nordpol : 20.18 UTC — Das Bändchen Notizen aus Sarajevo von Juan Goytisolo, das im Jahr 1993 in der Edition Suhrkamp erschien, muss einmal feucht oder nass geworden sein. Es wellt sich noch immer, obwohl es Jahre gepresst unter weiteren Büchern im Regal darauf wartete, wieder gelesen zu werden. Ich erinnere nicht, wo ich das Buch gelesen hatte, vielleicht in einem Park, vermutlich war Regen gefallen. Seit Tagen liegt es auf meinem Küchentisch, ich habe es bisher nur einmal kurz geöffnet, bemerkte folgenden mit Bleistift markierten Absatz: “Gleich nach seiner Ankunft in Sarajevo muss der Fremde in die Gesetze und Regeln eines Verhaltenskodex eingeweiht werden, der Grundvoraussetzung für sein Überleben ist. Er, der an ein freies Leben ohne Hemmnisse gewöhnt ist, muss in seinem neuen Lebensraum, der Mausefalle, die er mit 380000 anderen Menschen teilt, schnell lernen. Er muss die hochgefährlichen Gebiete und diejenigen kennen, in denen er sich ohne allzu große Gefahr bewegen kann, er muss wissen in welchen Stadtteilen Mörsergranaten niedergehen, welches die beliebtesten Straßenecken und Kreuzungen der Heckenschützen sind, wo er gebückt gehen und wo er schnell losrennen muss. Jede Unachtsamkeit oder ein Fehler bei der Auswahl des Weges können tödlich für ihn sein. Jedes Hinausgehen — und jeder muss einmal rausgehen, um Wasser, Holz oder Nahrungsmittel zu holen — ist, wie die Menschen in Sarajevo sagen, russisches Roulette.“ — stop / S.32/33
Aus der Wörtersammlung: menschen
sarajevo
charlie : 17.15 UTC — Ich erinnere mich an einen jungen Mann, mit dem ich einmal vor sechs Jahren eine seltsame Geschichte erlebte. Wenn sie mir damals jemand anderes als ich selbst erzählt haben würde, hätte ich sie vielleicht nicht geglaubt. Die Geschichte beginnt damit, dass ich in einem Café sitze und auf einen jungen Mann warte, der mir etwas erzählen will. Ich bin frühzeitig gekommen, bestelle einen Cappuccino und schalte mein kleines Handkino an, beobachte eine Dokumentation der Arbeit Maceo Parkers in New York, mitreißende Musik, gerade eben umarmt die Sängerin Kym Mazelle den Posaunisten Fred Wesley, als der junge Mann, den ich erwartete, plötzlich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den kleinen Bildschirm. Sofort kommen wir ins Gespräch. Ich frage ihn, welche Musik er gehört habe, als Kind in der belagerten Stadt Sarajevo. Jedenfalls nicht solche Musik, antwortet er, und lacht, no Funk, wir hatten keinen Strom. Avi ist heute Anfang dreißig, und dass er noch lebt ist ein Wunder. Tatsächlich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sarajevo erzählt. Einmal fragte ich ihn, was er empfunden habe, als er von Karadzics Verhaftung hörte. Anstatt zu antworten, perlte in Sekundenschnelle Schweiß von Avis Stirn. Heute beginnt er schon zu schwitzen, ehe er überhaupt zu erzählen beginnt, weil er weiß, dass er gleich wieder berichten wird von den Straßen seiner Heimatstadt, die nicht mehr passierbar waren, weil Scharfschützen sie ins Visier genommen hatten. Man schleuderte Papiere, Zigaretten, Brote, Wasserflaschen in Körben von einer Seite der Straße zu anderen. Diese Körbe wurden nicht beschossen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er nicht verstehen konnte, was mit ihm und um ihn herum geschah, auch dass ein Holzsplitter sein linkes Auge so schwer verletzte, dass er jetzt ein Glasauge tragen muss, das so gut gestaltet ist, dass man schon genau hinsehen muss, um sein künstliches Wesen zu erkennen. Er sagt, er könnte, wenn ich möchte, das Auge für mich herausnehmen. Aber das will ich nicht. Ich erzähle ihm, dass ich damals, als er klein gewesen war, jeden Abend Bilder aus Sarajevo im Fernsehen beobachtet habe. Was das für Bilder gewesen seien, will Avi wissen. Ich sage: Das waren Bilder, die rennende Menschen zeigten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fernsehen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer sehr schnell und überall passierte. Und diese Geräusche. Plötzlich nimmt der junge Mann mein kleines Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopfhörer in seine Ohren ein, hört Maceo Parker, Kim Macelle, Fred Wesley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhythmus der Musik mit dem Kopf. Ein Wispern. — stop
ai : ÄGYPTEN
Amnesty International / MENSCH IN GEFAHR : “Am 22. September 2019 gegen 19 Uhr nahmen Angehörige der Sicherheitsbehörden in Zivil die bekannte Menschenrechtsanwältin Mahienour el-Masry fest, als sie das Gebäude der Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit in Alexandria verließ. Sie brachten sie in einem Kleintransporter an einen unbekannten Ort. Kurz zuvor, am 20. und 21. September, waren in mehreren ägyptischen Städten regierungskritische Proteste ausgebrochen. Die Anwältin wollte sich bei der Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit über den Stand der Ermittlungen gegen die bei den Protesten Festgenommenen erkundigen, die den Rücktritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi gefordert hatten. Am 23. September befragte ein Staatsanwalt Mahienour el-Masry und entschied, sie während der Ermittlungen im Fall 488 von 2019 für 15 Tage im Frauengefängnis Al Qanater zu inhaftieren. Bei diesem Fall geht es um die regierungskritischen Demonstrationen vom März 2019. Ihr wird „Zusammenarbeit mit einer Terrorvereinigung zur Erlangung ihrer Ziele“, die „Verbreitung falscher Nachrichten“ und „Nutzung der Sozialen Medien zur Veröffentlichung von Falschmeldungen“ vorgeworfen. / Mahienour el-Masrys Inhaftierung ist Teil des bislang härtesten Vorgehens gegen Andersdenkende in der Amtszeit von Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Bei den Protesten am 20. und 21. September 2019, auf denen der Rücktritt des Präsidenten gefordert wurde, wurden mehr als 2.300 Menschen festgenommen./ Amnesty International ist der Ansicht, dass Mahienour el-Masry eine Menschenrechtsverteidigerin und gewaltlose politische Gefangene ist, die sich nur deshalb in Haft befindet, weil sie friedlich ihrer Arbeit nachgegangen ist, die darin besteht, Betroffene von Menschenrechtsverletzungen zu verteidigen.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 21.11.2019 unter > ai : urgent action
lebenszeichen
india : 11.28 UTC — Da sind Thermometerwerkzeuge, 5 + 1, zur Messung der Temperaturen eines Zimmers. Und flackerndes Regenlicht, das von den Fenstern her kommt. Ein Computerbildschirm, in dem sich der Computer selbst befindet, zuletzt vor fünf Jahren angeschaltet. Auf dem Schreibtisch ruhen anatomische Bücher, gedruckt in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bitterer Duft steigt auf, sobald sie geöffnet sind. Das Handbuch eines Opel-Rekord und eine Blechdose, drin sind Liebesbriefe: Meine Liebste, wie ich mich nach Dir sehne! Eine Zigarrenschachtel weiterhin voller Briefmarken des deutschen Reiches, die der Junge noch sammelte. Ein Kinderbuch: Zwei Pinguine winken. Ein Gerät, das den Strom zu vermessen vermag, haardünner Zeiger. Eine Karte der Stadt Lissabon und Fahrkarten einer Straßenbahn, die in Lissabon noch immer anzutreffen ist. Zwei Menschen waren dort, die Lissabon liebten. Dem Jungen, der Lissabon später einmal lieben sollte, gehörten zwei Schulbücher, er wird später ein Doktor der Physik und ein Verehrer Andrei Sacharows. Sein Vater war Arzt gewesen, deshalb auch Skalpelle auf rotem Samt und eine Schachtel, in welcher sich Objektträger befinden. Dort Spuren, die gelblich schimmern. Und Dioden und Widerstände und Rechenkerne auf Platinen geschraubt. Auch Luftpostbriefe, die ein junger Student an sich selbst oder seine Geliebte notierte, da waren sie noch nicht nach Lissabon gereist, prächtige Marken und Stempel und Sonderwertzeichen der Ballonpost zu einer Zeit, als Expressbriefe noch durch Eilboten zugestellt worden waren. Eine Filmdose und noch eine Filmdose, die man nicht wagt im Regenlicht zu öffnen. Auf einem Dia ist sehr klein eine junge Frau zu erkennen, die vor dem World Trade Center in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Sohnes sofort bekannt. In einer Kladde verschnürt, Blätter eines Herbariums: Schlüsselblume von Bleistiftbeschriftung umgeben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funkantennen wie Fühler eines Insektes ohne Strom. Eine Postkarte ist da noch und immer noch Regen draußen vor den Fenstern. Auf der Postkarte steht in großen Buchstaben rot umrandet vermerkt: Lebenszeichen von L.K. aus der Braubachstraße / 8. II. 44: Meine Lieben! Wir sind gesund und unbeschädigt. Marie & Familie. — stop
kleiner mann
nordpol : 18.16 UTC — Eine Sammlung von Kerzen am Ende eines Bahnsteiges, Sammlung von Rosen, Nelken, Tulpen, hunderte Sträuße und Briefe in allen möglichen Farben und Sprachen: Mach’s gut, kleiner Mann! Immer wieder dieser Satz, es leuchtet auch am Tag, und Menschen erscheinen oder bleiben stehen. Sie sind still, weil ein Kind von einem Zug überfahren wurde, weil ein verwirrter Mann das Kind vor einen Zug gestoßen hatte, ein Mann, der in Afrika geboren wurde, weswegen auch sehr böse Personen immer wieder einmal böse Sätze über Hautfarben und Menschen aus der Fremde sagen. Meist aber ist es still, auch deshalb, weil die Fotoapparate heutzutage Telefone sind, die sich auch wie Fotoapparate benehmen, man hört nicht, wenn sie das Licht einfangen. Es wird viel fotografiert, vielleicht weil es hier berührt, hunderte Teddybären. Eine Frau, sie trinkt aus einer kleinen Flasche Cognac, neben ihrem Rollstuhl kauert ein Hund. Die Frau sieht elend aus, weint: Das arme Kind, sagt sie, und dass die hier fotografieren, das auch noch. Furchtbar ist das. Dann fährt sie davon, sehr dicht an der Bahnsteigkante entlang, Tage später ist vor Ort nichts mehr zu sehen, aber die Bilder in digitalen Kammern, auch vom Jungen, vom kleinen Mann, ein Bild, eine Fälschung. — stop
vom gehen
lima : 15.08 UTC — Träumte Schaufensterpuppen, die sich durch ein Warenhaus bewegten. Manche gingen unbeholfen rückwärts, kein Wunder, hatten sie doch in der Fortbewegung keine Erfahrung, standen Jahr um Jahr an ein und demselben Ort, als wären sie verwurzelt, verneigten sich, zeichneten unsichtbare Figuren in die Luft, winkten Passanten zu oder Passanten heran, lächelten oder zwinkerten. Irgend ein Zeichen, vielleicht von einem Menschen von der Straße her gesendet, muss sie in Bewegung gesetzt haben. Im Übrigen waren sie stumm, nichts war zu hören als ein leises Surren, irgendetwas quietschte. — stop
ai : SRI LANKA
MENSCH IN GEFAHR : “Der Schriftsteller Shakthika Sathkumara wurde am 1. April 2019 festgenommen, als er auf einer Polizeiwache erschien, um eine Aussage zu einer Beschwerde zu machen, die buddhistische Mönche hinsichtlich seiner Kurzgeschichte eingereicht hatten. Er wurde unter Paragraf 3(1) des IPbpR-Gesetzes und Paragraf 291(B) des srilankischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Diese Paragrafen lassen eine Freilassung gegen Kaution seitens regulärer Amtsgerichte nicht zu. Deshalb befand sich Shakthika Sathkumara fast vier Monate lang in Haft. Seine nächste Anhörung soll am 30. September vor dem Obersten Gerichtshof stattfinden. / Shakthika Sathkumaras literarische Arbeit ist von mehreren Organisationen, darunter auch dem Ministerium für kulturelle Angelegenheiten und der Kulturabteilung des Ministerpräsidenten der Nordwestprovinz, für Auszeichnungen vorgeschlagen worden. Paragraf 3(1) des IPbpR-Gesetzes und Paragraf 291 des Strafgesetzbuchs kriminalisieren das Propagieren von rassistischem und religiösem Hass, der Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt schürt./ Die Festnahme von Shakthika Sathkumara ist Teil einer beunruhigenden Tendenz, das IPbpR-Gesetz dazu zu nutzen, friedlichen Aktivist_innen und Autor_innen in Sri Lanka die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit abzusprechen. Diese Rechte sind jedoch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben. Im Mai 2019 wurde eine Frau namens M. R. Mazahima unter dem IPbpR-Gesetz festgenommen, weil sie eine Bluse mit dem Aufdruck eines Schiffsteuerrades getragen hatte. Als Begründung wurde von den anzeigenden Personen fälschlicherweise angegeben, dass dies ein buddhistisches Symbol sei. Sie wurde mehr als drei Wochen lang in Gewahrsam gehalten, bis ihr endlich Kaution gewährt wurde. Im Juni 2019 wurde dem Kolumnisten Kusal Perera unter dem IPbpR-Gesetz mit der Festnahme gedroht, weil er über den zunehmenden extremistischen Sinhala-Buddhismus in Sri Lanka geschrieben hatte. / Der willkürliche Einsatz des IPbpR-Gesetzes – das Menschenrechte schützen und nicht gegen sie verstoßen soll – hat zu einem schwierigen Klima im Land geführt. In Sri Lanka reagieren die Behörden extrem sensibel auf vermeintliche Verunglimpfungen des Buddhismus und werden direkt von bestimmten Gruppen buddhistischer Mönche beeinflusst, die die Festnahme und Strafverfolgung von Personen verlangen, von der sie meinen, dass sie die Religion verunglimpft haben./ Gemäß dem IPbpR, an dessen Umsetzung Sri Lanka gebunden ist, darf das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit nur in einem engen, klar definierten Rahmen eingeschränkt werden. Einschränkungen dieser Rechte sind nur dann zulässig, wenn sie nötig sind, um die Rechte und Freiheiten anderer oder bestimmte öffentliche Interessen (wie z. B. die nationale bzw. öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Gesundheit oder Moral) zu schützen, und wenn sie für diesen Zweck nachweisbar notwendig sind. Indirekte oder direkte Kritik an einer Religion oder einem Glaubenssystem darf nicht als Volksverhetzung kriminalisiert werden.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 17.10.2019 unter > ai : urgent action
vom warten
himalaya : 12.22 UTC — Da sind Menschen, die in einem Kontrollzentrum Bildschirme beobachten. Sie haben sich versammelt, gemeinsam die Landung einer Marssonde zu erleben. Was gerade geschieht, in großer Entfernung, ist derart spannend, dass sie alle ganz still sind. Sie stehen oder sitzen und betrachten also Bildschirme, auf welchen nichts zu sehen ist, als Zahlenreihen, die sie vermutlich zu lesen in der Lage sind, als wären sie Wörter, welche eine Geschichte erzählen, die in diesem Augenblick der Beobachtung vermutlich längst schon vollendet ist. Blackout expected, sagt eine Stimme. — stop
stille
echo : 15.02 UTC — Still im Wald an einem warmen Sommertag. Das Licht der Sonne streifte durch Blattdächer der Bäume, die sich kaum noch bewegten, vielleicht weil die Bäume durstig waren. Da und dort ein Falter weiß oder orange oder gelb, die waren schon immer zu leise gewesen im Flug für meine Menschenohren. Zwei Käfer, schwarz und rund, knisterten über den Weg, Blätterrascheln, nur eine Vorstellung, unter ihren Krallenfüßen. Keine Fliegen in der Luft, nicht eine einzige Fliege, aber zwei Vögel, in der ersten Stunde meines Spazierganges im stillen Wald der eine Vogel, und in der zweiten Stunde meines Spazierganges im stillen Wald, ein zweiter Vogel. Auch keine Ameisen weit und breit, keine Laufkäfer keine Grillen, keine Zikaden. Und die Vögel, die ich beobachtete, waren stumm, vielleicht weil sie durstig oder hungrig waren. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete das Licht der Sonne, das nach mir suchte. Ich holte meine flache Radioschreibmaschine aus der Tasche, suchte in der digitalen Sphäre nach Geräuschen des Waldes, die kürzlich noch zu hören gewesen waren. Das Radio und der Wald. Eine Stille wie Wüste. — stop