echo : 2.55 — Ich will heute nichts tun, als mich von dem Film Johnny got his gun erholen. Sitze im Licht der Computermaschine und verzeichne mit einem Bleistift Wege, die meine Springspinne über den Schreibtisch spaziert, auf ein Blatt Papier. stop. Seltsame Figuren. stop. stop. Anatomisch betrachtet, zeigt sich die Wegstrecke des olympischen Feuers als offen liegende Nervenbahn einer Diktatur. — Zwei Uhr eins. Nacht in Rangen, Burma. — stop
Aus der Wörtersammlung: maschine
flut
india : 2.11 — Hochwasser. Meine Wohnung ist mit dem Boot erreichbar. In den Kronen der Kastanien, gleich jenseits der Fenster, haben sich Körper toter Menschen verfangen. Gesichter, die ich kenne. Entstellt. Dunkle Haut. An den Zimmerwänden tausende Fliegen. Sobald ich mich bewege, ein Brausen der Luft. Schüsse. Zwei Kerzen noch im Schrank, drei Liter Wasser, fünf Pfund Makkaroni, eine Packung schwedisches Knäckebrot, Salz, Pfeffer, Thymian, Rosmarin, Muskatnuss. Das Wasser, warm und schwarz. Ein Kontrabass, dann ein Krokodil treiben vorüber. Die Luft, dumpf und scharf in derselben Sekunde. stop Keine Fotografie ist vorstellbar, die einen lebenden Menschen zeigt, in der nicht auch Bewegung enthalten wäre. Dagegen jene Aufnahmen von Menschen, die zur Kamerazeit bereits leblos waren. Ich begegnete einer dieser Fotografien ohne Bewegung vor wenigen Jahren im World Wide Web. Sie zeigt den Leichnam Marilyn Monroes wenige Stunden nachdem ihr Körper aufgefunden worden war. Ich habe mich an diese Aufnahme immer wieder erinnert, an das feuchte Haar der jungen toten Frau, an die Spuren der Nachzeit, die sich bereits in ihrem Gesicht abzeichneten, und auch daran, dass ich heftig erschrocken war, in die Küche stürmte und zwei Gläser Wasser trank. Als ich nun vor einiger Zeit den Namen Marilyn Monroes in die Bildsuchabteilung der Googlemaschine tippte, erschien genau dieses Bild an erster Stelle. — stop
hu jia
6.08 — Ich besitze eine kleine Fernsehmaschine. Sie steht auf einem Brett, unter dem sich Rollen befinden, sodass sich das empfangene Lichtbild im Raum herumfahren lässt. Gestern Abend, ich saß auf dem Sofa und schaute in das Licht dieser kleinen Fernsehmaschine, kam eine junge Frau ins Bild, das heißt, genauer, die Kameramaschinen, die das Licht für meine Fernsehmaschine einzufangen, beauftragt waren, hatten sich weit weg in China auf die Gestalt dieser jungen Frau ausgerichtet und für einen kurzen Zeitraum ihres Lebens hielten sie an ihr fest, an ihrem jungen Gesicht, das voller Trauer gewesen war. — Was habe ich gesehen, was habe ich gehört? — Da war eine junge Frau, eine sehr blasse junge Frau, die in der chinesischen Sprache sprechend davon erzählte, dass ihr Mann, Hu Jia, soeben von einem Volksgericht zu 3 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt worden war, weil er sein Menschenrecht auf freie Rede ausübend gesagt und geschrieben hatte, die Olympischen Spiele des Jahres 2008 seien für die Menschenrechte in seinem Heimatland eine Katastrophe. Die junge Frau hielt ein Kind in ihren Armen, einen Säugling. Während sie sprach, bewegten sich ihre Hände in einer seltsamen Art und Weise vor Mund und Nase, Gesten von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung, Gesten, die ihr Gesicht vielleicht vor den Lichtmaschinen schützen sollten. Ich habe gesehen, dass ihre Hände bebten. Dann war sie wieder weg und auch ihr Kind. – Fünfzehn Uhr sieben in Lhasa, Tibet. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 1222, Luftfahrt — 3798, Automobile — 55635], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 2, 19. Jahrhundert – 164, 20. Jahrhundert – 1318 , 21. Jahrhundert — 428 ], physical memories [ bespielt — 387, gelöscht : 5 ], Lichtfangmaschinen [ PFXLW-II Panaflex : 2 ], Öle [ 0.7 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 28, Kniegelenke – 12, Hüftkugeln – 331, Brillen – 1266 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 1356, Größen 38 — 45 : 1218 ], Kühlschränke [ 158 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 5, mit Taucher – 34 ], Engelszungen [ 221 ] | stop |
sames salter
~ : louis
to : Mr. james salter
subject : MARIT
Lieber James Salter, als ich heute Nacht am Schreibtisch saß und in Ihren wunderbaren Erzählungen las, habe ich eine kleine Spinne bemerkt, die mich beobachtete, jawohl, sie saß auf dem Feinsten der Blatthaare eines Elefantenfußbaumes, der neben meiner Computermaschine steht, und beobachtete mich aus mehreren winzigen schwarzen Augen. Ich habe überlegt, was dieses Wesen wohl in mir sieht. Für einen weiteren kurzen Moment habe ich darüber nachgedacht, ob Spinnen vielleicht hören, — ich lese oft laut vor mich hin, das sollten sie wissen -, und so wunderte ich mich, dass ich viele Jahre gelebt habe, ohne der Frage nachzugehen, ob Spinnen über Ohrenpaare oder doch wenigstens über einen zentralen Gehörgang, wo auch immer, verfügen. Ich saß also am Schreibtisch, ich las und die kleine getigerte Spinne, von der ich Ihnen erzähle, seilte sich zur Tastatur meiner Computermaschine ab. Ich hatte den Eindruck, dass ihr diese Luftnummer Freude machte, weil sie ihre Landung immer wieder hinauszögerte, indem sie den Faden, der aus ihr selbst herausgekommen war, verspeiste, demzufolge verkürzte. Vielleicht hatte sie bemerkt, dass ich sie betrachtete, das ist denkbar, weil ich aufgehört hatte, laut zu lesen für einen Moment, um nachzudenken, vielleicht wollte sie, um sich mir darzustellen, auf meiner Augenhöhe bleiben. Das war genau in dem Moment als Marit nach ihrer letzten Nacht auf unsicheren Beinen die Treppe heruntergekommen war, Marit, die doch eigentlich seit Stunden schon tot gewesen sein musste. Marit setzte sich auf eine Treppe und begann zu weinen. Sicher werden Sie sich erinnern an Marit, wie sie auf der Treppe sitzt und weint, weil sie wusste, dass sie eine weitere letzte Nacht vor sich haben würde. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pause gemacht, weil ich erschüttert war, weil das Gift nicht gewirkt hatte. Ich saß vor meinem Schreibtisch und überlegte, ob auch sie, James Salter, erschüttert waren, als Marit so langsam, auf unsicheren Beinen die Treppe herunterkam. Und während ich an Sie und Ihre Schreibmaschine dachte, beobachtete ich die Spinne, die mit ihren sehr kleinen Beinen, den Faden, an dem sie hing, betastete. Ist das nicht ein Wunder, eine Spinne wie diese Spinne? Haben Sie schon einmal bemerkt, dass es nicht möglich ist mit einer elektrischen Schreibmaschine zwei Buchstaben zur gleichen Zeit, also übereinander, auf das Papier oder den Bildschirm zu schreiben? Immer ist einer vor, niemals unter dem anderen. Mit herzlichen Grüßen. Louis.
15.53 — Seit Wochen der Versuch, mit der Suchmaschine Google zu sprechen. Spiele, verhandle oder kämpfe ich? Was ist ein Metatag? Eine Anweisung oder eine Bitte? — Die Vorstellung der Milliarden mikroskopisch kleiner Riesenräder, die sich langsam durch meine Blutgefäße drehen. — Gene Krupa : Drummer Man.
particlesmaschine
5.48 — Die Beobachtung, dass ich in der Particlesmaschine vergeblich mit der Mouse einzufangen versuchte, was ich kurz zuvor noch durch einen Code in Bewegung gesetzt hatte. Sofort ein Gefühl von Heiterkeit. Ich könnte vielleicht sagen, dass diese Beobachtung des Scheiterns an Objekten, die ich selbst geschaffen habe, grundsätzlich zu tun haben könnte mit der suchenden Bewegung schreibender Menschen. Da schwebt zum Beispiel Kentaur Billy vor Neufundland 70 Meter tief unter dem Meeresspiegel. Eine Erfindung. Eine Erfindung, die zunächst eine Entdeckung gewesen ist, die Wahrnehmung einer uralten, einer neurologisch fest geschalteten Form, die unverzüglich, blitzartig, weiter gefaltet wurde, ein Modell wenig später mit Robbenfell an der ein oder anderen Körperstelle, einem schönen Menschenkopf, der Heckflosse eines Wales und anatomisch klandestinen Verdauungsorganen eines Pferdes. Sobald dieses Wesen vor mir schwebte und sprach, war es nie wieder einzuholen, weil es in der Sekunde seiner Entdeckung, in jener ersten Sekunde seiner Existenz, sich sofort in eine jener Substanzen verwandelte, die nur unvollkommen in einen erzählenden Text zu transportieren sind, weil dieser tauchende Kentaur wie alle anderen Wesen höchst feinen Gesang aus 1 Trilliarde Ziffern erwartet. — 12.58 in Tibet. Lhasa. — stop
blaue schuhe
0.56 — Ich hatte mir vorgenommen, eine kleine Notiz über eine Ameise zu schreiben, die ich gestern Nachmittag in einem U‑Bahn-Waggon angetroffen hatte. Aber dann habe ich meine Hände gesehen, wie sie dicht über der Tastatur der Schreibmaschine auf Anweisung warteten. Ich dachte, dass meine Hände jene anatomischen Strukturen meines Körpers sind, die ich am besten kenne, weil ich sie vielfach betrachtet habe. — Alle Hände, die ich erinnern kann, sind die Hände eines Menschen, der nicht mehr Kind ist. Aber ich erinnere mich an Bewegungen, die Kissen in einem Kinderwagen sortieren. Ich erinnere mich an meinen Wunsch, in meinem Kinderwagen Ordnung zu halten. An hölzernes Spielzeug erinnere ich mich, das vor meiner Nase baumelte. Da sind jetzt kleine, blaue Schuhe in meinem Kopf. Sie bewegen sich, wenn ich wünsche, dass sie sich bewegen. — stop
zeitort
[ 0.08 ] — Ich schreibe diesen Text an einem Zeitort, der eigentlich nicht existiert. Habe mich um 0.05 Uhr an die Schreibmaschine gesetzt, aber noch ehe ich meine Hände auf die Tastatur gelegt hatte, war schon 1 Uhr geworden und ich hatte noch keinen einzigen druckbaren Satz notiert. Habe ich mir also eine zusätzliche Stunde Zeit fabriziert. Wieder war 0 Null Uhr geworden und ich dachte notierend über das Wassersprechen nach. — Ist es möglich, unter einer Meeresoberfläche Wörter aufzusagen? Ist es überhaupt Menschen möglich, unter Wasser so deutlich zu sprechen, dass zu verstehen ist, was ausgesprochen, das heißt, ausgeatmet wurde? Wie hört sich eine menschliche Stimme an, die unter Wasser spricht? Wie viele Sätze kann ich mit einer gesunden, mit einer prall mit Luft gefüllten Lunge so deutlich sprechen, dass von einer Unterhaltung die Rede sein könnte, wenn ich eine Antwort von einem weiteren Taucher erwarten würde? — stop
lou reed
0.15 – Stimmung fiebriger Heiterkeit. Der Eindruck, dass ich mich auf einem Dampfschiff befinde. Leise wummerndes Stampfen der Maschinen. Vorhin hat mir ein freundlicher Schiffsdoktor kühlende Salben gebracht für die Brust, einen Saft, der die Temperatur senken soll, in einer merkwürdig blauen Farbe, und Tropfen für die Nase, die doch noch völlig in Ordnung ist. Eine Armlänge entfernt auf dem Boden steht eine leise pfeifende Kanne Tee. Das hört sich ein wenig so an, als würde die Kanne zu mir sprechen, weil ich heute selbst meine bewegten Bilder von Tag und Nacht durcheinander spiele. Da ist John Lurie. Er lagert in Brooklyn vor einem Tabakwarenladen und spielt sein Saxofon. Und da ist Lou Reed. Er raucht wie der Teufel, während er erzählt, dass er sich vor den Schweden fürchte. Und da sind Geckos, fingerlange Geckos, hellblau, ein Rudel. Sie jagen über die Decke meines hölzernen Zimmers dahin. — stop