Aus der Wörtersammlung: mich

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im zug

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vic­to­ry : 22.02 – Ich habe mich auf den Weg gemacht durch mei­ne Stadt. Ich dach­te noch, Du wirst die­se Stadt spa­zie­ren, ohne sie zu berüh­ren, mit Dei­nen Hän­den, kei­nen Men­schen berüh­ren, kei­ne Stra­ßen­bahn, kei­ne Häu­ser­wand, kei­ne Kaf­fee­tas­se, kei­nen Knopf, kei­ne Gelän­der. Mit die­ser Vor­stel­lung im Kopf ging ich los, Hän­de in den Hosen­ta­schen. Schon ein­mal habe ich so etwas ver­sucht, da war es nur ein Spiel, in einem New Yor­ker Sub­way­zug mit geschlos­se­nen Augen frei­hän­dig zu ste­hen und zu balan­cie­ren, sagen wir eine zwei­stün­di­ge Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Bou­le­vard. Das Rei­ten auf einem wil­den Tier. Viel­leicht könn­te ich sagen, dass das Erler­nen einer Sub­waystre­cke, das neu­ro­na­le Ver­zeich­nen ihrer Stei­gun­gen, ihrer Gefäl­le, ihrer Kur­ven, auch ihrer feins­ten Uneben­hei­ten, dem wort­ge­treu­en Stu­di­um eines Roman­tex­tes ver­gleich­bar ist. Aber dann die Zufäl­le des All­ta­ges, das nicht bere­chen­ba­re, ein Tun­nel­vo­gel, eine schmut­zi­ge Möwe, Höhe 135. Stra­ße, die den Zug zur Brem­sung zwingt, Eigen­ar­ten des Zuges selbst, das unvor­her­seh­ba­re Ver­hal­ten zustei­gen­der Fahr­gast­per­so­nen, eine Jazz­band, wie ich drin­gend dar­um bit­te, man möge nicht näher kom­men. — stop
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zwei wale

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marim­ba : 12.01 UTC — An einem neb­li­gen Abend fuhr ich mit einem Fähr­schiff nach Sta­ten Island. Ich ging eine Stun­de spa­zie­ren, kauf­te etwas Brot und Käse, dann war­te­te ich in der zen­tra­len Hal­le des Saint Geor­ge Fer­ry Ter­mi­nals auf das nächs­te Schiff nach Man­hat­tan zurück. Eini­ge Kin­der spiel­ten vor einem mäch­ti­gen Aqua­ri­um, sie toll­ten um den Glas­be­häl­ter her­um. Plötz­lich blieb eines der Kin­der ste­hen, auf­ge­regt deu­te­te es zum Aqua­ri­um hin. Wei­te­re Kin­der näher­ten sich. Sie schie­nen begeis­tert zu sein. Ich schlen­der­te zu ihnen hin­über, stell­te mich neben sie. Da war etwas Erstaun­li­ches zu sehen, da waren näm­lich Ele­fan­ten im glas­kla­ren Was­ser, sie wan­der­ten auf dem san­di­gen Boden des Aqua­ri­ums in einer Rei­he von Wes­ten nach Osten. Ihre meter­lan­gen Rüs­sel hat­ten sie zur Was­ser­ober­flä­che hin aus­ge­streckt, such­ten in der See­luft her­um und berühr­ten ein­an­der in einer äußerst zärt­li­chen Art und Wei­se. Ein fas­zi­nie­ren­des Geräusch war zu hören, sobald ich eines mei­ner Ohren an das hand­war­me Glas des Was­ser­ge­he­ges leg­te. Auch Geräu­sche, wie ich sie von Mikro­fo­nen ken­ne, die Wal­ge­sän­ge nahe Grön­land auf­ge­zeich­net hat­ten. Wie ich zur Ober­flä­che des Was­sers hin blick­te, ent­deck­te ich zwei Wale, die durch das Was­ser schweb­ten, sie waren je groß wie eine Faust und stie­ßen etwas Luft aus von Zeit zu Zeit, wie man das von wil­den Walen kennt, die so groß sind, dass wir über sie stau­nen. Manch­mal tauch­ten die klei­nen Wale zu den Ele­fan­ten­tie­ren hin, behut­sam näher­ten sie und schau­ten sich inter­es­siert unter den Wan­dern­den um, man schien sich natür­lich zu ken­nen. — Ich konn­te nicht schla­fen. Noch in der­sel­ben Nacht fuhr ich nach Man­hat­tan zurück. Ich mach­te einen Text­ent­wurf für eine Zei­tung, obwohl ich noch kei­ne wirk­li­che Ahnung hat­te, wie von den Zwerg­wa­len zu erzäh­len sei. Ich notier­te: Man möch­te viel­leicht mei­nen, bei der Gat­tung der Zwerg­wa­le han­de­le es sich um Wale, die dem Wort­laut nach klei­ner sind, als ihre doch gro­ßen Ver­wand­ten, Pott­wa­le oder Grön­land­wale, sagen wir, oder Blau­wa­le. Nun sind sie bei genaue­rer Betrach­tung wirk­lich win­zig, nur 8 cm in der Län­ge. Als man sie in einer künst­lich erzeug­ten Gebär­mut­ter, eben­falls win­zig, her­an­wach­sen ließ, glaub­te im Grun­de nie­mand, dass sie lebend zur Welt kom­men wür­den. Plötz­lich waren sie da, und ver­schwan­den zunächst in einem Aqua­ri­um, das für sehr viel grö­ße­re Fisch­we­sen ange­legt wor­den war. Nun waren die Wale zu klein, sie ver­lo­ren sich in den Wei­ten des Beckens. Man leg­te zier­li­che Behäl­ter an, ver­sorg­te sie mit Mee­res­was­ser, kühl­te die Gewäs­ser, sorg­te für Wind und Wel­len, selbst an Eis­ber­ge wur­de gedacht, Eis von der Höhe eines mensch­li­chen Fin­gers, die dort in der künst­li­chen Natur­um­ge­bung ein­fach so vom Him­mel fie­len. Jetzt konn­te man sie gut sehen, aus der Nähe betrach­ten. Es waren zunächst drei Wale, sie exis­tier­ten zwei Jah­re, ehe man über eine Aus­stel­lung, dem­zu­fol­ge über ihre Ver­öf­fent­li­chung dis­ku­tier­te. Bis­lang hat­te man gesagt: Wir demen­tie­ren und wir bestä­ti­gen nicht. So viel sei bemerkt: Die­se win­zi­gen Wale ernäh­ren sich von Plank­ton, sie lie­ben Mee­res­wal­nüs­se, sie tau­chen oft stun­den­lang. Auch wur­den Sprün­ge beob­ach­tet, aber nur sel­ten und nur bei Nacht­licht. Der­zeit leben noch zwei klei­nen Wale, der Drit­te wur­de zwecks Erfor­schung geöffnet. 
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hinter glas

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tan­go : 17.38 UTC — Wäh­rend eines Besu­ches in einem Aqua­ri­um begeg­ne­te ich vor Jah­ren ein­mal einem Fet­zen­fisch. Die­se Begeg­nung war viel­leicht der ers­ten Begeg­nung eines Kin­des mit einer Weih­nachts­ku­gel ver­gleich­bar. Ich konn­te mei­nen Blick nicht von dem fili­gra­nen Wesen wen­den, das hin­ter etwas Glas vor mir laut­los im Was­ser schweb­te. Ich war ganz sicher nicht der ers­te Mensch gewe­sen, den die­ses fei­ne Wesen im Aqua­ri­um wahr­ge­nom­men haben könn­te, hun­dert­tau­sen­de Augen­paa­re, Nasen, Fin­ger, Men­schen eben da drau­ßen hin­ter den Schei­ben, unge­fähr­lich, manch­mal klei­ne Men­schen, die auf den Armen oder Schul­tern der gro­ßen Men­schen hock­ten. Vor eini­gen Mona­ten nun bemerk­te ich in einem Film­do­ku­ment eine Mee­res­wal­nuss, wun­der­ba­re Bezeich­nung, ihr Leuch­ten, und wie­der konn­te ich mich nicht abwen­den, habe meh­re­re Stun­den über Mee­res­wal­nüs­se geforscht in der digi­ta­len Sphä­re. Die Schei­be des Aqua­ri­ums war indes­sen ein Bild­schirm, Blick nur in eine Rich­tung, kei­ne Begeg­nung, viel­mehr eine Beob­ach­tung. Ich wer­de bald ein­mal den Ver­such unter­neh­men, Mee­res­wal­nüs­se tat­säch­lich leib­haf­tig zu besu­chen, wo sie leben. — stop
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erstaunlich

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marim­ba : 16.12 UTC —  Hin­ter dem Tre­sen eines Back­wa­ren­la­dens stand eine jun­ge Frau. Sie beob­ach­te­te, wie ich mein Porte­mon­naie durch­such­te. Las­sen Sie sich Zeit, sag­te sie. Sie war mir bereits frü­her ein­mal ange­nehm auf­ge­fal­len, eine sehr gedul­di­ge und immer freund­li­che Per­son. Ich sag­te: Ich wer­de doch lang­sam ein alter Mann. Ja, sag­te sie, ja, ja, las­sen Sie sich ruhig Zeit, wir kön­nen klei­nes Wech­sel­geld gut gebrau­chen. Ich durch­such­te das Täsch­chen, das für Mün­zen ein­ge­rich­tet war, bald aber dreh­te ich mei­nen Geld­beu­tel ein­fach auf den Kopf und ließ eine Hand­voll Mün­zen auf einen Tel­ler auf dem Tre­sen fal­len. Es waren sicher 20 Mün­zen gewe­sen, die vor unse­ren Augen lagen, 1 Cent, 2 Cent auch 10 Cent­mün­zen. Kaum 1 Sekun­de war ver­gan­gen, die jun­ge Frau hat­te nur einen knap­pen Blick auf den Tel­ler vor uns gewor­fen, da sagt sie: Das sind 40 Cent zu viel. Sie zähl­te das Geld in einer rasen­den Geschwin­dig­keit mit zwei Fin­gern durch, und sie lach­te, ver­mut­lich weil sie mei­nen stau­nen­den Blick bemerk­te. Wie machen sie das, frag­te ich. Die jun­ge Frau ant­wor­te­te: Es geht nicht lang­sa­mer. Nein, sag­te ich, ich mei­ne, wie haben Sie mit nur einem Blick den Wert des Gel­des auf dem Tel­ler fest­ge­stellt? Das ist Übung, sag­te sie, ich kann das auch mit Per­len oder mit Lin­sen, aber das, was ich als Sum­me erken­nen möch­te, muss auf einem klei­nen Tel­ler wie die­sem Tel­ler hier lie­gen. Erstaun­lich, sag­te ich. Sie sind nicht alt, ant­wor­te­te die jun­ge Frau. Doch, doch, sag­te ich, ich hal­te mich beim Trep­pen­stei­gen am Gelän­der fest, das ist neu, das kam ein­fach so von einem Tag auf den ande­ren Tag. Erstaun­lich, sag­te die jun­ge Frau, das wird schon wie­der.stop

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eine poststelle

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india : 16.10 UTC — Auf der Anschrift­sei­te eines Brie­fes war ein Text notiert, den ich zunächst nicht ent­zif­fern konn­te. Ich hat­te das Kuvert bei einem Händ­ler ent­deckt, des­sen Samm­lung von Brief­ku­verts auf einem Tisch unter einem Schirm sorg­fäl­tig aus­ge­brei­tet wor­den war. Es waren sehr vie­le Brie­fe, der Händ­ler muss­te früh auf­ge­stan­den sein, um recht­zei­tig vor Ein­tref­fen der ers­ten Besu­cher des Floh­mark­tes mit sei­ner Dar­le­gung fer­tig gewor­den zu sein. Es reg­ne­te. Ich stand unter dem Schirm und betrach­te­te einen Brief­um­schlag nach dem ande­ren Brief­um­schlag, sie waren zum Schutz in durch­sich­ti­ge Foli­en ein­ge­schla­gen. Auf jenem Brief, von dem ich hier kurz erzäh­le, kleb­ten zwei Brief­mar­ken der Färö­er-Inseln, sie waren noch gut zu erken­nen, zwei Wale schweb­ten dort. Außer­dem waren in einer Spra­che, die ich nicht kann­te, zahl­rei­che Zei­chen, ein klei­ner Text, unter einem Namen ange­bracht. Der Name lau­te­te: Alma Pipa­luk. Ich frag­te den Händ­ler, ob er wis­se, was die­ser kur­ze Text­ab­schnitt bedeu­ten wür­de. Neu­gie­rig gewor­den kauf­te ich den Brief, spa­zier­te nach Hau­se und setz­te mich an mei­ne Schreib­ma­schi­ne, tipp­te die Zei­chen sorg­sam in die Ein­ga­be­mas­ke eines Über­set­zungs­pro­gramms. Die Spra­che, die ich notier­te, war die däni­sche Spra­che, und bei dem Text, den ich vor­ge­fun­den hat­te, han­del­te es sich um eine Anwei­sung an einen Brief­zu­stel­ler, der von der Post­stel­le einer klei­nen Sied­lung namens Uum­man­n­aq aus, den Brief an sei­ne Emp­fän­ge­rin lie­fern soll­te. Der Text lau­te­te in etwa so: Bit­te nach Anor­lern­ertooq nörd­li­che Bie­gung am roten Haus vor­bei rechts über den Steg zum gel­ben Haus an Alma, Pipa­luk nicht vor Sep­tem­ber. Der Brief trug zwei pos­ta­li­sche Stem­pel­zei­chen, akku­rat auf­ge­tra­gen. Er war geöff­net wor­den, irgend­wann von irgend­wem. — stop

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nahe uummannaq

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marim­ba : 16.11 UTC — Ges­tern ist mir etwas Lus­ti­ges mit mir selbst pas­siert. Ich stell­te mir vor, wie es wäre, wenn ein Eis­bär vor mir ste­hen wür­de. Der vor­ge­stell­te Eis­bär soll­te ein ernst zu neh­men­der Eis­bär sein, unge­fähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf sei­ne Hin­ter­bei­ne stellt. Ich stand also in mei­nem Zim­mer und über­leg­te, wie es wäre, wenn ein Eis­bär vor mir ste­hen wür­de, der gera­de noch unter mei­ner Zim­mer­de­cke Platz fin­den wür­de. Plötz­lich saß ich auf dem Boden und fand die­se Hal­tung ange­sichts eines Polar­bä­ren in mei­nem Zim­mer sehr ange­mes­sen. Kurz dar­auf wur­de ich gefres­sen. Ich mei­ne mich erin­nern zu kön­nen, der Bär begann mit der Schul­ter, mei­ner rech­ten. — stop

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kaprunbiber

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sier­ra : 22.03 UTC — Sobald ich mit mei­ner Schreib­ma­schi­ne eine U‑Bahn betre­te, beginnt sie nach wei­te­ren Schreib­ma­schi­nen zu suchen, ver­mut­lich, um Kon­takt her­zu­stel­len. Meis­tens ant­wor­ten anwe­sen­de Schreib­ma­schi­nen. Sie erzäh­len einer­seits, dass sie da sind, dass sie über Sen­so­ren ver­fü­gen, die bemer­ken, dass mei­ne Schreib­ma­schi­ne sich nach ihrer Gegen­wart erkun­digt. Ander­erseits zei­gen sie an, dass sie im Grun­de kei­nen Kon­takt auf­zu­neh­men wün­schen. Sie sen­den Namen, Bezeich­nun­gen, Zah­len oder Buch­sta­ben­fol­gen, die auf nichts ver­wei­sen, als ein­deu­tig sie selbst: L‑887MN oder Easy665X. Manch­mal jedoch sind Zei­chen­fol­gen zu ent­de­cken, die ein Geräusch im Kopf erzeu­gen, Mezi­zo 7, zum Bei­spiel, oder, ges­tern: Kaprun­bi­ber. Das war unheim­lich, ich dreh­te mich um. — stop

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ein zerbeultes saxophon

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nord­pol : 11.03 — Ein Leser schrieb eine E‑Mail. Er habe, notier­te er, einen Feh­ler in einem mei­ner Par­tic­les­tex­te ent­deckt. Ob er mir schrei­ben sol­le, wo ich den Feh­ler fin­den wür­de. Ich kor­ri­gier­te den Text und dach­te noch: Das ist inter­es­sant, die­ser klei­ne aber doch bedeu­ten­de Feh­ler hat­te sechs Jah­re in mei­nem Text exis­tiert, ein Buch­sta­be nur, in einer Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen soll­te, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern woll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten bei einem Erd­be­ben ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, jede Spur. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine sehr kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Giu­sep­pi Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er-Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den. Man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann, ein Black­out. Über 30 Jah­re lang war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len gewe­sen, bis man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­fon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Ein Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will das klei­ne Wun­der unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle jene Geschich­ten in mei­nem Gedächt­nis wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nie­mals zu ver­ges­sen wün­sche. — Giu­sep­pi Logan:  Hört ihm zu!
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ein schwebender löffel

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nord­pol : 22.01 UTC — Am Tele­fon mel­de­te sich ein Mann, der mir eine trau­ri­ge Geschich­te erzähl­te. Er sag­te: Mei­ne Frau ist selt­sam gewor­den, sie wur­de soeben 84 Jah­re alt, viel­leicht ist sie des­halb selt­sam gewor­den. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mit­ter­nacht, und sie hat auf­ge­hört zu kochen, des­halb koche ich jetzt für uns bei­de, obwohl ich nie gekocht habe. Mei­ne Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manch­mal sagt sie, dass ich her­vor­ra­gend kochen wür­de. Der Mann am Tele­fon lach­te. Und ich erin­ner­te mich, dass ich vor Jah­ren ein­mal einen Aus­flug zu einer Tan­te mach­te, die damals seit bereits über zehn Jah­ren in einem Heim leb­te, weil sie sehr alt war und außer­dem nicht mehr den­ken konn­te. Es war Früh­ling und der Flie­der blüh­te, die Luft duf­te­te, mei­ne Tan­te saß mit wei­te­ren alten Frau­en an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drück­te mei­ne Stirn gegen die Stirn mei­ner Tan­te und nann­te mei­nen Namen. Ich sag­te, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen wür­de. Ich sprach sehr lei­se, um die Frau­en, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. Sie schlie­fen einer­seits, ande­re betrach­te­ten mich inter­es­siert, so wie man Vögel betrach­tet oder Blu­men. Es ist schon selt­sam, dass ich immer dann, wenn ich glau­be, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit begin­ne, eine Geschich­te zu erzäh­len in der Hoff­nung, die Geschich­te wür­de jen­seits der Stil­le viel­leicht doch noch Gehör fin­den. Ich erzähl­te mei­ner Tan­te von einer Wan­de­rung, die ich unlängst in den Ber­gen unter­nom­men hat­te, und dass ich auf einer Bank in ein­tau­send Meter Höhe ein Tele­fon­buch der Stadt Chi­ca­go gefun­den habe, das noch les­bar gewe­sen war und wie ich den Ein­druck hat­te, dass ich aus den Wäl­dern her­aus beob­ach­tet wür­de. Ich erzähl­te von Leber­blüm­chen und vom glas­kla­ren Was­ser der Bäche und vom Schnee, der in der Son­ne knis­ter­te. Doh­len waren in der Luft, wun­der­vol­le Wol­ken­ma­le­rei am Him­mel, Sala­man­der schau­kel­ten über den schma­len Fuß­weg, der auf­wärts führ­te. So erzähl­te ich, und wäh­rend ich erzähl­te eine hal­be Stun­de lang, schien mei­ne Tan­te zu schla­fen oder zuzu­hö­ren, wie immer, wenn ich sie besu­che. Ihr Mund stand etwas offen und ich konn­te sehen, wie ihr Bauch sich hob und senk­te unter ihrer Blu­se. Am Tisch gleich gegen­über war­te­te eine ande­re alte Frau, sie trug wei­ßes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Vor ihr stand ein Tel­ler mit Erb­sen. Die alte Frau hielt einen Löf­fel in der Hand. Die­ser Löf­fel schweb­te wäh­rend der lan­gen Zeit, die ich erzähl­te, etwa einen Zen­ti­me­ter hoch in der Luft über ihrem Tel­ler. In die­ser Hal­tung schlief die alte Frau oder lausch­te. — stop
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ein heller windiger märztag

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oli­mam­bo : 15.55 UTC — Fan­gen wir noch ein­mal von vorn an: Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer Tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Büchern geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — Heu­te nun, es ist Mitt­woch am Nach­mit­tag, habe ich selbst in einer digi­ta­len Pro­be fol­gen­de Text­pas­sa­ge gele­sen, die mich berühr­te. Chris­toph Rans­mayr hat sie notiert: „Mir war die Tat­sa­che oft unheim­lich, dass sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschich­te, die man nur lan­ge genug ver­folgt, irgend­wann in der Weit­läu­fig­keit der Zeit ver­liert – aber weil nie alles gesagt wer­den kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahr­hun­dert genü­gen muss, um ein Schick­sal zu erklä­ren, begin­ne ich am Meer und sage: Es war ein hel­ler, win­di­ger März­tag des Jah­res 1872 an der adria­ti­schen Küs­te. Viel­leicht stan­den auch damals die Möwen wie fili­gra­ne Papier­dra­chen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Him­mels glit­ten die wei­ßen Fet­zen einer in den Tur­bu­len­zen der Jah­res­zeit zer­ris­se­nen Wol­ken­front – ich weiß es nicht.“ aus: Die Schre­cken des Eises und der Fins­ter­nis: Roman von Chris­toph Rans­mayr — stop
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