alpha : 22.05 UTC — Eigenartig, wie sie vor mir sitzt, die flachen Schuhe gegen die Beine des Stuhles gestemmt, beide Hände auf dem Tisch, Innenseiten nach oben, derart verrenkt, als gehörten diese Hände nicht zu ihr, als seien sie vorsätzlich angebrachte Instrumente, Werkzeuge des Fangens, Blüten. Jetzt schließen sie sich, Finger für Finger, Nacht wird. — ::: — Eine Fotografie kommt über den Tisch, Take Five, lässige Geste, als würde eine Karte ausgespielt. „Was siehst Du?“, fragt sie. – ::: — „Landschaft!“, — antworte ich, „Afrika. Südliches Afrika. Einen Affenbrotbaum und zwei Männer. Einen jungen Mann schwarzer Hautfarbe, der einen hellen Anzug trägt, und einen älteren, einen weißen Mann, der einen dunkelgrauen Anzug trägt, einen Strohhut und eine Brille. Eine staubige Straße. Menschen, die schwarz sind und bewaffnet. Gewehre. Macheten. Harte Schatten. Spuren von Hitze, infernalischer Hitze. Sie sehen alle so aus, als schwitzten sie. Jawohl, alle, die dort auf der Straße stehen, schwitzen.“ — ::: — „Was noch?“ -, fragt sie, — „was siehst Du noch?“ – ::: — Sie fährt sich mit ihrer rechten Hand über die Stirn. – ::: — „Ich sehe ein Auto. Das Auto steht rechts hinter dem weißen Mann, eine dunkle Limousine, ein schwerer Wagen. Ich sehe einen Chauffeur, einen Chauffeur von schwarzer Haut, Schirmmütze auf dem Kopf. Der Chauffeur lächelt. Er schaut zu den beiden Männern hinüber, die unter dem Baum im Schatten stehen. Der weiße Mann reicht dem schwarzen Mann die Hand oder umgekehrt. Sieht ganz so aus, als sei der weiße Mann mit dem Auto angekommen und der schwarze Mann habe auf ihn gewartet. Historischer Augenblick, so könnte das gewesen sein, ein bedeutender Moment, eine erste Begegnung oder eine letzte. Beide Männer haben ernste Gesichter aufgesetzt, sie stehen in einer Weise aufrecht, als wollte der eine vor dem anderen noch etwas größer erscheinen. Da ist ein merkwürdiger Ausdruck in dem Gesicht des jungen, schwarzen Mannes, ein Ausdruck von Überraschung, von Verwunderung, von Erstaunen.“ – ::: — „Das ist es!“, sie flüstert. „Treffer!“- ::: — Jetzt lacht sie, öffnet ihre Fäuste und das Licht kehrt zurück, der ganze Film. „Die Klimaanlage. Der verdammte Wagen dort unter dem Baum. Der Weiße hat dem Schwarzen eine kühle Hand gereicht, Du verstehst, eine kühle Hand. Dieser Kerl hatte eiskalte Hände.“ — stop
Aus der Wörtersammlung: licht
verschwinden no 2
echo : 20.05 UTC — Manchmal, während ich hinter dem Rollstuhl meiner Mutter spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Ich sehe Schwalben über den Himmel huschen, ich sehe das Strohhütchen meiner Mutter auf ihrem Kopf, ich sehe ihre alten Hände, die miteinander ringen. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter gedankenlos sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und demselben Moment. Ich vergesse Schwalben, Rosenblüten, die Hände meiner Mutter, ihr Hütchen auf dem Kopf, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
tasmanien
echo : 22.15 UTC — In den Magazinen eines Briefmarkenhändlers entdeckte ich kürzlich einen besonderen Brief. Der Brief war mit Postwertzeichen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens versehen, eine nicht übliche Art der Frankierung. Weiterhin war der Brief an eine weibliche Person adressiert, wohnhaft in einer Stadt, die überhaupt nicht existiert: 85, Teatree-City / Tasmania. Unter dieser handschriftlichen Ortsangabe nun fand sich eine filigrane Buntstiftzeichnung, deren Schönheit sich zunächst im Licht eines starken Vergrößerungsglases erschloss. Sie zeigte ein Kreuzfahrtschiff, das eine Küste passiert, dort eine bergige Landschaft, dicht bewaldet. Affen, vermutlich Gibbons, waren zu erkennen, die an ihren Schwänzen oder langen Armen in den Bäumen hingen. Manche der Affen hielten die Augen geschlossen, vermutlich, weil sie schliefen, andere schienen den Künstler selbst, der sie gestaltete, zu beobachten. Da waren noch zwei Panther im Unterholz, einige Muscheln im Sand, und Krabben, und fliegende Fische. Über den Stamm eines Baumes wanderten Ameisen, welche Einzelteile eines Vogels transportierten, Federn, Teile eines Schnabels, Knochen. Über einen Absender verfügte der Brief übrigens nicht, auch nicht über fühlbaren Inhalt. — stop
haus no 178
romeo : 20.33 UTC — Wie viele Male bin ich bereits an dem Büro im Parterre des Hauses No 178 vorüber gekommen, es müssen hunderte Male gewesen sein. Ein Mann sitzt dort hinter einem Fenster, der im Licht einer Lampe und eines Bildschirmes arbeitet, ohne je seinen Kopf zu heben, wenn ich an ihm vorübergehe. Andere berichten das Gleiche. Und das ist doch seltsam, er scheint an dem Leben auf der Straße überhaupt nicht interessiert zu sein. Nie wendet er den Kopf, als sei er fest verschraubt, als sei auch seine Wirbelsäule verankert in dieser Haltung geradeaus auf einem Stuhl, der gleichwohl nicht beweglich ist, sodass der Mann weder freiwillig noch mit Vergnügen so vor dem Tisch sitzen wird, sondern weil er nicht anders kann. Und weil das so zu sein scheint, wird der Mann vermutlich über Radare gebieten, die ihm ermöglichen zu wissen, wer an seiner Tür vorüber kommt. Er weiß nämlich immerzu genau, wer kommt und wieder verschwindet, vermutlich kann er sehr gut riechen oder aber er kann sehr gut hören, kann mit den Ohren sehen. Er irrt sich, wie ich hörte, nie. — stop
ai : ÄGYPTEN
MENSCH IN GEFAHR: „Am 9. Mai stellte Amal Fathy ein Video auf ihrer Facebook-Seite ein, in dem sie die von ihr erlebte sexualisierte Belästigung thematisierte, die Dringlichkeit dieses Problems in Ägypten betonte und die Regierung kritisierte, weil sie die Frauen in Ägypten nicht davor schützt. Zudem kritisierte sie das scharfe Vorgehen der Regierung gegen die Menschenrechte, die sozioökonomischen Bedingungen und die Missstände im öffentlichen Dienstleistungssektor. Daraufhin durchsuchte die Polizei am 11. Mai gegen 2:30 Uhr die Wohnung von Amal Fathy und inhaftierte sie in der Polizeiwache Maadi in Kairo zusammen mit ihrem Ehemann Mohamed Lotfy, einem früheren Mitarbeiter von Amnesty International und aktuellen Direktor der Menschenrechtsorganisation Ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten (Egyptian Commission for Rights and Freedoms – ECRF) und ihrem dreijährigen Kind. Mann und Kind wurden nach drei Stunden wieder freigelassen. / Am 11. Mai prüfte die Staatsanwaltschaft Maadi Amal Fathys Fall und ordnete 15 Tage Haft für die Dauer der Ermittlungen zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen an – unter anderem „Veröffentlichung eines Videos, das Falschinformationen enthält, die den öffentlichen Frieden beeinträchtigen könnten”. Am folgenden Tag verhörte die Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit sie in einem weiteren Fall zu ihrer angeblichen Verbindung zur Jugendbewegung 6. April. Für die Dauer der Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Gruppe ordnete sie weitere 15 Tage Untersuchungshaft an. / Internet-Trolle kopierten das Video und Fotos von Amal Fathy von ihren Sozialen Medien-Seiten und posteten sie auf Facebook und Twitter zusammen mit geschlechtsspezifischen Beschimpfungen und der Forderung nach ihrer Festnahme. Mehrere regierungsfreundliche und staatliche Medien veröffentlichten Artikel über das Video und behaupteten fälschlich, dass sie eine Aktivistin der Jugendbewegung 6. April sei und bei der ECRF arbeite. Darüberhinaus schrieben sie, dass sie mit dem Direktor der ECRF verheiratet sei und verstießen damit gegen ihr Recht auf Privatsphäre.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 30.6.2018 unter > ai : urgent action
von stühlen
nordpol : 7.58 UTC — Im Haus der alten Menschen sitzen Damen an einem Tisch von früh bis spät. Ein Fernsehapparat, der an der Wand hängt, flach wie ein Schollenfisch, spult sich durch den Tag. Die alten Damen nehmen kaum Notiz von dem Licht, das auf sie fällt. Der Ton ist ausgeschaltet, der Fisch ist stumm. So sitzen sie zeitlos, wie mir scheint, sie erinnern sich vermutlich nicht, ob ich an diesem Tag schon an ihnen vorüber gekommen bin, aber sie kennen mich, den treuen Besucher, ich habe doch einen Eindruck hinterlassen. Wenn ich mich über einen langen Flur spazierend dem Raum der alten Damen nähere, weiß ich präzise vorherzusagen, welche der Damen auf welchem der Stühle sitzen wird, vor dem Tisch, der dreimal am Tag sich füllt, mit Speisen, auch mit Kaffee oder gekühltem Himbeersaft. Nur wenn das Wetter sich Hals über Kopf verändern wird, davon erzählen leere Stühle, die doch von den Abwesenden besetzt sind, sie warten oder schlafen nachts im Halbdunkel, schlafende Stühle. — stop
nachtuhr
india : 0.06 UTC — Diese eine Minute in der Nacht. Ich stehe in der Diele im Licht und schaue auf meinen linken Arm. Ich meine, eine Uhr zu erkennen, die sich unter meiner Haut befindet, eine winzige Uhr mit einem blauen Zifferblatt, es ist dort kurz nach 2 Uhr. Ich bin überzeugt, diese Uhr noch nie zuvor gesehen zu haben. Ich gehe in die Küche und schreibe im Halbschlaf auf einen Zettel: Nachtuhr suchen. Dann schlafe ich wieder ein und finde am Morgen auf dem Tisch neben Äpfeln und Bananen meine Notiz. Seltsame Geschichte. Ob vielleicht Uhren dieser Art existieren, tauchende Uhren. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Bald wieder schlafen. — stop
von magnetbändern
lima : 0.06 UTC — Einmal, vor langer Zeit, traf ich einen Freund. Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Wir saßen in einem Café im botanischen Garten. Mein Freund erzählte von der Seefahrt als junger Mann in Maschinenräumen, von himmelblauen finnischen Winternächten, Polarlichtern, Kerzen. Seine Traurigkeit an diesem Tag, weil er einsam geworden war, weil er sein eigenes Altwerden spürte. Er erzählt von den letzten Tagen seiner Frau. Wie sie aufräumte in der Wohnung, wie sie Bücher beschriftete, dann wieder ins Krankenhaus, in Sicherheit, aber ohne zu viel Morphium, um nicht einzuschlafen. Die letzten 30 Stunden war sie dann doch bewusstlos gewesen. Einmal sprach sie wunderschöne Sätze für ihn auf den Anrufbeantworter, die er versehentlich löschte. Auf Magnetbändern, 30 Jahre sind sie alt, finden sich Aufnahmen, das weiß er genau, der Cembalistin, aber es fehlt das Abspielgerät dazu. Es geht mir ans Herz, wie ich den alten Mann in Richtung einer blühenden Kastanie davongehen sehe. Ich hatte ihn gefragt, ob er sich mit seiner Geliebten noch unterhalte, und er sagte, irgendwie schon, es ist virtuell, es kommen keine Antworten. — stop
verwandlung
echo : 0.52 UTC — Vor wenigen Tagen führte ein Gedankenaustausch mit einer Person, die mir in der digitalen Sphäre begegnete, zu einer seltsamen Situation. Später Abend. Ich stand in der Küche und schaute aus dem Fenster und überlegte, ob es sein kann, dass ein Mensch, der meinen tatsächlichen Namen nicht kennt, weil ich mit ihm unter einem Decknamen diskutierte, in der Lage sein könnte, herauszufinden, wer ich tatsächlich bin, in welcher Stadt ich wohne, in welcher Straße noch dazu. Er hatte mich nämlich als Tier bezeichnet, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob er denn jemals mit einem Menschen, der in Afrika geboren worden war, persönlich gesprochen habe. Er schrieb: Du Zecke, so können nur Schmarotzer fragen. Ich antwortete, ich müsse doch annehmen, dass er sehr viele afrikanische Menschen kenne, weil er doch andauernd über sie schreiben würde, dass man oder gar er persönlich inzwischen daran gewöhnt sei, dass Afrikaner Babys Köpfe abschneiden. Und schon wollte er mich besuchen, nicht sofort, in ein paar Tagen, vielleicht in der kommenden Woche, er würde mir dann das Licht ausknipsen. Deshalb stand ich in der Küche und überlegte. Es war kurz nach Mitternacht. — stop
haus ohne türen
india : 0.15 UTC – Ich träumte von einem Haus ohne Fenster, ohne Türen. Die Zimmer des Hauses waren von strahlend hellem Licht. Das Licht kam aus dem Boden, den Wänden, von der Decke. Auf dem Boden kauerte ein Mann. Der Mann schien darauf zu warten, dass es endlich wieder dunkel werden wird. Seine Augen waren entzündet. Er stand auf, suchte nach einem Schalter, um das Licht zu löschen. Vögel lebten in den Zimmern des Hauses, Hunderte winzige Vögel. Sie flogen herum, ohne jemals zu landen. Wenn der Mann einen der Vögel fing, war er sofort gebraten, er dampfte in seinen Händen, das Gefieder löste sich wie von selbst vom Leib und fiel zu Boden. — stop