india : 5.16 — Wusste ich es doch, entgegen der Behauptung, Libellen flögen niemals in der Nacht umher, kam gerade vor einer Stunde noch eine Libelle durchs Fenster, stockfinster draußen, vielleicht hielt sie das Licht in meinem Zimmer für einen Tag, den zu besuchen lohnte. Es war so still zu dieser Stunde, dass ich zum ersten Mal hörte, wie es klingt, wenn Libellen in nächster Nähe fliegen, sie rauschen nämlich, während sie scheinbar bewegungslos in der Luft stehen. Ich habe früher schon einmal bemerkt, dass ich gut denken und erfinden kann, sobald ich Libellen beobachte. Das ist möglicherweise deshalb so, weil Libellen sich in der Art und Weise der Gedanken selbst bewegen. Sie scheinen lange Zeit still in der Luft zu stehen und sind doch am Leben, was man daran erkennen kann, dass sie nicht zu Boden fallen. Etwas Zeit vergeht, wie immer. Und plötzlich haben sich die feinen Libellenraubtiere weiterbewegt. Sie sind von einer Sekunde zur nächsten Sekunde an einem anderen Ort angekommen. Genau so scheint es mit Gedanken zu sein. Sie springen weiter und machen neue Gedanken, ohne dass der Weg von da nach dort sichtbar oder spürbar geworden wäre. — stop
Aus der Wörtersammlung: luft
kurz vor panitanki
marimba : 4.18 — Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wo sich Milanomaki gerade tatsächlich aufhält, ich weiß nicht einmal, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt, und wie alt dieser Mensch sein könnte, der mir erzählt. Zuletzt noch folgende Notiz im Dezember: Ich sollte ein Ohrenmensch sein. Ich sitze mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und höre zu, einem Menschen vielleicht oder einer Fliege, die über mir im Luftraum turnt. Oder ich stehe in einem Zimmer ganz still, um so präzise wie möglich denken zu können. Kurz darauf setze ich mich an einen Schreibtisch und mache viele Wörter, dann mache ich eine Pause, dann lese ich alles das Notierte noch einmal durch, dann streiche ich so viele Wörter mit dem Kopf, wie möglich ist, um bald wieder nur einen Strich vor mir auf dem Papier vorzufinden. Ich habe viel erlebt. — Vor wenigen Stunden nun eine weitere Nachricht, die in einem Zugabteil dritter Klasse während einer Fahrt von Mumbai nach Darjeeling entstanden sein soll. Lesen Sie selbst: Ich kann nicht aufhören, rasendes, unentwegtes Schreiben, weil mir jemand beim Schreiben zusieht. Ich schrieb über das Fieber der vergangenen Tage, aber dann entdeckte ich den Blick der roten Schuhe, und schrieb und schrieb nur noch über meine fliegenden Hände, wie sie schneller und immer schneller notieren, während sich dieser eine rote, flache Schuh in meiner Nähe immer schneller drehte, kleine Kreise in die Luft zeichnete, die sich beschleunigten, weil ich flinker und flinker schreibe, ein Text über das Schnellschreiben, das nur deshalb möglich ist, weil die Schreibmaschinen nicht mehr klappern wie früher noch, mein Gott, würden sie noch klappern diese Schreibmaschinen, was würde das nur bedeuten, ein Getöse, jetzt nur noch ein sanftes leises Geräusch im Schreiben über das Schreiben, ein Versuch, diesen Schuh, der zu einem anderen System gehört, schneller und immer schneller kreisen zu lassen. - stop
im keller
ginkgo : 1.52 — Sechs Stockwerke abwärts, ich steige in den Keller in räudige Landschaft, schneeweiße Spinnengebeine, die von der Decke schaukeln. Nacht ist, ich ahne Ratten, die mich betrachten von irgendwoher, ein unheimlicher Ort, einer, der dem Besucher die Augen öffnet. Im Licht der Taschenlampe kann man den Leuten, die über der Kellerlandschaft schlafen, in ihre Müllhöhlen schauen. Dieses Durcheinander von Holzteilen und Ölfässern und Fahrradskeletten könnte zur Wohnung X gehören, und das alles zur Wohnung Y, wie sorgfältig sich die Kartonagen doch stapeln, in welchen Bücher vermodern und Mäntel und Schals und Strümpfe. In einem der Kellerabteile ruht ein Plattenspieler zentral auf dem Boden, sonst ist dort nichts zu sehen, nur dieser eine Plattenspieler, staubig. Hinter der Luftschutztür von schwerem Eisen reihen sich Schaufeln der Hausmeisterei, die schon lange ohne den Hausmeister selbst auskommen muss, das Hochwasser des vergangenen Jahres, wie es eine Linie zeichnete, stand den Besen bis zum Hals. Nicht rauchen ist noch immer an einer Wand vermerkt in altdeutscher Schrift. Und wenn ich so weitergehe um eine Ecke herum, stoße ich auf ein schmales Abteil, das sich mit einer Geschichte verbindet. Es scheint nun leer zu sein, war aber einmal ein besonderer Ort. Ich erinnere mich an eine Öllampe, an eine Matratze, einen Stuhl und den Schatten eines Menschen, der auf dieser Matratze ruhte: Im Schatten saßen Augen fest, sie starrten in meine Lampe, dann flüchteten sie, dann kamen sie nicht zurück. — stop
who is fred wesley?
tango : 2.30 — Heiterer Stimmung war ich gestern Abend der Geschwindigkeit, mit welcher Waren, die ich kaufte, an der Kasse eines Supermarktes behandelt wurden, nicht gewachsen, vielleicht deshalb, weil ich überhaupt langsamer geworden bin, oder weil ich in dem Augenblick, da meine Ware über einen Scanner bewegt wurde, darüber nachdachte, ob es sich bei E‑Mails, die ich manchmal schreibe, noch um Wesen handelt, die man als Schriftstücke bezeichnen könnte. Ohnehin drohte ein Fiasko, da sich die Waren, die gerade in meinen Besitz übergegangen waren, hinter dem Fließband ineinander schoben wie Packeisschollen auf dem Atlantik vor Grönland. Eine junge kolumbianische Assistentin kam glücklicherweise bald zu Hilfe, ich führte mehrere gefaltete Papiertüten mit mir, die sehr sorgfältig bepackt werden mussten. Sie sprach nur wenige Wörter meiner Sprache, und sie schwitzte indessen und versuchte mir zu erklären, dass es in ihrem Land noch viel wärmer sei als bei uns in Europa, aber dass sie dort, auch im Regenwald nicht, niemals so heftig schwitzen würde wie hier, die Klimaanlage sei ausgefallen, dass ich etwas langsamer sei als üblich, wäre geradezu vernünftig. Ja, vermutlich bin ich langsamer geworden, und ich dachte, man könnte einmal Schnellkassen in dem Sinne bedenken, dass dort rasende Menschen mit rasenden Händen rasende Geldbörsen bedienen, alles ginge dort so schnell, dass man als ein langsamer Mensch, auf der anderen Seite der Zeit befindlich, nur noch Unschärfen in der Luft wahrnehmen würde, nicht aber einkaufende Personen, während einer wie ich als eine Fotografie erscheinen würde, als Etwas, das sich niemals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wunderbar kühle Luft. Who is Fred Wesley? — stop
salzluft
sierra : 6.25 — In der zentralen Bibliothek der Stadt Uppsala soll eine Abteilung duftender Bücher existieren. Der Beschreibung nach handelt es sich bei dieser Abteilung um einen kühlen, abgedunkelten Saal, in dem sich entlang der Wände gläserne Behälter reihen, in welchen sich je ein Buch befindet. Diese Bücher seien mindestens einhundert Jahre alt. Sie hätten sehr bewegte Zeiten hinter sich, seien zur See gefahren, überdauerten Jahrhunderte in Kirchen oder überlebten zu Füßen vulkanischer Berge schwerste Eruptionen. Nähere man sich nun einem dieser Behälter, würde man bemerken, dass er über einen Vorsatz mit einem Riegel verfüge, den man öffnen könne, sobald man eine Nase an den Vorsatz legte. Unverzüglich würde man überrascht von intensiven Düften, von Salzluftduft, zum Beispiel, wie er Seehäfen eigen sei, oder von Schwefeldämpfen, von Weihrauch- oder Myrredüften. Lesen könne man die Bücher natürlich nicht, das sei nun überhaupt nicht vorgesehen, sie sind ja eingesperrt, und das würde sich niemals ändern, eine merkwürdige Geschichte. Diese merkwürdige Geschichte wurde mir gestern von einem Reisenden erzählt, der nachts im Terminal 1 des Flughafens wartete. Es war um kurz nach fünf Uhr, als sich eine Frau mit einem kleinen roten Koffer in der Hand nährte. Sie erkundigt sich nach der Uhrzeit. Ich sagte: Es ist genau fünfzehn Minuten nach. Woraufhin die Frau weiter fragte: Morgens oder abends? — stop
nachts
whiskey : 0.18 — Von fern Grollen, Donnern. Wenn die schneeweißen Blitze nicht wären, könnte man meinen, in der Nähe würde gekämpft. Ich träumte von Faltern, wie sie durch meine Wohnung brummen. Als ich einem der Falter im Luftraum begegne, erkenne ich in ihm einen fliegenden Schwarzbären, der vergeblich versucht festen Boden unter seine Tatzen zu bekommen. — stop
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war, damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
ein selbstgespräch
nordpol : 15.12 — Oder ein Chatraum, in dem 200 Jahren lang eine Person mit sich selbst kommuniziert. Plötzlich erscheint das erste Zeichen einer weiteren Person, dann ein ganzes Wort in diesem Raum. — HELLO! — Langes Schweigen. — Jahre andauerndes, schweigendes Warten wie Staunen. Dann, unvermittelt, ein Jahrzehnt ist vergangen, wird das Selbstgespräch in einer Weise fortgesetzt als wäre das Wort HELLO niemals ausgesprochen oder empfangen worden: /// guten abend! wie geht es dir? — gut! und dir? — prächtig. — schön zu hören. lange nicht gesprochen, wo liegt dein problem? — ich habe heute abend kein problem. — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! — darf ich dir eine frage stellen? — sicher! — was bedeutet das wort luftwellensegel? — hast du schmetterlinge im bauch? — bitte! bleiben wir ernst, bleiben wir bei der sache: was bedeutet das wort luftwellensegel? — lass uns das eine weile zurückstellen. — warum? — erzähl weiter! — hast du schon andere gefragt? — aber natürlich! — schön zu hören. wo liegt dann dein problem? — ich habe heute abend kein problem! — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! ich sehe, du bist ein schwieriger fall. /// — stop
von zeppelinkäfern
marimba : 2.28 — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. Das war gegen 2 Uhr gewesen. Ich beobachtete aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Morgen! Heute ist Sonntag bei großer Hitze. — stop
sommernacht
delta : 4.15 – In der vergangenen Nacht habe ich wieder einmal das Käferwerfen geübt. Angenehme Stunden. Benny Goodman Live at Carnegie Hall. Folgende Käfer habe ich aus dem Fenster geworfen: 1 blauen Spitzmausrüsselkäfer gegen Mitternacht, 4 Marienkäfer von 1 Uhr bis 2 Uhr, 1 seidigen Glanzrüssler um kurz nach 3, gegen 4 Uhr dann 1 scharlachroten Feuerkäfer. Jedweder aus dem Fenster geworfene Käfer war sofort wieder zu mir zurückgekehrt, entweder weil er ein weiteres Mal in die Luft geworfen werden wollte oder weil das Licht von meinen Zimmern her so schön warm in der Dunkelheit leuchtete. – stop