kilimandscharo : 20.52 UTC — Ob vielleicht Mondbriefe existieren, Briefe, gestempelt, beschriftet, mit einer Briefmarke versehen, die bereits tatsächlich einmal zum Mond hin und vom Mond her wieder zurückgeflogen sind? — stop
Aus der Wörtersammlung: mark
zylinder
india : 12.01 UTC — Vor einigen Wochen besuchte ich B., der noch immer in einer sehr kleinen Wohnung über einem Jazzcafé wohnt, weswegen sein hölzerner Fussboden manchmal bebt, so dass auch seine Gäste beben und der Kaffee in den Tassen, und im Sommer fliegen die kleinen Sommerfliegen los, weil das Beben dermaßen schrecklich für ihre Beinchen ist, dass sie lieber stundenlang herumfliegen als wären sie Vögel ohne Füße. B. wohnt also in dieser kleinen Wohnung und ist noch immer traurig. Ich kenne ihn seit 15 Jahren, niemals habe ich ihn glücklich wahrgenommen, nicht eine Sekunde lang, oder in einem Zustand, den man als weder glücklich noch unglücklich bezeichnen könnte. B. ist unglücklich, weil er das so will, er hat sich in seiner Traurigkeit eingerichtet, wie in einem unsichtbaren Zelt, in dem er lebt, das er mit sich auf jede Reise nimmt, er reist ja nicht viel, aber er ist ein guter Gastgeber, sehr feinfühlig, ein geduldiger Zuhörer, der niemals lacht. Er schreibt im Übrigen an einem Buch, das rund ist, ich meine, er schreibt an einem Winterbuch von der Gestalt eines Zylinders. Man kann in dem Buch blättern, aber man weiss nicht, wo das Buch anfängt, weil in B.s Buch kein Anfang existiert, man liest, und wenn man lange genug liest, wird man plötzlich meinen, sich zu erinnern, oder man hat eine Markierung in das Buch notiert, was eigentlich nicht gestattet ist. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. — stop
von fliegerbomben
alpha : 1.15 UTC — Gestern Abend sagte ich zu Jakob: Lieber Jakob, es ist kurz vor Mitternacht. Ich habe Dich zwei Monate, drei Tage und acht Stunden lang belichtet, in diesem Moment bist Du fertig geworden. Ich spazierte in der Küche auf und ab, ging für eine halbe Stunde auf der Straße spazieren, als ich zurückkam, sass Jakob noch immer still vor dem Tisch und betrachtete seine Hände. Er schien unglücklich zu sein, er war vielleicht unsicher, wusste nicht zu sagen, was das bedeutet, belichtet oder fertig geworden zu sein. Ich fragte: Sag, mein lieber Jakob, was ist los, wie geht es Dir? Lieber Louis, antwortete Jakob, ich kann nicht sagen, wie ich mich fühle, weil ich nicht weiss, wie es weitergehen wird mit mir. Werde ich von Dir vergessen werden, oder wirst Du mich in eine Geschichte übertragen, in der ich mich wohlfühlen kann? Lange Zeit beobachtete ich den feingliedrigen, zeitlos wirkenden Mann, wie er scheu zu mir aufsah, wie er versuchte, in meinen Augen zu lesen. Ich sagte: Lieber Jakob, Ich werde Dich niemals vergessen! Ich werde eine Geschichte schreiben, die nur für Dich gemacht sein wird, für einen Mann von außerordentlichem Fingerspitzengefühl. Ich werde für Dich sorgen, lieber Jakob, in Deiner Freizeit wirst Du Briefmarken sammeln, versprochen, ich werde für Dich eine zarte Geschichte schreiben. — stop
von makis
echo : 3.08 UTC — Gestern Abend habe ich versucht, meine Gedanken zu beobachten. Eigentlich wollte ich eine Liste meiner abendlichen Gedanken verfertigen, Gedanken in der Straßenbahn, Gedanken vor einer Supermarktkasse wartend, Gedanken in der Beobachtung eines Fernsehbildschirmes. Ich war sehr müde gewesen, hatte lang gearbeitet, war, sagen wir, langsam mit dem Kopf, deshalb nicht ausreichend schnell, um sagen zu können, das war nun ein Gedanke, der gerade eben abgeschlossen wurde, nun beginnt gerade eine weiterer Gedanke, dieser Gedanke No 18 ( Herzlich Willkommen! ) beschäftigt sich mit der zentralen Frage wovon Koboldmakis sich eigentlich ernähren? Ich habe bemerkt, dass es möglich zu sein scheint, einen Gedanken festzuhalten, um den Gedanken zu vergrößern, ihn also schwerer ( Gravitation ) zu machen, sagen wir, den Gedanken mit Zeiträumen rückwärts ( erinnernd ) oder vorwärts ( spekulierend ) zu versehen. Je länger ich an einem Gedankenknoten festhalte, desto schläfriger werde ich. Ein Gedanke kann sich in ein Bild verwandeln. Wenn ich in Gedanken die Augen eines Koboldmakis zur Aufführung bringe, schlafe ich ein. — stop
am hugli
alpha : 5.25 — Hörte mich gestern noch sagen, ich würde im Auftrag einer Geschichte im kommenden Jahr nach Kalkutta reisen. Tatsächlich scheinen Geschichten, sobald sie sich verwirklichen, Persönlichkeiten zu werden, die Weisungen erteilen. Noch in derselben Nacht träumte ich von einer indischen Briefmarke, auf welcher Kiemenmenschen, eine Dame und ein Herr, in Wasser schweben. — stop
namen
delta : 1.05 — Vor einigen Wochen hatte ich einen Luftpostbrief an Mr. Sini Shapiro nach Manhattan geschickt. Ich notierte ihm von einem weiteren Schreiben, das ich an ihn persönlich vor einiger Zeit nach Kalkutta ( Indien ) sendete. Der Brief war zurückgekommen, er trug Hinweise auf seiner Anschriftenseite, die von mehrfachen vergeblichen Zustellversuchen zeugen, ein Kunstwerk, würde ich sagen, ein Dokument sorgfältiger Arbeit. Heute antwortete Mr. Shapiro. Er schrieb in einer E‑Mailnachricht, er habe sich gefreut, weil ich seinen Namen verwendete, um eine Briefsonde nach Kalkutta zu schicken. Ausserdem freue er sich über meine Frage hinsichtlich bevorzugter Lektüren. Er übermittelte eine Namensliste jener Persönlichkeiten, deren Bücher Mr. Shapiro bald einmal lesen, deren Leben er bevorzugt studieren würde. — Es ist merkwürdig, ich habe nicht damit gerechnet, dass Mr. Sini Shapiro über ein E‑Mailadresse verfügen könnte. Es ist nun doch wahrscheinlich, dass Mr. Shapiro ausserdem über eine Computerschreibmaschine verfügen wird, die der digitalen Sphäre verbunden ist. — stop
papiere
marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um einen weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zur Zeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop
beobachtung
ulysses : 6.12 — Während ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book las, bemerkte ich, dass ein Computer irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist der 16. Oktober, leichter Regen. — stop
60.432875 : 22.158961
nordpol : 6.08 — Eine tragische Geschichte soll sich in einer kleinen, finnischen Stadt nahe Turku ereignet haben. Ich konnte mir den Namen der Stadt nicht merken, aber die Geschichte sehr wohl, die mir ein Freund erzählte, während wir gerade auf ein Flugzeug warteten. Dort oben im Norden soll der Geschichte zur Folge, eine Frau mittleren Alters nach Jahren des Schreibens bemerkt haben, dass sie wiederholt bestohlen wurde, dass man geduldig darauf wartete, dass sie etwas aufschreiben und im Internet veröffentlichen würde, dann wollte man nämlich sofort interessante und auch weniger interessante Abteilungen ihrer neu hinzugefügten Geschichte und ihre Gedanken markieren mittels eines Mauszeigers, um die in dieser markierten Abteilung befindlichen Wörter zu kopieren, sie durch Speicher eines oder mehrerer Computer zu transportieren, bis eben jene Zeichen, die gestohlene Zeichen waren, an einer weiteren Stelle im Internet unter Texten, die nicht gestohlen worden waren, zum Stillstand kommen würden. Den Zeichen selbst war niemals anzusehen, dass sie eigentlich nicht dort hingehörten, dass sie fremde Zeichen waren. Als nun die bestohlene Frau zufälligerweise bemerkte, dass sie beraubt und immer weiter beraubt worden war, wollte sie sich wehren. Sie bemühte sich um Unterstützung, sie bat ihre besten und auch weniger gute Freunde zu lesen, was sie notiert hatte, Textstellen zu vergleichen und Anklage zu erheben. Einige Tage später bereits machte sich die Frau auf den Weg in die Wälder, irgendjemand behauptete, sie sei nicht gewandert, sondern geflohen. Nun, vorgestern, soll sie gefunden worden sein. Man berichtet, dass sie schweigend auf einem recht hohen Baum sitzen würde. Sie lese in Büchern, die sie mit Schnüren an Ästen des Baumes befestigt habe. Sie wolle partout nicht heruntersteigen. Es werde doch bald Winter werden. — stop
afrika
nordpol : 2.28 — Zentralafrikanische Landschaft. Savanne. Affenbrotbäume. Das Ufer eines Flusses oder Sees. Wolken, schneeweiß, getürmt. Entlang der Uferlinie fliegen Flamingos, ein Schwarm, 200 oder 300 Tiere. Sie sind vermutlich gerade erst gestartet. Wenn ich mich mit einer Lupe der Landschaft, die auf eine Briefmarke gepresst wurde, nähere, vermag ich die Füße einzelner Vögel gut zu erkennen, eine hochauflösende Druckarbeit, möglicherweise könnte man unter einem Mikroskop Federn entdecken, das Licht, das sich in den Augen der Fliegenden bricht, Moskitos, die über dem Wasser schweben, Libellen und wiederum die Füße der Libellen. Ein seltenes Exemplar einer Panoramamarke von 2.8 cm Höhe und 1 Meter und 50 cm Breite. Man könnte diese Briefmarke für Briefe verwenden, die über entsprechende Breite verfügen, sagen wir, für sehr lange Langbriefe, oder aber man verwendet dieses wundervolle Postwertzeichen auf Kurzbriefen üblicher Breite, dann muss man die Briefmarke falten. Genauso ist das vorgesehen, natürliche Falten sind der Briefmarke beigebracht, eigentlich liegt die Briefmarke, sofern man sie erwerben möchte, in gefaltetem Zustand vor, ein Bändchen von Haaresbreite hält sie in der Gestalt einer Ziehharmonika zusammen. Auch jetzt sind Flamingos gut zu erkennen. Es handelt ich um eine wirklich sehr schöne Marke. — stop