victory : 22.02 – Ich hab mich auf den Weg gemacht durch meine Stadt. Ich dachte noch, Du wirst diese Stadt spazieren, ohne sie zu berühren mit Deinen Händen, keinen Menschen berühren, keine Straßenbahn, keine Häuserwand, keine Kaffeetasse, keinen Knopf, keine Geländer. Mit dieser Vorstellung im Kopf ging ich los, Hände in den Hosentaschen. Schon einmal hab ich so etwas versucht, da wars nur ein Spiel, in einem New Yorker Subwayzug mit geschlossenen Augen freihändig zu stehen und zu balancieren, sagen wir eine zweistündige Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Boulevard. Das Reiten auf einem wilden Tier. Vielleicht könnte ich sagen, dass das Erlernen einer Subwaystrecke, das neuronale Verzeichnen ihrer Steigungen, ihrer Gefälle, ihrer Kurven, auch ihrer feinsten Unebenheiten, dem wortgetreuen Studium eines Romantextes vergleichbar ist. Aber dann die Zufälle des Alltages, das nicht Berechenbare, ein Tunnelvogel, eine schmutzige Möwe, Höhe 135. Straße, die den Zug zur Bremsung zwingt, Eigenarten des Zuges selbst, das unvorhersehbare Verhalten zusteigender Fahrgastpersonen, eine Jazzband, wie ich dringend darum bitte, man möge nicht näher kommen. — stop
Aus der Wörtersammlung: menschen
ein film
nordpol : 22.07 UTC — Wie ein Gespenst in einem Nachthemd kletterte eine Frau in der Stadt Wuhan von Balkon zu Balkon. Es ist irgendwann in der Nacht. Es ist vielleicht der 15. Stock. Über der kletternden Frau weitere Stockwerke. Kaum Licht, etwas Mondlicht. Da und dort Lampen in den Fenstern. Irgendjemand in einem Haus jenseits der Tiefe filmt die kletternde Frau, ein Bild von Verzweiflung. Ich habe diesen Film auf einem Handybildschirm aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen. Menschen, die im Zug neben mir saßen betrachteten die Aufnahme. Sie waren vermutlich auf dem Weg zum Flughafen. Atem blähte ihren Mundschutz wie ein Segel. — stop
bildschirmzimmer
lima : 22.08 UTC – Einmal, vor wenigen Stunden, kehrte ich in mein Arbeitszimmer zurück. Die Bildschirme sämtlicher Schreibmaschinen sendeten Licht. Da war eine Landkarte zu erkennen, welche die wachsende Zahl infizierter Menschen verzeichnete. Auch eine Fotografie, die Menschen zeigte in Schutzanzügen. Und da war ein Chatprogramm, das unentwegt Textnachrichten sendete, ein Film außerdem mit Ton, der von dem Ebolavirus erzählte. Ich selbst hatte diese Lichter nach und nach angeschaltet, ich muss vielleicht kurz darauf aus dem Zimmer geflüchtet sein. — stop
ai : BURUNDI
MENSCHEN IN GEFAHR : “Die vier Iwacu-Journalist_innen Agnès Ndirubusa, Christine Kamikazi, Egide Harerimana und Térence Mpozenzi wurden am 30. Januar von einem Gericht in Bubanza zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. / Die vier waren am 22. Oktober 2019 bei ihrer Ankunft in der Provinz Bubanza zusammen mit ihrem Fahrer Adolphe Masabarakiza willkürlich festgenommen worden. Laut Iwacu waren die vier Jorurnalist-innen mit ihrem Fahrer dorthin gefahren, um von dort über gemeldete Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und einer bewaffneten Gruppe zu berichten. Adolphe Masabarakiza wurde am 20. November 2019 gegen Kaution freigelassen, die vier Journalist/innen mussten in Haft bleiben. Der Fahrer wurde am 30. Januar 2020 freigesprochen. Die zu Haftstrafen verurteilten Journalist-innen legten am 21. Februar 2020 Rechtsmittel gegen das Urteil ein. / Die ursprüngliche Anklage „Konspiration zur Untergrabung der Staatssicherheit“ war bei der Urteilsverkündung in „unmöglicher Versuch der Untergrabung der Staatssicherheit“ geändert worden. Das Gericht gestattete es den Rechtsbeiständen der Journalist-innen nicht, Argumente gegen diese neue Anklage vorzubringen. / Amnesty International geht davon aus, dass die vier Journalist-innen nur aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit und der friedlichen Ausübung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit strafrechtlich verfolgt werden. Das Verhalten, das zu ihrer Verurteilung führte – eine Recherchereise mit dem Ziel, über aktuelle Ereignisse zu berichten – entspricht genau dem Tätigkeitsprofil von Journalist-innen.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 22.4.2020 unter > ai : urgent action
hinter glas
tango : 17.38 UTC — Während eines Besuches in einem Aquarium begegnete ich vor Jahren einmal einem Fetzenfisch. Diese Begegnung war vielleicht der ersten Begegnung eines Kindes mit einer Weihnachtskugel vergleichbar. Ich konnte meinen Blick nicht von dem filigranen Wesen wenden, das hinter etwas Glas vor mir lautlos im Wasser schwebte. Ich war ganz sicher nicht der erste Mensch gewesen, den dieses feine Wesen im Aquarium wahrgenommen haben könnte, hunderttausende Augenpaare, Nasen, Finger, Menschen eben da draussen hinter den Scheiben, ungefährlich, manchmal kleine Menschen, die auf den Armen oder Schultern der großen Menschen hockten. Vor einigen Monaten nun bemerkte ich in einem Filmdokument eine Meerwalnuss, wunderbare Bezeichnung, ihr Leuchten, und wieder konnte ich mich nicht abwenden, habe mehrere Stunden über Meerwalnüsse geforscht in der digitalen Sphäre. Die Scheibe des Aquariums war nun ein Bildschirm, Blick nur in eine Richtung, keine Begegnung, vielmehr eine Beobachtung. Ich werde bald einmal den Versuch unternehmen, Meerwalnüsse tatsächlich leibhaftig zu besuchen wo sie leben. — stop
shenyang
ginkgo : 19.55 UTC — Sie kommt gerade aus Shenyang, ist ziemlich müde, sitzt im Schnellzug Richtung City zwischen zwei schweren Metallkoffern, eine ältere Dame, sie sei eine der ältesten, die noch fliege, Cabin Chief, sie reise gern, wenn auch etwas ängstlicher, man habe schon den Eindruck, dass der Luftraum unsicherer geworden sei, aber die Welt insgesamt sei unsicher geworden, die Amerikaner sind es vor allem, das dürfe man aber nicht so laut sagen, früher hätten sie noch gewusst, wohin die Regierung im Notfall fliegen würde, das sei jetzt nicht mehr Angelegenheit der Lufthansa, das erledige die Luftwaffe, die wüssten jetzt Bescheid, auch dass schon Anfang des letzten Jahrhunderts bekannt gegeben wurde, dass bald ein neuer großer Krieg kommen würde, Israel wüsste darüber Bescheid und eben die Amerikaner, aber das sagen wir lieber nicht so laut, sagt sie, aber sie fliege immer noch gern, komme viel in der Welt herum, sie könne ja verstehen, dass die Menschen flüchten, aber sie seien eigentlich keine richtigen Flüchtlinge wie ihre Eltern noch, die wollte keiner haben, die flohen aus Schlesien, das waren noch richtige Flüchtlinge, die Chinesen fliehen ja auch nicht, irgendwie geht alles seltsame Wege, die Welt ist aus dem Gleichgewicht, aber sie dreht sich noch, aber nicht mehr lange. — Als der Zug steht, hört sie auf zu sprechen, steigt aus, ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwindet in der Menge, diese zierliche und irgendwie ziemlich müde Person. — stop
von der reisenden warenwelt
kilimandscharo : 22.02 UTC — Ich dachte heute, in der Schweiz würden vielleicht Menschen existieren, die ich als Uhrenträger bezeichnen könnte. Uhrenträger, weil sie je 50 Uhren an Armen und Beinen dicht an ihren Körpern tragen. So, in dieser Weise von Uhrwerken geschmückt, geht man als Uhrenträger leise tickend vorsichtig spazieren, wandert in der schönen Natur herum, ohne selbstverständlich auch nur eine der Uhren je abzulegen. Auch im Schlaf werden alle Uhrwerke getragen, weshalb es in der nächtlichen Stille in den Zimmern leise rauscht. Nach ein oder zwei Wochen kehren Uhrenträger dann aus dem Leben in ihre Uhrenfabrik zurück. Dort sind sie nämlich angestellt, um vollständig neue Uhrgeschöpfe in bereits gebrauchte Ware zu verwandeln, warum? — stop
vor langer zeit im dezember
olimanbo : 0.02 UTC — Einmal kam ich von einem Besuch bei Freunden nach Hause zurück, und wie ich so in meine Wohnung stolperte, entdeckte ich Mrs. Callas, die damals in Gedanken bei mir wohnte, wie sie weinend vor einer Fotografie stand, vor einer Schwarzweißfotografie, die ich seit vielen Jahren besitze und mir immer wieder sehr gerne ansehe. Natürlich wunderte ich mich, dass Mrs. Callas weinte, weil die Fotografie zwei alte Menschen zeigt, eine Frau und einen Mann, die friedvoll Seite an Seite in einer Küche an einem Tisch sitzen. Raissa Orlowa, liest ihrem alten Mann, Lew Kopelew, vielleicht aus einem Buch vor. Und ich fragte Mrs. Callas, warum sie denn weinen würde, das sei doch eine sehr beruhigende Fotografie. Ich glaube, setzte ich hinzu, sie sind glücklich. Mrs. Callas antwortete unverzüglich mit Ernst in der Stimme, ja, das sind sie, glücklich, ganz sicher sind sie sehr glücklich. Ich wünsche mir für mich ein Ende wie dieses hier an der Wand, Mr. Louis. Sie müssen mir ein anderes Ende schreiben! – Und so sitze ich nun müde auf dem Sofa und notiere diese Geschichte, während Mrs. Callas mich hoffnungsvoll beobachtet. Wie nur könnte ich sie trösten, weil ich doch vor ihrem Schicksal ohnmächtig bin? Vielleicht könnte ich erzählen, dass ich Lew Kopelew in München einmal für wenige Sekunden begegnete. Ich könnte ihr beschreiben, wie er mir am Hauptbahnhof aus einer Menschenmenge heraus entgegenkommt, wie ich seine Erscheinung, seine stattliche Größe, seinen schlohweißen Bart bewundere. Und ich könnte Mrs. Callas berichten, wie Lew Kopelew meinen Blick bemerkt, wie er mich freundlich betrachtet und wie er meinen nickenden Gruß erwidert, weil er in meinem Blick gesehen haben wird, dass ich ihn für lange Zeit gelesen habe und immer wieder lesen werde. – Ja, vielleicht sollte ich Mrs. Callas von diesen Sekunden meines Lebens erzählen, und dass es erholsam sein könnte, sich zunächst einmal zur Ruhe zu legen für zwei oder drei Tage.
reykjavik
ai : TÜRKEI
MENSCH IN GEFAHR : “Am Abend des 15. Juli 2016 versuchten Teile der türkischen Streitkräfte mit Waffengewalt, die Regierung zu stürzen. Doch der Putschversuch wurde schnell niedergeschlagen. Tausende Menschen protestierten auf den Straßen dagegen und die Putschisten wurden von Sicherheitskräften überwältigt. In einer Nacht voller Gewalt wurden Hunderte getötet und Tausende verletzt. Unmittelbar nach dem gescheiterten Staatsstreich beschuldigte die Regierung den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger_innen, sich zum Sturz der Regierung verschworen zu haben. Die religiöse Gülen-Bewegung wird von den türkischen Behörden als terroristische Organisation eingestuft. Am 20. Juli 2016 rief die Regierung den Ausnahmezustand aus, der zwei Jahre lang in Kraft blieb. Es folgte eine massive Verhaftungswelle gegen Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Richterinnen, Staatsanwältinnen sowie vermeintliche und tatsächliche Kritikerinnen der Regierungspartei AKP. / Ahmet Altan und sein Bruder Mehmet Altan nahmen am 14. Juli – dem Vorabend des Putsches – an einer Live-Fernsehsendung mit der Moderatorin Nazlı Ilıcak teil. Während der Sendung diskutierten sie auch über türkische Politik. Anschließend wurden alle drei unter dem Vorwurf festgenommen, in der Sendung „unterschwellige Botschaften“ über den bevorstehenden Putsch verbreitet zu haben. Nazlı Ilıcak kam Ende Juli, Ahmet Altan und Mehmet Altan kamen im September 2016 in Untersuchungshaft. Ahmet Altan, Mehmet Altan, Nazlı Ilıcak und drei weitere Angeklagte wurden dann im Februar 2018 wegen des Vorwurfs, „die verfassungsmäßige Ordnung umstürzen zu wollen“ zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer Bewährung verurteilt. Als das Oberste Berufungsgericht die Schuldsprüche im Juli 2019 aufhob, wurde ein neues Verfahren gegen fünf der Angeklagten eingeleitet. Mehmet Altan wurde dagegen freigesprochen. / Am 4. November 2019 wurden mithilfe der Anklage „Unterstützung einer terroristischen Organisation, ohne deren Mitglied zu sein“ Ahmet Altan zu zehneinhalb Jahren und die Journalistin Nazlı Ilıcak zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Beide wurden bis zum Urteil in ihrem Rechtsmittelverfahren vor dem Strafgericht für schwere Strafsachen Nr. 26 in Istanbul freigelassen und mit einem Reiseverbot belegt. Das Gericht sprach in dem unfairen Verfahren drei weitere Personen schuldig, darunter zwei Medienschaffende, und entschied, dass sie in Untersuchungshaft bleiben müssten. Die Staatsanwaltschaft legte am 6. November 2019 Rechtsmittel gegen Ahmet Altans Freilassung ein. Am 8. November wies das Gericht für schwere Strafsachen Nr. 26 in Istanbul den Antrag des Staatsanwalts zurück, Ahmet Altan erneut in Haft zu nehmen und verwies die Strafsache an das Gericht für schwere Strafsachen Nr. 27. Dieses Gericht akzeptierte das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft am 12. November. Ahmet Altan und sein Rechtsbeistand erfuhren nicht direkt von dieser Entscheidung des Gerichts, sondern durch regierungsnahe Medien. Noch am gleichen Abend wurde Ahmet Altan zuhause in Istanbul festgenommen und in Polizeigewahrsam überstellt. / Die erneute Festnahme von Ahmet Altan scheint politisch motiviert, willkürlich und unvereinbar mit dem Recht auf Freiheit nach Paragraf 5 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu sein, der jeden willkürlichen Freiheitsentzug verbietet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, dass vorsätzliche Handlungen der Behörden zu Willkür führen können. Die erneute Inhaftierung von Ahmet Altan verstößt eklatant gegen seine Rechte.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 8.1.2020 unter > ai : urgent action