie fürchtete sich vor den Winterstürmen, ihren Namen, ihrer tosenden Wildheit. Am dem Abend, als ich die Aufnahme machte, sagte Emily, dass es seltsam sei, sie habe das Gefühl, an einem Ort zu wohnen, der eigentlich schon dem Meer gehöre. Dein S. — stop