echo : 2.28 — Ich hörte, meine Augen, sobald ich sie öffne, seien rund. Und ich dachte mir, so lange Zeit schon hast Du aus runden Augen in die Welt hinausgeschaut, ohne das Runde Deiner Augen zu bemerken. Ich lag auf einer Wiese im Park und weil ich so schön glücklich war, schlief ich ein. Da drüben war die Luft voll kleiner Fliegen, die golden leuchteten und seltsame Geräusche machten, bing bing. Das hörte sich an, als würden sie mit Zungen schnalzen, aber dann wurden sie zu singenden Fischen und ich holte meine Augen aus dem Kopf und die Fische spielten mit ihnen herum, und ich sah, meine Augen waren tatsächlich runde Geschöpfe. — Noch zu tun: Herzkammern studieren. — stop
Aus der Wörtersammlung: luft
absent
romeo : 3.15 — Kühle Luft, leichter Regen, herbstliche Stimmung. Wie immer, wenn ich zerstreut bin, in einem Abenteuerbuch gelesen. Folgende Stelle in H.G. Wells’ Roman Die Insel des Dr. Moreau: Mein Onkel verschwand auf etwa 5° südlicher Breite und 105° westlicher Länge aus den Augen der Menschen, und er erschien nach elf Monaten in derselben Gegend des Ozeans wieder. Während der Zwischenzeit muss er auf irgendeine Weise gelebt haben. In dem Moment, als ich diese Zeilen passierte, wie aus heiterem Himmel ein merkwürdiges Gefühl der Unwirklichkeit, als ob ich diese Nacht, das Buch, den Stuhl, auf dem ich saß, nur träumte, auch mich selbst träumte, wie ich las, die Bilder Menschen jagender Motorradfahrer und die Nachricht im Kopf, ein Rat mächtiger, religiöser Wächter habe gestern noch, am Ende einer anderen Nacht, bestätigt, im Iran seien drei Millionen Stimmzettel nicht existierender Wähler zu verzeichnen. — Wohin ist diese Nachricht geflohen? — Wann wird sie wieder zu uns kommen? — Wo hält sie sich auf in den Zeiten der Abwesenheit? — Wie viele Menschen sind in den vergangenen Stunden kühlen Regens spurlos aus ihren Häusern oder aus Hospitälern der Stadt Teheran verschwunden? — stop
hologramm
echo : 12.01 — Immer wieder eine Erscheinung auf Position 50°6’N 8°38’W, ein Wesen, eine Frau, die einem Inferno entkommen oder eine Erfindung sein könnte. Graues, staubiges, öliges Haar. Ihr von Leid gezeichnetes Gesicht. Ihre von Schmutz starrenden und doch feingliedrigen Hände. Plastiktüten, die sie in gebückter Haltung geräuschvoll durch die Abteile der Abendzüge zerrt. Ihr Blick, der berührt, der mich wahrzunehmen scheint, unendlich traurig, unendlich müde. Sie bettelt nicht. Sie isst nicht. Sie trinkt nicht. Sie fährt nur Zug oder sitzt irgendwo in den Wartehallen des Flughafens herum und verbindet ihre entzündeten Füße. Nie habe ich ihre Stimme gehört, nie sie schlafend oder betrunken vorgefunden, auch nachts um drei Uhr nicht vor den Schaltern der Lufthansa. Sie wird geduldet. Sie könnte eine Mutter sein. Wen erwartet sie? Wohin will sie fliegen? Was ist geschehen? — stop
murmansk
romeo : 0.15 — Ich war im Zug gestern Abend in Murmansk gewesen. Am Hafen saß ich, und das Eis auf dem sich sanft bewegendem Meer schindelte zu meinen Füßen. Ein rostiges U‑Boot war da noch und junge Matrosen, sie spielten mit Äpfeln und winkten. Indem ich so wartete und die Geräusche des Eises und die Stimmen der Seeleute bewunderte, flatterten Kolibris um meinen Kopf herum. Sie trugen winzige Pelzmützen und Pelzjacken und ihre Flügel brummten in der glasklaren Luft nordischer Mittagsstunde. Dann wachte ich auf, fuhr in einer Straßenbahn spazieren, öffnete meinen Koffer und schon ist Mitternacht geworden. Ob ich vielleicht noch immer schlafe, noch immer träume? — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 224, Luftfahrt — 2198, Automobile — 23855], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 3, 19. Jahrhundert – 178, 20. Jahrhundert – 1215 , 21. Jahrhundert — 76 ], physical memories [ bespielt — 218, gelöscht : 7 ], Lichtfangmaschinen [ H3DII-50 Hasselblad : 1 ], Öle [ 4.8 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 88, Kniegelenke – 2, Hüftkugeln – 65, Brillen – 1866 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 1227, Größen 38 — 45 : 567 ], Kühlschränke [ 210 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 7, mit Taucher – 28 ], Engelszungen [ 22 ] — stop
elephantisland
~ : rob salter
to : louis
subject : ELEPHANTISLAND
date : june 2 09 8.58 p.m.
Kurz nach acht Uhr. Kalte, trockene Luft, ich notiere mit klammen Händen. Um 7 Uhr heute Morgen haben wir bei stürmischer See Elephantisland erreicht. Suche nach Miller unverzüglich aufgenommen. Südwestliche Bewegung die Küste entlang. Gegen 9 Uhr erste größere Seeelefantengruppen gesichtet. Heftiger Schneefall. Mittags dann auf menschliche Spuren gestoßen. Eine Mulde von zwei Fuß Tiefe im groben Untergrund, hüfthoher Steinwall nordwärts. Im Windschatten: drei gebleichte Walknochen, ein halbes Duzend fingerdicker Hautstücke, ein Kamm, zwei rostige Kugelschreiber, eine Blechtasse, zwölf Pinguinschnäbel, fünf Batterien, drei Klumpen ranzigen Fettes, Bruchstücke eines Sonnenkollektors und einer Schreibmaschine. Das Werkzeug war in einer Weise sorgfältig demoliert, als sei eine Dampfwalze darüber hin und her gefahren. Dann weitere zehn Minuten die Küste entlang, dann auf Miller gestoßen. Der Dichter stand mit dem Rücken zu einem Felsen hin und richtete ein Messer gegen einen Seeelefanten. Das Tier, das sehr gewaltig vor unserem Mann in den Himmel ragte, war nur noch zwei Armeslängen entfernt und scheuerte mit dem Rücken über den Felsen. Eigenartige Geräusche. Geräusche wohl der Lust. Geräusche, als habe das Tier eine verbeulte Trompete verschluckt. Geräusche auch von Miller. Helle Geräusche, kreischende, irre Töne. Wir haben zu diesem Zeitpunkt das Folgende über Miller zu sagen: Unser Mann ist entkräftet und stark verschmutzt. Zwei Finger der linken Hand sind erfroren. Kopfwärts wandernde Spuren von Dehydration. Miller spricht nur einen Satz: All for nothing. Wir haben den Rückweg angetreten, indessen, bei genauerer Betrachtung unserer Umgebung, auf Felsformationen entlang der Küste Fragmente von Zeichenketten entdeckt. Eindeutig Millers Handschrift. Bringen Dichter Miller jetzt nach Hause.
eingefangen
22.57 UTC
1817 Zeichen
hilde domin
romeo : 22.02 — Atemlos eine Kameraluftreise der jungen Filmemacherin Anna Ditges beobachtet. Zwei Jahre lang filmte sie ihre Begegnungen mit Hilde Domin. Als ich meine Fernsehmaschine ausschaltete, war ich voll Glück und Freude, und ich dachte, dass ich mich vermutlich verliebt habe, in den Film, in die junge Filmemacherin, oder nein, ich glaube, ich habe mich in Hilde Domin verliebt. Und wie ich diese Zeilen gerade schreibe, denke ich, dass Hilde Domin, sollte sie mir über die Schulter sehen, vielleicht sagen würde: Aber das geht doch nicht, das ist unhöflich, so nah heranzukommen. – Ich saß im Park am Nachmittag, folgte einer Spinne, die auf Buchseiten turnte und las in Hilde Domins Gedichten: Wer es könnte / die Welt / hochwerfen / dass der Wind / hindurchfährt. Ihre von der Zeit gezeichnete Hand, die im Film genau diese Zeilen mit einem Bleistift auf ein Blatt notierte. Wie sie sagt zur jungen Frau hinter der Kamera: Wir sehen uns gerne an, weil wir uns mögen. — stop
siatista
ulysses : 15.02 — Nördliches Griechenland. Karge Landschaft. Man erzählte mir von Siatista, dort sollen Wölfe leben in den Bergen, aus welchen die Steine der Häuser der kleinen Stadt geschlagen sind. Im Winter fällt Schnee und bleibt liegen. Dann kommen die Wölfe näher heran, sind zu hören in den Nächten, ihr heulendes Gespräch. Alt sind sie, uralt wie die Menschen in dieser Gegend, die sich widersetzen, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist, leben sie einfach weiter. Sobald ein Winter endet und die Berge blühen für eine kurze Zeit in allen Farben, die man sich nur vorstellen kann, liegt eine junge Frau auf einer Wiese herum. Diese Wiese ist weiß von den Körben der Kamille, eine Wiese, die die Gestalt der jungen Frau erinnert, wie sie auf dem Rücken liegt, immer an derselben Stelle in den Himmel schaut und glaubt über ein Eismeer zu fliegen. Wenn man sie besuchen, wenn man sich neben sie legen würde, könnte man Geschichten hören, die sie mit tiefer Stimme sogleich erzählen wird. Dass sie blau war zum Beispiel, ein blau häutiges Kind, dass sie nicht atmen konnte in der ersten Stunde ihres Lebens, dass man sie mit Luft, anstatt mit Wasser taufte, weil man glaubte, sie werde ihre zweite Lebensstunde nicht betreten. Dass sie sich im Alter von vier Jahren im Schnee verirrte, dass zwei Wölfinnen sie wärmten für eine Nacht, bis man sie fand. Dass sie eine Partisanentochter sei, dass sie mit den Schildkröten sprechen könne und den Schlangen, den Faltern, den Fliegen. Dann wird sie ein wenig schweigen und eine Handvoll Akazienblüten reichen, sie schmeckten vorzüglich, man müsse sie sich auf die Zunge legen und warten, bis sie schmelzen. Jetzt liegt die junge Frau wieder auf dem Rücken zum Eismeer hin, erzählt weiter, erzählt von den langen Wegen im Winter zur Schule und dass sie ein Jahr zurück das erste Mal das Meer gesehen habe. Ein großer Frieden. Ihre Stimme, die so seltsam tief ist. Das Brummen dreihundert Jahre alter Insekten. Auch Wölfe fressen weiße Blüten. — stop
copernic
echo : 8.27 — Ich stelle mir vor, an diesem wunderschönen Morgen unterm Regenlicht, einmal die Spuren eines Menschen zu erfinden, von dem nichts geblieben ist, als der Schatten seiner Fragen an die Meta-Suchmaschine COPERNIC auf einem Notebook, das ihn von Geburt an begleitete. Können Krokodile hören? Eine Spur feinster Bohrungen der Luft. – Während ich diese Zeilen notierte, ist mir aufgefallen, dass bis vor Kurzem noch Menschen existierten, die in der Elektrosphäre nie eine Spur zeichneten. Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelduft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnen seidiges Haarnetz (Warum?), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, das Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, – Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. So alt ist sie jetzt geworden, die Wally, dass sie aufgehört hat zu leben.
feuerkäfer
himalaya : 15.01 — Mit Freude an der Entdeckung, an der Erfindung leuchtender Wörter : Piniensynapse Bobolino Lamelleniris Timbuktu Posaune Patagonien metropolitan Kirschwasser Kolonialwarenladen Unterwasserpanther Kamel Karawane Zündholz Lumumba Gottesanbeterin Kakteenorchester Flaneur Neufundland Penelope Stamperia Ohrfeige Schirokko Himmelsleiter Hibiskus Sandsturm Ohrenkuss Papierlicht Nashornvogel Pingpong luxieren Salamander Depesche Engelszunge Pyramidenbahn Glühbirne Sumatra Madras Semaphoring Centralstation Feuerkäfer Labyrinth Nachthaus Ölträne Schneespinne Holololunder : silenzio. — Sonntag. Leichter Regen. Wie verdammt gut die Luft heut riecht. — stop